Letzte Bastion des Feudalismus
Eine Petition des katholischen Kirchenvolks macht den Verteidigern des Papstes Angst. Der Regensburger Bischof erpresst drei Theologen mit einer verhüllten Drohung
Das Internet hat die römisch-katholische Kirche erreicht und sorgt derzeit offenbar dafür, dass die bürgerliche Revolution in einer der letzten Bastionen des Feudalismus nachgeholt wird. Ab dem 29. Januar hatten zunächst Theologinnen und Theologen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Erklärung „für die uneingeschränkte Anerkennung der Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils (1962-65)“ unterschrieben. Seit diese Petition vielsprachig ins Netz eingestellt worden ist, wächst die Zahl die Zahl der Unterzeichnenden unaufhörlich: Lehrstuhlinhaber aus der Theologie, Priester aus der Gemeindeseelsorge, Ordensleute, kirchliche Prominenz und Zehntausende einfache Katholikinnen und Katholiken, die um ihre Kirche besorgt sind, bekennen öffentlich Farbe.
Während ein Großteil der Medien die Annäherung des Vatikans an die Traditionalisten vom Rechtsaußenrand (Papst rehabilitiert Holocaustleugner) zunächst nur als Stoff für einen Tagesskandal betrachtete, waren die Initiatoren der Petition längst von Sorge über viel weiterreichende Folgen getrieben. Sie befürchten, dass die Früchte des großen Reformkonzils, das Papst Johannes XXIII. ohne Rückhalt im Kurienapparat vor 50 Jahren ausgerufen hat, bedroht sind.
Der Petitionstext ist klar formuliert, aber er enthält keinerlei Schmähungen und erst recht nichts, was dem römisch-katholischen Bekenntnis zuwiderläuft. Die erdrückenden Indizien für die in der Petition ausgedrückte Sorge und die Entwicklung der darauf reagierenden Kirchenbewegung kann man mit Hilfe von zwei Linkseiten erkunden. Ohne große Mühe lassen sich jüngste Voten aus dem Kreis der Deutschen Bischofskonferenz zusammenstellen, die das Anliegen der Petition – nur in einer etwas diplomatischeren Form – stützen.
„Stichtag Rosenmontag“: Ein Bischof sieht rot
UPDATE: Die Zeiten hierarchischer Willkür scheinen sich im Zeichen der Kirchenbewegung von unten immer schneller dem Ende zuzubewegen. Nach aktuellen Pressemeldungen hat der Regensburger Bischof Dr. Gerhard Ludwig Müller von seinem Verhalten gegenüber den drei Regensburger Lehrstuhlinhabenden Abstand genommen. Die drei müssen jetzt nicht mehr "Widerruf" und "Abbitte" leisten.
Allerdings ist besonders romzentrierten Episkopen schon dieser einfache Akt der freien Meinungsäußerung zu viel. Der Regensburger Bischof Dr. Gerhard Ludwig Müller z.B. sieht förmlich rot. Drei Professoren der Theologischen Fakultät an seinem Bischofssitz haben – wie sehr viele andere angesehene Kolleginnen und Kollegen der Zunft – die Erklärung nämlich auch unterschrieben: der Pastoraltheologe Heinz-Günther Schöttler, der Religionspädagoge Burkard Porzelt und die Kirchenrechtlerin Sabine Demel. Bischof Müller unterstellt ihnen, mit ihrer Unterschrift den Papst beleidigt zu haben. Sie sollen sich dafür beim Kirchenoberhaupt, dem exklusiven „Stellvertreter Christi“, entschuldigen. Außerdem wird von ihnen ein Treueid auf die reine Kirchenlehre verlangt (dieses Maßregelungsinstrument aus der finstersten Zeit des Antimodernismus hat Rom schon länger reanimiert, um die nachkonziliare Freiheitsbewegung förmlich mundtot zu machen).
Der entsprechende Brief soll nach Pressemeldungen gleich an drei hohe Vatikanvertreter mitverschickt worden sein. Falls die drei Petitionsunterzeichnenden den Bischofsforderungen nicht nachkommen, sind „weitere Schritte“ angekündigt. Schlimmstenfalls würde aus dieser verhüllten Drohung ein Entzug der Lehrerlaubnis folgen können. Die Frist zum eingeforderten Gehorsam läuft am Rosenmontag1 ab.
Damit verschärft der Regensburger Bischof die Debatte über die Freiheit der Lehre an theologischen Fakultäten, deren Betrieb vom Staat ermöglicht wird und über deren Existenzberechtigung schon seit langem kein gesellschaftlicher Konsens mehr besteht. Darüber hinaus zeigt ja gerade sein unglaubliches Vorgehen der Öffentlichkeit, wie berechtigt die im Petitionstext ausgedrückte Sorge um die Geltung des II. Vatikanischen Konzils ist.
Bernd Hans Göhrig, Bundesgeschäftsführer der „Inititiative Kirche von unten“, kommentiert:
Nachdem die katholischen Fundis von der Zivilgesellschaft in die Schranken verwiesen wurden, spielt Bischof Müller jetzt die Machtkarte aus. Er überprüft die Gesinnung seiner Angestellten – dafür ist eine Petition natürlich hilfreich. Freie Meinungsäußerung gibt es in der Kirche nun mal nicht.
IKvu-Pressemitteilung, 19.2.2009
Bischöfliche Amokläufer können die kirchliche Demokratiebewegung kaum aufhalten
Doch was passiert, wenn die Rosenmontagsfrist abläuft, die drei Theologen standhaft bleiben und andere Bischofskollegen den Regensburger Kirchenfürsten nicht rechtzeitig zur Besinnung bringen? Man muss kein Prophet sehen, um zu sehen, dass in diesem Fall die römische „Hierarchie“ (übersetzt: heilige Herrschaft) in ärgste Bedrängnis geraten würde. Denn die drei Lehrenden haben ja nur geäußert, was eine überwältigende bürgerliche Mehrheit – etwa auch im Zentralkomitee der deutschen Katholiken – auch denkt.
Am Anfang der Petition stand ein emeritierter und also weniger verwundbarer Theologe, der Heidelberger Professor Norbert Scholl. Inzwischen aber braucht man Stunden, um die Zahl der unterzeichnenden katholischen Theologen zu lesen. Ein Lehrstuhlinhaber wie der röm.-kath. Neutestamentler Prof. Dr. Joachim Kügler bewirbt die Petition z.B. direkt auf der Startseite seiner Homepage.
Wenn Bischof Müller nicht einlenkt und sich damit auch noch durchsetzen kann, würde dies also unweigerlich eine Repressionswelle auslösen, die in der neueren Kirchengeschichte ihresgleichen sucht. Dann aber hätte dieser „Hierarch“ – vom traurigen Berufsschicksal der Gemaßregelten einmal abgesehen – der röm.-kath. Kirchenbewegung von unten einen großen Dienst erwiesen. Je unverhüllter sich nämlich die feudalistische bzw. absolutistische Machtausübung von papstzentrierten Kirchenleitungen zeigt, desto stärker wird der gesellschaftliche Druck und desto schneller wächst die innerkirchliche Gegenbewegung. Der Kölner Theologe, Priester und Therapeut Jupp Prinz bezeichnet Vorgänge dieser Art als „paradoxe Intervention des Heiligen Geistes“.
Dass solche Prognosen nicht aus der Luft gegriffen sind, war unlängst in Österreich zu lernen: Der Papst ernennt einen fundamentalistischen Kleriker zum neuen Weihbischof. Kirchenvolk und Priesterschaft wehren sich. Am Ende muss der Bischofskandidat, um den Papst nicht in Bedrängnis zu bringen, von sich aus Abstand von einer Annahme des Amtes nehmen. Die Katholische Presseagentur Österreich berichtet dazu:
Der Wiener Hochschulseelsorger Msgr. Helmut Schüller wertet die jüngsten Vorgänge rund um den designierten, aber wieder zurückgetretenen Linzer Weihbischof Gerhard Wagner als Ausdruck eines allmählich voranschreitenden „Demokratisierungsprozesses“ in der katholischen Kirche. Die Laien in der Kirche seien nicht zuletzt durch die Mediengesellschaft „Bürger der Moderne“ geworden, die Transparenz wollten … Die lauter gewordene „offene Rede an der Basis“ sei auch eine Veränderung gegenüber 1987, als Kurt Krenn zum Wiener Weihbischof ernannt wurde. Auch im säkularen Staat sei die Demokratie erst allmählich gewachsen. Heute seien … innerhalb der Kirche völlig neue Formen der Kommunikation aufgebaut worden, sagte Schüller: „Wir kommunizieren schneller, sind besser vernetzt.“
Die Skandalwelle ist absehbar
Absehbar ist, dass das herrische Vorgehen des Regensburger Bischofs das Interesse der Öffentlichkeit wach hält und am Ende dafür sorgen wird, dass noch viele skandalöse Sachverhalte aus dem internen Forum der Kirchenkundigen hinauswandern und ins allgemeine Bewusstsein rücken. Dass die vom Papst ohne Vorbedingungen wieder aufgenommenen Traditionalistenbischöfe ob ihrer freiheitsfeindlichen und hetzerischen Ideologie hierzulande ein Fall für den Verfassungsschutz wären, haben z.B. nicht Linkskatholiken, sondern eher Stimmen aus dem bürgerlichen Lager vorgetragen. Im angeblich ahnungslos verwirrten Vatikan beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten eine eigene Abteilung mit den Schismatikern! Der letzte Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, gehört in dieser Sache zu den ausgewiesenen Experten.
Derweil vertieft sich der Holocaustleugner Bischof Williamson noch immer in das Studium des Streitgegenstandes. Er will dabei seine Thesen über den Massenmord an sechs Millionen Juden überprüfen, die er immerhin schon seit zwei Jahrzehnten – natürlich ohne Studium – vorträgt (der Papst lässt Distanzierung verlauten und handelt immer noch nicht). Dieser perfide Vorgang wird dafür sorgen, dass jenseits vom geschönten Bild antijüdische Strömungen in der katholischen Kirchengeschichte – bis hin zum heutigen Tage – näher unter die Lupe kommen.
Wer immer noch nicht informiert sein möchte, kann weiterhin behaupten, im Gegensatz zu Williamson sei die traditionalistische Bewegung als Ganzes „den Juden“ gegenüber gar nicht feindselig gesonnen, oder den aktuell kursierenden Abbitten des für Deutschland zuständigen Paters Franz Schmidberger Glauben schenken (Weißwaschung für die Pius-Brüder?). Das Konzilsdokument über die Juden bleibt der Lackmustest – sowohl für die Treue zum Reformkonzil als auch für ein katholisches Christentum, das auf den Abgrund des 20. Jahrhunderts geantwortet hat.
Das wegen seiner Querverbindungen zur französischen Rechten berüchtigte Benediktinerkloster Sainte Madelaine bei Avignon hat Joseph Ratzinger 1995 besucht. Sein Vorwort zierte schon 1990 ein von den dortigen Mönchen gedrucktes Messbuch der veralteten Art, welches das Gebet für (gegen) die „perfiden Juden“ in seiner ursprünglichen Widerlichkeit ("pro perfidis Judaeis") enthält. Jüngst hat Thomas Seiterich daran erinnert, dass der Priester und Reichstagsabgeordnete Georg Ratzinger (gestorben 1899), ein Großonkel und Vorbild des Papstes, dem katholischen Antijudaismus des 19. Jahrhunderts verhaftet war.
Niemand, so sagt auch Seiterich, kann Joseph Ratzinger mit irgendeinem Recht unterstellen, er sei rassistisch-antisemitisch. Gewiss aber, und das ist traurig genug, werden Untersuchungen leicht zeigen können, dass seine Theologie für einen Dialog mit dem Judentum im Sinne des II. Vatikanischen Konzils denkbar ungünstige Vorraussetzungen in sich birgt. Und auch daran kann man nicht deuteln: Die von ihm wieder eingeführte Tridentinische Liturgie nebst einer neu gefassten christologischen Erleuchtungsbitte Richtung Judentum am Karfreitag konnte von den Traditionalisten als überaus freundliches Signal gewertet werden. Nach solchen Wegbereitungen kam dann ihr Gebetskreuzzug mit 1.703.000 „Rosenkränzen“ ins Spiel.
Liebe soll es nun gewesen sein, so meinte dieser Tage in Düsseldorf ein sanfter Be-Prediger, die den Papst zur Erhörung dieser Gebete von Traditionalisten bewegt hat. Was aber war dann Ratzingers Axtschlag auf die (mit manchen Mühen) gewachsene ökumenische Freundschaft mit der evangelischen Christenheit? „Deus est Caritas!“ („Gott ist die Liebe!“) – dieser Überschrift der ersten Enzyklika Benedikts muss wohl jeder gläubige Christ zustimmen. Aber im Vatikan wird Kirchenpolitik gemacht. Man weiß dort sehr genau, wen man liebt und wem man nahe stehen will (nicht nur während des Papstwahlkampfes!).
Dank der modernen Kommunikationsmittel und des schnellen Informationsaustausches ist heute offenbar, dass es ein päpstliches Papsttum eigentlich nicht mehr gibt. Wer so tut, als lebe er noch 1870, wird die Medienschelte des Jahres 2009 unweigerlich auf sich ziehen. Und in der ausgesprochenen Klerikerkirche gibt es noch viele sensible Themen von ausgesuchtem Interesse, etwa das alte Thema der Zwangs-Ehelosigkeit oder das geheimnisvolle, erst vom derzeitigen Papst erwirkte kirchliche Berufsverbot für Menschen mit „homosexueller Orientierung“. Sehr leicht könnten die Verbreiter von Angst selbst in Angst versetzt werden.
Gleichklang: Ratzingers und Williamsons Einschätzung des Reformkonzils
Die in der Petition Vaticanum 2 von Katholiken mit und ohne Theologiestudium (bzw. Weihe) zum Ausdruck gebrachte Sorge lässt sich auch durch ein in der Öffentlichkeit wenig bekanntes Detail erhärten. Thomas Wystrach von der Leserinitiative Publik e.V. hat vor einer Woche per Rundschreiben darauf aufmerksam gemacht, dass der Papst und der Holocaustleugner Bischof Williamson – z.T. bis in den Wortlaut hinein gleich lautend – das katholische Reformkonzil 1962-1965 als eine Sache von „niedrigem Rang“ abtun.
Am 13. Juli 1988 meinte Joseph Kardinal Ratzinger vor den Bischöfen Chiles in einer Rede:
Das Zweite Vatikanische Konzil gegen Mgr. Lefebvre als Wertvolles und Verbindendes der Kirche zu verteidigen ist und bleibt eine Notwendigkeit. Aber es gibt eine einengende Haltung, die das Zweite Vatikanum isoliert und die Opposition hervorgerufen hat. … Die Wahrheit ist, dass das Konzil selbst kein Dogma definiert hat und sich bewusst in einem niedrigeren Rang als reines Pastoralkonzil ausdrücken wollte; trotzdem interpretieren es viele, als wäre es fast das Superdogma, das allen anderen die Bedeutung nimmt.
In einem Spiegel-Interview vom 9. Februar 2009 kann man zum selben Thema als Meinung von Bischof Williamson nachlesen:
… Diese Konzilstexte sind immer wieder zweideutig. Weil keiner wusste, was das eigentlich bedeuten soll, begann kurz nach dem Konzil jeder zu tun, was er wollte. Das führt zu diesem theologischen Chaos, das wir heute haben. Was sollen wir nun anerkennen, die Zweideutigkeit oder das Chaos? … Nur die Verletzung der Dogmen, also der unfehlbaren Lehrsätze, zerstört den Glauben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat selbst erklärt, keine neuen Dogmen zu verkünden. Heute tun die liberalen Bischöfe so, als sei es eine Art allumfassendes Superdogma, und begründen damit eine Diktatur des Relativismus. Das widerspricht den Texten des Konzils.
Verschwiegen wird in beiden Voten, dass es im Konzil ein verbreitetes Unbehagen am „Unfehlbarkeits-Erbe“ der Vorgängerversammlung von 1870 gab. In der Gegenüberstellung erkennt man erneut, wie Joseph Ratzinger den Traditionalisten schon seit langem die Bälle zuspielt. Gegen seine Niedrig-Qualifizierung des Reformkonzils haben sich nicht nur Petitionsunterzeichnende zu Wort gemeldet, sondern auch ein prominenter deutscher Katholik: der Karl-Rahner-Schüler und Kardinal Karl Lehmann.2
In der Deutschen Bischofskonferenz weiß man ganz genau: Die Traditionalisten werden Geist und auch Buchstaben des II Vatikanischen Konzils niemals anerkennen, denn ihre Feindseligkeit gegenüber dem von Johannes XXIII. eingeleiteten Reformwerk ist ja gerade die Wurzel ihrer Abspaltung von der Weltkirche.
Die Stunde der Kirchenrechtler
Es nützt kein Drumherumreden. Die Deutungshoheit über das Konzil hat in der Kirche nur, wer die Macht ausübt, und das ist – genau besehen – einzig und allein der Papst. Das war seit längerem zur Kenntnis zu nehmen. Schon am 3. Oktober 1998 hatte die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche als Gast ihrer Bundesversammlung den Kirchenrechtler Prof. Dr. Dr. Werner Böckenförde, der als gediegener Prälat gar nicht so recht in die sonst bevorzugte „fortschrittliche“ Referentenriege passte.
Detailliert wies der Limburger Domkapitular in seinem Vortrag nach, wie Rom nach dem Reformkonzil über Paragraphen und Dekrete die exklusive, seit 1870 proklamierte „universale Befehlsgewalt des Papst“ (Universaljurisdiktion) gegen alle anders ausgerichteten Strömungen des freiheitlichen Geistes neu fixiert hat. Gegen diese Festung, so möchte man nach der Lektüre ausrufen, kämpfen Götter selbst vergebens.
Im Kern liegt den geschaffenen Rechtsfakten überall eine Herabstufung des II. Vatikanischen Konzils zugrunde. Die so genannten „Laiengremien“ haben schon mal gar nichts zu sagen. Wo sie zusammentreten, müssen sie sich immer neue Namen ausdenken, um nicht sofort der im Kirchenrecht verankerten Bevormundung anheim zu fallen. Die geweihten Häupter versehen keineswegs nur den liturgischen Dienst für alle. Sie sind vielmehr – bis hin zur Ortsgemeinde – die Herrscher über das Kirchenvolk. Dieses Kirchenvolk nennen sie mit Vorliebe „Schwestern und Brüder“. Wo aber sonst dulden Geschwister unter sich die absolute Herrschaft einzelner?
Letztlich sind selbst die Bischöfe nur Befehlsempfänger des Papstes. Ihr Name (griechisch: Episkopos) trägt in sich das „Sehen“. Deshalb wünschte das Reformkonzil auch, dass sie wahrnehmen, was die Menschen bewegt und welche Schönheit die Menschen in sich tragen. Böckenförde zeigt nun, dass die Episkopoi nach vatikanischer Konzilsinterpretation am Ende nur als Auf-Seher unter der Weisung des höchsten und unfehlbaren Bischofs in Rom fungieren sollen. Schweigen sie in gewichtigen Fragen, so wird das sogleich als heiliger Konsens des Bischofskollegiums gedeutet.
Während schließlich die Beschlüsse des letzten Konzils immer niedriger gehängt werden, hat die päpstliche Regierungsriege andererseits dafür gesorgt, dass die Meinungsäußerungen des Papstes zum Frauenpriestertum, zur Ehelosigkeit der Priester oder zu so genannten Sittenfragen immer öfter mit dem – sonst für feierliche dogmatische Definitionen reservierten – Unfehlbarkeits-Etikett versehen werden (maßgeblich beteiligt an dieser Strategie: Präfekt Joseph Ratzinger).
Auch was die Freiheit der Theologie anbelangt, hat dies alles erhebliche Konsequenzen. Noch sind nicht alle Bischöfe so papsthörig wie Dr. Gerhard Ludwig Müller in Regensburg. Doch es ist angesichts des gegenwärtigen Kurses absehbar, dass der Papst aus Deutschland sich in – seiner Ansicht nach zu liberale – Theologenberufungen einmischen wird. Dann mag der Ortsbischof die Lehrerlaubnis („Nihil obstat“) erteilen, der Vatikan kann sie widerrufen. Wer die Zielscheibe solcher Interventionen sein wird, ist im Licht der Regensburger Repressionen klar: Theologen, die (dem Vorbild großer Heiliger folgend) freimütig Kritik am Papstes üben. Hier wartet viel Arbeit auf die Kurie.
Was eine neue Disziplin, die Rechtspädagogik, schon Kindern beibringen möchte, nämlich ein gefühltes und lebendiges Bewusstsein für die Bedeutung des Rechts bezogen auf die eigene Würde und das Miteinander, dürfen Kirchenjuristen nicht einmal denken. Man fragt sich, wie eine solche Kirche der Rechtlosigkeit sich hilfreich zu den Menschenrechten, zu gesellschaftlichen Vorgängen oder besonders zur Einhaltung des internationalen Völkerrechtes einbringen könnte. Es kann noch schlimmer kommen, wenn nämlich die Traditionalisten ihre stetig zu hörende Ankündigung wahr machen, den Vatikan endgültig wieder ins 19. Jahrhundert zurückzuversetzen. Da immer häufiger Sektenmodelle gegen den schwindenden „Milieukatholizismus“ ausgespielt werden, muss man mit allem rechnen.
In dieser Situation braucht die kirchliche Demokratiebewegung wirklich Frauen und Männer aus der röm.-kath. Kirchenrechtswissenschaft mit Sinn für Strukturfragen. Deren Hauptaufgabe dürfte darin bestehen, dem Kirchenvolk seine Rechtlosigkeit zu erläutern und die fast lückenlose Absicherung absolutistischer Machtausübung durch die „Hierarchie“ ohne Illusionen dazulegen. Erst dann zeigt sich ja, dass bloße „Reformen“ nichts bringen können.
Nichts weniger als eine Revolution ist also gefragt. Papst Johannes XXIII. hat, als er bereits von einer tödlichen Krankheit heimgesucht war, mit Fröhlichkeit und Weitherzigkeit die Fenster des Vatikans von innen her aufgerissen, um Luft zum Atmen hereinzulassen. Heute, nach einem halben Jahrhundert, muss das – vom Konzil so genannte – „Volk Gottes“ diese Fenster von außen aufbrechen. Angesichts der seit einem Vierteljahrhundert betriebenen Personalpolitik des Vatikans gibt es dazu keine Alternative (es sei denn, ein anderes Wunder geschieht).
Die fromme Revolution: „Wir sind Johannes XXIII.“
Dass es derzeit in der kirchlichen Demokratiebewegung keine herausragende charismatische Gestalt gibt, mag man bedauern. Denn aus einer innerkatholischen Perspektive, wie sie der Verfasser dieses Beitrags einnimmt, wird immer klar sein: „Ohne Frömmigkeit keine Revolution in der Kirche!“ Ewige Kirchengeschädigte, die sich endlich rächen wollen, und kirchenpolitische Eiferer, die nach Macht suchen, würden die Revolte nur verderben. Sie bleiben nämlich notwendig ein Spiegel dessen, was endlich vom Thron stürzen muss.
Das Fehlen einer großen „Gorbatschow“- oder „Obama“-Gestalt kann nun gerade die größte Chance sein. Mehr Überzeugungs- und Gütekraft als die des Bauernsohnes Angelo Giuseppe Roncalli (1881-1963), des späteren Papst Johannes XXIII., wird heute ohnehin kaum zu finden sein. Ich trage stets ein kleines Blechmedaillon mit dem Bild dieses kleinen Mannes um den Hals. Ein befreundeter jüdischer Goldschmied hat es mir vor sechs oder sieben Jahren geschenkt. Da ich ganz abergläubisch den Verlust fürchte, hat mir ein Benediktiner von einer Rompilgerreise auch „Ersatz für alle Fälle“ mitgebracht: gesegnet am Grab von „il Papa buono“.
Die Weisung der Kirchenrevolte steht in meinen Augen längst fest: „Wir sind Johannes XXIII.“ Seine Güte und seinen Humor haben wir Reformkatholiken leider nur selten, aber die Unerschrockenheit hat er uns gelehrt. Die Devotionalienhändler sollten sich rechtzeitig neu sortieren. Denn: Katholiken sind seltsame Menschen. Sie bleiben in ihrer Frömmigkeit auf unheilbare Weise Materialisten. Das sah schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel sehr richtig.