Letzte Generation: Das Märchen der Gewaltfreiheit
Die Klimagruppe hat ein merkwürdiges Verhältnis zur Gewalt. Warum die Aktivisten weder der RAF noch Gandhi gleichkommen. Eine kritische Annäherung.
Während die Verkehrsblockaden der Umweltgruppe "Letzten Generation" mittlerweile sogar bei den politischen Sympathisanten Anstoß erregen, häufen sich die Berichte über Autofahrer, die die Beherrschung verlieren, und Polizisten, die sogenannte Schmerzgriffe anwenden.
Die Aktivisten berufen sich dagegen auf den Grundsatz, "gewaltfrei" zu agieren. Aber wie so oft liegen die Dinge etwas verworrener, als sie dargestellt werden.
Keile vor Italien
Einer meiner engsten Freunde war vor Kurzem in der Toskana. In der Nebensaison lässt sich da mit dem Auto gut hinreisen – hat er gedacht.
Die kürzeste Strecke ins Lieblings-Urlaubsland vieler Deutscher führt durch den Gotthardtunnel der benachbarten Eidgenossen. Wer sie einmal gefahren ist, weiß, dass "kurz" nicht "schnell" bedeutet. Stundenlange Staus sind beim San Gottardo keine Seltenheit.
Selten ist aber – noch –, dass er von den "Klimaklebern" zumindest mitverursacht wird, wie mir mein Freund berichtet hat (in dem Fall handelte es sich nicht um die Letzte Generation, kurz LG, sondern die verwandte Klima-Gruppierung "Renovate Switzerland").
Die FAZ hat darüber geschrieben. Es sei zu einem "Handgemenge" gekommen. Offenbar ist es mit der Geduld manch eines Tunnel-Querers nicht so weit her.
Hier treffen mutmaßlich nicht wenige Familien, die zum Campen an den Lago Maggiore fahren, weil sie sich eine Flugreise nicht leisten können, auf eine Gruppe von Demonstranten, die teilweise für ihre Tätigkeit bezahlt werden oder danach gar selbst jene Flugreise antreten – wahlweise eine interkontinentale.
Der potenzielle Zielkonflikt bleibt auch den politischen Sympathisanten der LG nicht verborgen. Die taz berichtete Mitte April, dass Grüne und Fridays For Future (FFF) sich von der Letzten Generation distanzieren, weil sie "die Gesellschaft zu spalten" drohe.
Menschen im Alltag gegeneinander aufzubringen, könne den Klima-Zielen nicht dienlich sein, konstatierten FFF-Sprecherin Annika Rittmann und die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic. Rittmann relativierte ihre Kritik später, doch die Differenz bleibt.
Legitime Gewalt oder Folter?
Ganz wie am Gotthardt erfahren die LG-Mitglieder bei ihren Aktionen regelmäßig Gewalt. Nicht nur von Autofahrern, sondern auch von Polizisten. Das zeigte in jüngster Vergangenheit erneut ein Video aus Berlin, in dem ein Polizist bei einem Aktivisten einen sogenannten Schmerzgriff anwendet.
Es ist nicht der erste, Berichte über solches Vorgehen hat es bereits im November vergangenen Jahres gegeben. Nur ist jenes Video jetzt eben "viral gegangen", nachdem der MDR es exklusiv auf Instagram veröffentlicht hatte.
Im Zuge der Empörung über das Video haben Medienberichte – auch solche von Telepolis – die Frage aufgeworfen, ob der Staat in solchen Fällen sein Gewaltmonopol missbraucht und mit unverhältnismäßiger Härte agiert. Eine Frage, die zunächst einmal nicht moralischer, sondern juristischer Natur ist.
Bis auf wenige Ausnahmen scheint der Großteil der juristischen Sachverständigen für Unverhältnismäßigkeit zu plädieren. Darunter etwa auch die Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Ulrike Paul, die vom Redaktionsnetzwerk Deutschland zitiert wird.
Die Juristin sieht den Grundsatz des mildesten Mittels verletzt, welches sich augenscheinlich darin erschöpft hätte, den Aktivisten wegzutragen. Darin stimmt sie mit dem Kriminologen Tobias Singelnstein überein, der auch im Instagram-Beitrag des MDR vorkommt.
Für die Unverhältnismäßigkeit spricht einerseits, dass der Betroffene letztlich doch – nur eben anscheinend unter Schmerzen – von der Straße getragen wird sowie, dass andere Polizisten in ähnlichen Situationen bereits von entsprechenden Griffen abgesehen haben. Gegen den Beamten im Video werde nun wegen Körperverletzung im Amt ermittelt, hieß es am vergangenen Montag.
Noch im November 2022 hat die Berliner Polizei gegenüber Legal Tribune Online klargestellt, dass "ein Anspruch darauf, weggetragen zu werden" nicht bestehe – und Schmerzgriffe wie den sogenannten "Handbeugehebel" als zulässige "Transport- und Kontrolltechnik" bezeichnet.
Die Aktivisten der LG sprechen derweil bekanntlich von "Folter". Ende März bezog sich die Gruppe dabei in einem Tweet auf die Definition des ehemaligen UN-Sonderbeauftragten Nils Melzer, wonach lediglich "notwendige" und "verhältnismäßige" Zwangsmaßnahmen zulässig seien.
Dass die LG ausgerechnet Melzer zitiert, offenbart einen bemerkenswerten Einblick in das Selbstverständnis der Gruppe. Schließlich war es Melzer, der sich angesichts der zahlreichen Fälle überbordender Polizeigewalt während der Corona-Proteste öffentlich einschaltete und schließlich von den deutschen Leitmedien diskreditiert wurde.
Das – geschweige denn Melzer überhaupt – erwähnen weder die LG noch die meisten Medienbeiträge.
Gewalttätig sind die anderen
Laut ihres im Internet veröffentlichten "Protestkonsens" erklären sich die Aktivisten der Letzten Generation als "absolut gewaltfrei" und im Übrigen dazu bereit, "alle staatlichen Konsequenzen in Kauf zu nehmen".
Doch es stellt sich durchaus die Frage, inwieweit die Verkehrsblockaden als (mittelbar) gewalttätig eingestuft werden können.
Und das ungeachtet der Diskussion um Krankenwagen, die nicht durch Rettungsgassen kommen, zu deren Bildung sich die LG im "Protestkonsens" ebenfalls verpflichtet – oder Schwangeren, die in den Staus feststecken. Denken Sie nur an gestörte Lieferketten, kostspielige Verspätungen oder auch den Entzug von Frei- und Regenerationszeit.
Es nimmt nicht wunder, dass Gerichte die sogenannten Klima-Kleber inzwischen bereits mehrfach wegen Nötigung nach § 240 des Strafgesetzbuchs verurteilt haben. Und wäre nicht auch der Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt?
Das letzte Urteil jedenfalls ist noch nicht gefällt. Das zeigt sich an der regen Debatte, die in Fachkreisen geführt wird. Sie zirkuliert vor allem um den Punkt, dass Klima-Aktivisten nicht nach gewöhnlichen Maßstäben verurteilt werden können. Letztlich, weil ihre Aktionen einem höheren allgemeinen Zweck dienten.
So schreibt etwa der Umweltrechtler und LG-Strafverteidiger Gerd Winter Anfang Januar auf dem Verfassungsblog, die Verkehrsblockaden der LG seien "strafrechtlich undeterminiert". Will heißen: Auslegungssache. Winter schreibt:
Selbst wenn man Gewalt annähme, ist sie rechtswidrig nur, wenn ihre Ausübung zu dem angestrebten Zweck verwerflich ist. Die Verwerflichkeit wird insbesondere über eine Abwägung der Zwecke des Täters mit seinem Eingriff in die Belange der genötigten Personen bestimmt.
Gerd Winter
Winter führt in diesem Zusammenhang die Figur eines "rechtfertigenden Notstands" an, der eine "gegenwärtige Gefahr für Rechtsgüter wie Leben, Freiheit und Eigentum" darstelle und, gemäß der "inzwischen herrschenden Meinung", mit dem Klimawandel gegeben sei. Und:
Bei der Gewichtung kann berücksichtigt werden, dass die Gefährdung des Klimas auch von den Opfern der Nötigung ausgeht, weil sie Treibhausgasemissionen verursachen.
Gerd Winter
Winter bezieht sich explizit auf den sogenannten Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts, wonach künftig "selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein" können.
Ein Beschluss, mit dem das Gericht Kritikern zufolge politische Gestaltungsabsichten bezeugte und somit den Grundsatz der Gewaltenteilung gefährdete.
Dass die Rechtssprechung nicht von politischer Färbung frei ist, offenbart sich aus Sicht des Autors auch in Winters seltsamer Behauptung, die Täter – also die LG – wollten "ja nicht aktiv Straßensperren errichten, vielmehr wird ihr passives Sitzen nur in die hinteren Verkehrsreihen weiter gereicht". Wie Winter das in Einklang mit der Forderung bringen will, Berlin "lahmlegen" zu wollen, bleibt sein Geheimnis.
Ähnlich wohlwollend argumentierte Anfang 2022 auch der Rechtsprofessor und lto-Autor Tim Wihl, wenn er sich – vermeintlich gestützt auf die Entscheidungen des BVerfG zu Sitzblockaden – darauf beruft, dass es sich nicht um Nötigung handle, sofern das Versammlungsgesetz greife. Im Falle der LG und unter der Voraussetzung eines "friedlichen Protests" sei das der Fall.
Wihl bringt die hochproblematische – und von Telepolis im Kontext der Philosophie Giorgio Agambens ausgiebig thematisierte – Figur eines "Notstands in Permanenz" an, vor deren Hintergrund es künftige Abwägungen zu treffen gelte.
Wihl, der selbst keine Berührungsängste mit aktivistischen Gruppen hat, macht kein Geheimnis daraus, zu wessen Gunsten künftige Entscheidungen seiner Meinung nach ausfallen sollten:
[D]ie Menschheit hat nur noch wenig Zeit. Ungeduldige [sic] Protestformen, die auf maximale Aufmerksamkeit zielen, werden daher an Bedeutung noch gewinnen. Eine autoritäre Verhärtung ist der Republik als Reaktion nicht zu empfehlen, selbst wenn es um das Auto und die liebe Ordnung geht.
Tim Wihl
Nicht Gandhi, nicht Martin Luther King
Im oben genannten taz-Beitrag zur Kritik von Grünen und Fridays For Future findet sich folgender Kommentar.
Wer [die] Letzte Generation als elitär und selbstgerecht beschimpft, […] erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst. Man stelle sich vor, die Inder hätten Gandhi verurteilt, weil er sich gewaltlos gegen Ungerechtigkeit gewehrt hat. Aber klar, als Deutsche sind wir natürlich am liebsten auf der Seite der Unterdrückung und würden für Menschen wie Martin Luther King und Gandhi Präventivhaft fördern [sic], weil sie ja keine Sympathie für ihre Unterdrücker [haben].
Den Vergleich mit Gandhi und King fördert die LG aktiv durch ihre vermeintliche Verpflichtung auf die Konzepte des zivilen Ungehorsams und des passiven Widerstands. Aber wer ankündigt, die Hauptstadt mit 1.000 Straßenblockaden lahmlegen zu wollen, weigert sich nicht nur einfach, nach menschenunwürdigen Gesetzen zu handeln, sondern greift aktiv in das politische Geschehen ein. Das ist ein Unterschied.
Gandhi oder Luther King konnten nie als "Terroristen" geframet werden – und auch nicht als solche, die morgen unsere (Klima-)Helden sind. Der RAF-Vergleich hinkt grauenvoll, aus mehrerlei Gründen.
Auf den entscheidendsten hat Telepolis-User "bienenstich" im Oktober letzten Jahres aufmerksam gemacht: Während die RAF sich der Staatsmacht entgegenstellte, um (vorgeblich) für die Freiheit der Bürger zu kämpfen, stellt sich die Letzte Generation den Bürgern entgegen, um die Macht des Staats zu erweitern.
Diese seltsame Verbrüderung mit der staatlichen Autorität spiegelt sich nicht zuletzt auch in dem Anspruch wider, dort ein Entgegenkommen zu fordern, wo man protestiert. Bei Porsche wird der Schlüssel zur Toilette verlangt, beim Protest auf der Straße die Geduld der Polizei – und beim Einsatz von Gewalt der Verzicht auf Gewalt.
Der "gute", der unschuldige, der letztlich staatstragende Protest kann schließlich nicht mit gleichem Maß gemessen werden, wie der vermeintlich staatszersetzende.
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