Letzte Fragen und hinterletzte Antworten

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Eine neue Streitschrift zur Kritik der Sinnfrage will in der schweren Zeit der Corona-Not den Menschen auch noch den letzten Halt rauben. Interview mit dem Autor Jürgen Hoßdorf

Im Ulmer Verlag Klemm + Oelschläger ist im Ende 2021 eine neue Schriftenreihe gestartet: Edition Endzeit, herausgegeben von Jürgen Hoßdorf und Claudia Reuther. Schwerpunkte der Reihe sollen kritische Beiträge zu politischer Kultur, Pädagogik und Philosophie sein. Die Edition will dabei, so umreißen die Herausgeber ihr Programm, "dem allgemeinen Krisen- und Katastrophenbewusstsein mit einer entschiedenen Ermunterung zu destruktiver Kritik entgegentreten".

Ziemlich destruktiv ist auch gleich die erste Veröffentlichung "Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage" geraten, die Hoßdorf als Autor verantwortet. Sie widmet sich einem populären, angeblich existenziellen Anliegen, konzentriert sich zudem auf Angebote für den gehobenen Bedarf, nämlich auf die Windungen und Wendungen der modernen Philosophie, die dem Sinnstreben eine höhere Weihe zu verleihen sucht. Diesen Anspruch will die vorgelegte Schrift destruieren.

Laut Ankündigung verfolgt sie – ausgehend von den Niederungen der bürgerlichen Konkurrenz und den alltäglichen Bemühungen, darin eine Heimat zu finden – "die Wege des modernen Tiefsinns, der die Sinnfrage gegen alle Vernunft zu retten versucht". Dazu im Folgenden ein Gespräch mit dem Autor der Publikation "Sinn und Sittlichkeit" und Ko-Herausgeber der Reihe.

Die Frage aller Fragen

Herr Hoßdorf, Sie stellen sich gegen eine philosophisch-weltanschauliche Tradition, gegen die letzten Fragen, die sie aufwirft, aber auch gegen ein allgemein verbreitetes Bedürfnis. Ist das nicht etwas verwegen? Sie greifen etwas an, das – sagen wir es einmal hochtrabend – doch eigentlich eine anthropologische Grundkonstante darstellt. Ist das nicht eine krasse Außenseiterposition?

Jürgen Hoßdorf: Ja, es geht um so etwas wie die "Frage aller Fragen". Und es stimmt, die Frage nach dem Sinn des Lebens kennen und schätzen alle – von der pubertierenden Hauptschülerin bis zum altersschwachen Papst. In der Hinsicht ist sie, wenn Sie so wollen, eine menschliche Grundkonstante, wie vieles andere auch, z.B. Dummheit oder Leichtsinn. Die allgemeine Verbreitung von Haltungen oder Denkweisen nötigt mir aber keinen Respekt ab.

Die Frage ist auch keine unschuldige Wortmeldung, die sich nach irgendeiner Sache erkundigt. Die Sinnfrage zu stellen, heißt im Grunde, einen Bedarf danach zu verspüren und damit schon die Antwort zu kennen. Die besteht, abstrakt gesagt, in der Gewissheit, dass der Daseinskampf in der globalisierten Marktwirtschaft von sich aus keine befriedigende Antwort darauf bereithält, warum man ihn führt; dass also etwas Höheres oder Tieferes her muss, damit man einen guten Grund hat, seine Anstrengungen aufrechtzuerhalten. Denn wenn es den nicht gäbe, wäre ja alles sinnlos…

Aber wenn – wie Sie sagen – alles sinnlos wird, dann heißt das doch in der Konsequenz, dass Menschen ihre Lebensziele und möglicher Weise sich selbst aufgeben, dass sie z.B. in eine Lebenskrise geraten. Wollen Sie ihnen den letzten Halt rauben, also das, womit sie sich gerade in schwerer Zeit aufrecht halten?

Jürgen Hoßdorf: In der Tat will ich ihnen diesen Halt nehmen – nicht um sie darauf zu stoßen, dass ihnen nichts als das Aushalten der arschnackten Sinnlosigkeit bleibt (eine solche Sinnlosigkeitspropaganda gibt es übrigens als philosophische Variante), sondern um sie über etwas aufzuklären. Die betreffende Frage bzw. Suche verweist doch darauf, dass heutzutage die Versuche, sein Dasein zu behaupten, etwas Frustrierendes an sich haben. Mich interessiert die Lebenslage – die natürlich sozial ausdifferenziert ist –, in der ein solcher Bedarf aufkommt, ja sich als eine unabweisbare Notwendigkeit aufdrängt.

Wenn ich von frustrierenden Versuchen spreche, dann ist das für die Masse der Lohnabhängigen banale Alltagsrealität. Wie jeder neue Armutsbericht, die Debatten über Mindestlohn oder "Respekt" für sozial Schwache belegen, fehlt es den Menschen, die von Lohnarbeit leben müssen, – auch in einem "reichen Land" wie Deutschland – an allem Möglichen, was das Leben lebenswert macht. Und an einer gesicherten sozialen Perspektive jenseits von ALG II sowieso.

Doch ich weiß, insofern stimmt ja die Rede vom allgemeinmenschlichen Bedürfnis: Auch in den besitzenden Klassen wird seit eh und je mit dem Sinn-Problem gerungen. Wer moralischen Maßstäben folgt – ob "prekärer" Subproletarier oder eine milliardenschwere Mrs. Gates –, muss sich seine Wertschätzung des pflichtgemäßen Handelns gegen zahlreiche Enttäuschungen erhalten und einen beständigen Kampf um Zufriedenheit führen.

Diesen Bedarf nach Zufriedenheit in Zuständen, die allen Grund zur Unzufriedenheit abgeben, greife ich an. Den will ich destruieren. Nicht deswegen, wie gesagt, um einen zynischen Realismus zu verbreiten. Sondern um das Publikum darauf zu stoßen, dass es sich von den Rechtfertigungen des irdischen Jammertals nicht beeindrucken lassen soll. Rechtfertigungen, die ja gewissermaßen den ganzen Kultur- und Bildungsbetrieb – von der pädagogischen Betreuung des Nachwuchses über Religion, Wissenschaft und Kunst bis zur Freizeitgestaltung und zur Psychobranche – durchziehen.

Der gehobene Bedarf

Sie greifen mit Ihren kritischen Thesen im Grunde also eine ganze "Sinnstiftungsindustrie" an. Der Schwerpunkt Ihrer Veröffentlichung liegt aber auf einem bestimmten Segment. Sie sprechen vom gehobenen Bedarf. Was ist darunter zu verstehen?

Jürgen Hoßdorf: "Fußball ist mein Leben", "Meine Familie ist mein Ein und Alles". Hier hat man Kraftquellen, die einen die Widrigkeiten des Alltags durchstehen lassen. So fängt die Sinnstiftung in der alltäglichen Lebensführung an und kommt rasch zum trostreichen Grund, der den Standpunkt des Aushaltens, der ja von jedem Mitglied der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft gefordert ist, mit einer höheren Aura versieht.

Intellektuelle Umständlichkeiten bei der Begründung sind da nicht gefordert. Hauptsache, es hilft! Als Angebot zur Bekräftigung dieses geistigen Kurzschlusses spielen sich aber – aller Verwissenschaftlichung der Welt zum Trotz – philosophische Überhöhungen des Sinnstrebens mit der Behauptung auf, das Ganze stelle eine unabweisbare intellektuelle Herausforderung dar.

Meine Veröffentlichung begründet die von mir vorgetragene grundsätzliche Kritik, sie konzentriert sich dann aber auf die Wege des modernen Tiefsinns. Ich gehe dafür auf die Philosophen Günther Anders, Theodor W. Adorno, Albert Camus, Wilhelm Schmid und den Psychiater Viktor E. Frankl ein. Also auf moderne Positionen, die als besonders anspruchsvoll oder auch kritisch gelten, die aber meines Erachtens nur noch einmal das bereits seit Längerem konstatierte "Elend der Philosophie", wie Karl Marx es nannte, dokumentieren.

Insofern ist das Buch also nur etwas für philosophisch Interessierte oder für Leute vom Fach?

Jürgen Hoßdorf: So eng würde ich das nicht sehen. Für die Philosophenzunft dürfte das Buch wohl eher ein unverdaulicher Brocken sein, es stellt ja den ganzen Betrieb infrage. Mit meinen Ausführungen werfe ich einen Blick von außen auf den Betrieb, versuche sein Anliegen verständlich zu machen. Das kann auch für ein größeres Publikum interessant sein, das etwa mit Respekt vor den tiefen menschlichen Grundsatzfragen steht – oder dem entsprechenden Anspruch dieser akademischen Zunft nichts entgegenzusetzen vermag.

Und was hat das mit Kapitalismus zu tun?

Noch mal zurück zum Grundsätzlichen. Wie gerade der Blick in die philosophische Tradition zeigt, ist die Sinnfrage nichts Neues. Sie sprechen aber vom Daseinskampf in der globalisierten Marktwirtschaft, in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, als der Quelle einschlägiger Anstrengungen. Wie passt das zusammen? Warum machen Sie die heutige Gesellschaftsordnung dafür verantwortlich?

Jürgen Hoßdorf: Natürlich ist die Frage uralt, die antiken Philosophen haben sich bereits mit ihr herumgeschlagen. Sinnstiftung fand auch schon statt, bevor die Welt mit den republikanischen Freiheiten des Meinens und des Glaubens beglückt wurde. Jahrhundertelang hat das Bündnis von Thron und Altar verbindlich festgestellt, "wozu wir auf Erden sind" (so die erste Katechismusfrage).

Trotzdem behaupte ich, dass der Ursprung des heutigen Sinnproblems im Daseinskampf der Menschen unter den herrschenden Bedingungen einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft zu suchen ist und nicht in einer zeitlosen Conditio Humana. Erst im Kapitalismus wird der individuelle Kampf um den persönlichen Erfolg, um den "pursuit of happiness", freigesetzt, und dem Einzelnen wird seine persönliche Meinungsbildung als ureigenster Besitz zugestanden, auf den er ein Recht hat und den ihm keiner nehmen darf.

So gesehen gibt es die Sinnfrage im strengen Sinne erst mit der Etablierung dieser modernen gesellschaftlichen Verhältnisse. Jedem ist es jetzt erlaubt, jeder ist aber auch gehalten, sich seinen persönlichen Reim auf die Verhältnisse zu machen. Man darf sich sogar über Viren oder übers Impfen alles Mögliche ausdenken, was mit dem Stand der Wissenschaft oder den Ansagen der Politik überhaupt nichts zu tun hat.

Wenn man sich damit in den bestehenden Verhältnissen einrichtet, dann geht das staatlicherseits durch – ob es sich jetzt um Astrologie oder esoterische Heilmethoden, um Reinkarnation oder spiritistische Seancen, um Erdgeister oder Schutzengel handelt. Man muss das alles nur als Lösung für sich persönlich nehmen und darf damit nicht staatlichen Maßnahmen in die Quere kommen.

Jürgen Hoßdorf, Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage. Edition Endzeit, Nr. 1, Ulm (Klemm + Oelschläger) 2021, 112 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-86281-168-7. Kontakt zu den Herausgebern: Edition.Ed@t-online.de.