Lindner zu Kinderarmut und Migration: Wenn sich die Eltern erst mal integrieren sollen
Für die Kindergrundsicherung gibt es ohnehin weniger Geld als zunächst gefordert. Kindern zugewanderter Eltern würde der Finanzminister erst mal gar nichts gönnen. Was er zudem schönrechnet.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) hat sich im Koalitionsstreit schon mächtig herunter handeln lassen: Statt der ursprünglich veranschlagten zwölf Milliarden Euro sollen nun 3,5 Milliarden für die Kindergrundsicherung zur Verfügung gestellt werden – oder vielleicht doch 4,2 Milliarden? Die öffentlich-rechtlichen Sender sind verwirrt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hält nach wie vor 12,5 Milliarden für angemessen.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) möchte lieber erst mal diskutieren, ob Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien in Armut überhaupt eine solche Grundsicherung zusteht – beziehungsweise, ob ihnen mit "mehr Geld auf dem Konto" geholfen sei. Vor allem müsse, so Lindner, mit Sprachförderung, Integration und Weiterbildung in die Eltern investiert werden, damit sie vielleicht einmal genug verdienen.
Nicht nur Sozialverbände kritisieren das scharf, da es für Kinder und Jugendliche erst einmal weiterhin Armut im Hier und Jetzt bedeuten würde, die sich auch auf ihr späteres Leben auswirken kann. "Kinderarmut bedeutet nicht nur Entbehrung, Mangel und Ausgrenzung im Hier und Jetzt, sondern raubt Kindern Entwicklungs- und Zukunftschancen", hat der DGB bereits für den jüngsten Lindner-Äußerungen festgestellt.
Ich halte es für unsäglich, wenn der Finanzminister nun anfängt, arme Kinder aus Deutschland auszuspielen gegen die Kinder, die mit ihren Familien aus der Ukraine zu uns flüchten mussten
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung
Sagt man zu einem fünfjährigen Kind, das in Armut lebt: warte mal fünf Jahre, bis deine Eltern gut im Arbeitsmarkt integriert und hoffentlich ein ordentliches Einkommen haben,dann darfst du auch am sozialen Leben teilnehmen und Teil der Gesellschaft werden?
Marcel Fratzscher, Ökonom
Manche Chefredakteure großer Medienhäuser sehen darin aber kein Problem. Sich in die betroffenen Kinder hineinzuversetzen, hält beispielsweise WeltN24-Chefredakteur Ulf Poschardt sogar für "antiaufklärerisch" und für eine "Sentimentalisierung" der Debatte, die "mündige Diskurspraktiken" verhindere.
Lindner hatte am Wochenende zudem erklärt, die Kinderarmut in Deutschland sei "bei den ursprünglich deutschen Familien" deutlich zurückgegangen. Insgesamt sei sie aber "indiskutabel hoch wegen der Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind als Geflüchtete oder aus anderen Gründen".
Dieser statistische Effekt bedeutet aber nach Aussage des Ökonomen Marcel Fratzscher nicht, dass sich die Situation "ursprünglich deutscher Familien", die zuvor als arm halten, seither real verbessert hat: Statistisch gesehen sei arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Weil aber seit 2015 "noch ärmere Menschen hinzugekommen sind", sei das das mittlere Einkommen gesunken, so Fratzscher.
Der Einfluss der Agenda 2010
Auch Grünen-Chefin Ricarda Lang widerspricht Lindner zu recht, wenn sie sagt, das Problem Kinderarmut bestehe schon länger – allerdings dürfte ihre Partei daran nicht ganz unschuldig sein: Die "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" unter der "rot-grünen" Bundesregierung von 1998 bis 2005 wurden oft genug als Verarmungsprogramm kritisiert.
Im Jahr 2010 wurde in einer Dokumentation zur zweiten Nürnberger Armutskonferenz festgehalten: "Viele Untersuchungen, Beobachtungen und Erfahrungen zeigen, dass die Kinderarmut in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen hat." Fünf Jahre zuvor waren die neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010 in Kraft getreten. Deren Befürworter bestritten in den Folgejahren nur, dass dies die Ursache sei.
Schließlich habe es Kinderarmut auch schon vor diesen Reformen gegeben, heiß es 2016 in einem Kommentar des Tagesspiegels, dessen Autor zwar skandalös fand, dass nun "knapp jedes siebte Kind unter 18 Jahren" in einer Familie lebte, die auf staatliche Leistungen angewiesen sei, der aber zugleich meinte, die Agenda 2010 müsse als "richtiger Schritt" anerkannt werden.
Sozialverband: Der Mindestlohn ist nicht armutsfest
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hatte 2007 festgestellt, dass "die Aushöhlung bzw. Erosion des 'Normalarbeitsverhältnisses' maßgeblich zur Verbreitung von (Kinder-)Armut beiträgt".
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen lebten keineswegs alle in Haushalten, in denen niemand arbeiten ging, sondern zum Teil in Familien von "Aufstockern", deren Lohn nicht reichte, um eine Familie zu ernähren.
Als Konsequenz aus der Tatsache "dass die Armut in Kernbereiche der Erwerbsarbeit vorgedrungen ist und auch viele Geringverdienende trifft" forderte Butterwegge damals einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.
Einen solchen gibt es inzwischen – der Sozialverband Deutschland hält ihn allerdings nicht für armutsfest. Statt bei gegenwärtig 12 Euro pro Arbeitsstunde müsste der Mindestlohn nach Berechnungen des Verbands bei 14,13 Euro liegen.