Libanon: Hunger, Armut und keine Arbeit
Die große Wut nach dem Lockdown. Ziele der Proteste sind Banken
"Epochenbruch" ist ein arg großes Wort. Aber schon weit vor der Corona-Krise, nämlich 2015, hat Volker Perthes, ein kleines Büchlein mit dem Titel: "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen" vorgelegt. Über die Positionen von Perthes, Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sicherheitspolitischer Berater der deutschen Regierung und viel gefragter Interviewpartner, kann man im Einzelnen gut streiten, das Postulat des "Ordnungszerfalls" in der arabischen Welt zeigt sich gerade deutlicher als zuvor.
Zum Beispiel im Libanon. Kaum wurde dort eine sechswöchige Ausgangsbeschränkung, begründet mit der Corona-Epidemie, gelockert, kam es in den letzten Tagen erneut zu Protesten, die einen Toten und viele Verletzte unter Demonstranten und Sicherheitskräften der staatlichen Ordnung forderten. Die Proteste, die in mehreren Orten stattfanden - die Medienaufmerksamkeit richtete sich besonders auf die Küstenstadt Tripolis, wo die Armut mehr ins Auge fällt als in Beirut -, nahmen die Wut wieder auf, die zuvor durch den "Corona-Hausarrest" gebannt worden war.
Ein paar elementare Beschreibungen der Situation im Libanon, die von Beobachtern (z.B. hier oder hier) als zumindest schwer kontrollierbar eingestuft wird: Die Währung stürzt auf dem informellen Markt gegenüber dem Dollar ab, manche Medien sprechen von 60 Prozent Wertverlust, manche von 50 Prozent; die Preise für Lebensmittel haben sich um 55 Prozent verteuert.
Fast die Hälfte der Bevölkerung, 45 Prozent, leben nach Angaben der Regierung unter der Armutsgrenze. Manche Beobachter sprechen gar von 50 Prozent unterhalb dieser Grenze seit Herbst letzten Jahres.
Keine Arbeit mehr
Durch die Maßnahmen zur Eindämmung oder Verhinderung der Coronavirus-Ausbreitung - aus dem Libanon werden 24 Tote im Zusammenhang mit Covid-19 gezählt und über 700 bekannte Fälle von Infektionen - fielen Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten in größerem Ausmaß weg. Genaue Zahlen über die durch von der Pandemiebekämpfung bewirkte Arbeitslosigkeit gibt es nicht.
Aber ein Bericht über den Stand der Jugendarbeitslosigkeit vom August vergangenen Jahres - 37 Prozent bei den Unter-25 Jährigen (allgemeine Arbeitslosigkeitsrate zu der Zeit: 25 %) -, lässt ahnen, dass sich dieses Problem durch den wochenlangen Lockdown verschärft hat.
Hinzuzufügen ist dem, dass etwa die Hälfte der libanesischen Bevölkerung, die im informellen Bereich, als Tagelöhner, Verkäufer oder Handwerker arbeiten, auf keinerlei staatliche Abdeckung von Gesundheitskosten zurückgreifen können.
"Die Menschen haben Hunger, so einfach ist das", heißt es in einem Bericht von Le Monde, wo ein ehemaliger Abegordneter auf die Kluft zwischen den Reichen und den Armen aufmerksam macht. Ein Protestteilnehmer, der von der libanesischen Zeitung an-Nahar befragt wird, erklärt noch etwas mehr:
Was man jetzt sieht, ist das Ergebnis von Problemen, die sich angehäuft haben. Wir hatten eine Revolution, die Menschen litten, dann kam Corona und die Bevölkerung wurde einen Monat lang zu Hause eingeschlossen, ohne dass der Staat für Essen und Trinken oder irgendetwas für sie Sorge trug. Nun haben wir einen Zustand erreicht, wo man die Leute nicht mehr kontrollieren kann. Sie sind hungrig.
Abdelaziz Sarkousi
Zu den Problem, die sich angehäuft haben, gehört eine Finanz- und Bankenkrise, die den Staat in eine Schuldenkrise gebracht hat, deren Schwere mit den Zeiten des Bürgerkriegs (1975 bis 1990) verglichen wird.
Kein Geld mehr
Die Bankenkrise, bei der der festgesetzte Dollarkurs und Geschäftsbedingungen zugunsten der reichen Eliten bedeutende Faktoren waren, führte zu einer massiven Entwertung der Guthaben der kleineren und mittleren Anleger. Diese kommen auch nur in kleinen begrenzten Mengen an ihr Geld (oder gar nicht), während die Großanleger versuchen möglichst viel ihrer Einlagen trickreich über den Kauf von Immobilien zu retten.
Ablauf und Dynamik der Bankenkrise, die die Protestwelle im Herbst vergangenen Jahres begleitete, wurde von einem Kreis von Spezialisten (NERDS genannt) genau verfolgt. Anders als in vielen Medien üblich schauten sie dem Geschäftsgebaren genau auf die Finger, wie sie auch den Erklärungsversuchen zur Beruhigung genau zuhörten und sich Vorgeschichte der Krise genauer vorknöpften (siehe Libanon: Proteste gegen Banken und die politische Elite, Libanon: Kurz vor dem System-Kollaps, Syrien und Libanon im Dollar-Schlamassel).
Keine helle Zukunft mehr
Einer dieser Beobachter, die sich die Finanzgeschäfte genau anschauen und den offiziellen Verlautbarungen gegenüber skeptisch sind, lebfinance, veröffentlichte Anfang April einen sehr düsteren Zukunftsausblick für den Libanon mit Hungersnot, der Bewusstwerdung auch von 80 Prozent der Reichen sowie der gesamten Mittelklasse dessen, dass sie nun in einem armen Land leben - "die Zerstörung von Reichtum wird massiv sein". Warlords und gated communities würden mit neuer Stärke das Leben bestimmen.
Möglicherweise sei er zu emotional gewesen, postete er. Doch ist er damit kein Einzelgänger, wie die Wut der zurückgekehrten Protestierer zeigt. Und dass die Konflikte zwischen den Wohlhabenden und den armen Abhängigen sich nun steigern werden, stellen auch andere Analysten fest: Zuvor war der Kuchen größer, so dass diese Unterschiede beruhigt werden konnten.
Die Banken waren in den letzten Tagen Ziele der Wut der Proteste. Die Wut könnte sich in dem Land, wo konfessionelle Spannungen leicht zu politischen Zwecken entfacht werden, auch schnell anders ausrichten. Aufgrund der geografischen und politischen Lage kann sich das ausweiten. Auch viele syrische Kleinanleger gehören zu den Kunden der zahlreichen libanesischen Banken.