Lizenz zum Töten?
Libyen modernisiert seine Grenzüberwachung. Trotz Kritik des Parlaments schließt die EU mit Präsident Gaddafi eine "Vereinbarung über technische Hilfe und Kooperation". Ein Freihandelsabkommen soll folgen
Über Stunden werden italienische Fischer im September von einem libyschen Patrouillenboot gejagt und mit Maschinengewehren beschossen. Mit an Bord: Polizisten der italienischen Guardia Finanza. Die Regierung in Rom findet daran nichts Verwerfliches. Die EU-Kommission wünscht sich auch mehr "ausgewogene Zusammenarbeit mit Libyen in allen Migrationsfragen" und sagt dafür 50 Millionen Euro zu. Libyen investiert jetzt in satellitengestützte Überwachungssysteme.
Den Abend des 12. September werden die zehn Fischer an Bord der 36 Meter langen italienischen "Ariete" nicht vergessen. Ihr Schiff war zuvor in offenen Gewässern von einem libyschen Patrouillenboot gestellt und die Besatzung zur Kontrolle aufgefordert worden. Kapitän Gaspare Mutolo will das Risiko nicht eingehen, sein Schiff wie andernorts vorgekommen konfiszieren zu lassen und entschließt sich zur Flucht: "Sie forderten uns auf anzuhalten… Aber, wissend was uns erwartet, zog ich es vor, weiter zu fahren und schaltete die Maschine auf Vollgas. Daraufhin eröffneten sie das Feuer", beschreibt Mutolo die rund dreistündige Jagd. Rund 50 Kugeln durchschlugen die Kabine des Steuermanns, ein Beweis für ihre tödliche Absicht.
Das libysche Patrouillenboot gehört zur Flotte von sechs neuen Schiffen, die von Italien im Rahmen des italienisch-libyschen Freundschaftspakts von 2008 geliefert wurden. Das mag erklären, weshalb an besagtem Abend sechs der 22 Offiziere der Guardia Finanza (GdF) an Bord waren, die laut offizieller Darstellung die libyschen Besatzungen in der Handhabung der Boote unterweisen sollen. Eine Untersuchung des italienischen Innenministeriums rekonstruiert, die sechs Beamten seien in Zivil gewesen und hätten keine Befehlsgewalt. Zudem seien sie zu Beginn der Jagd unter Deck geschickt worden. In der Zeitung La Repubblica erklärt einer der GdF-Offiziere, die libyschen Beamten würden sich ihnen gegenüber "nicht gut benehmen". Sie hätten hilflos mit ansehen müssen, wie das Feuer auf ihre unbewaffneten Landsleute eröffnet wurde.
Auf Migranten wird geschossen
Noch immer sind Anlass und Hergang der Aktion unklar. Während libysche Behörden behaupten, das Boot habe in libyschen Gewässern gefischt, beweisen die GPS-Aufzeichnungen von dessen "Blue Box" das Gegenteil. Ein "Missverständnis", für das sich die libysche Regierung entschuldigt hätte, bagatellisieren Außenminister Franco Frattini und Innenminister Roberto Maroni. Die Beziehungen zu Libyen seien nach wie vor ungestört.
Der Innenminister weist indes die Fährte auf eine plausiblere Erklärung für die nächtliche Jagd: "Vielleicht haben sie gedacht, dass es sich um ein Boot mit Flüchtlingen handelte." Auf Migranten wird also auch außerhalb hoheitlicher Gewässer geschossen.
"Gibt es also eine Lizenz zum Töten?", fragt der Eigner der "Ariete", Vincenzo Asaro. Tatsächlich dokumentieren zahlreiche Berichte von Flüchtlingen, dass ihre oft überfüllten und ohnehin in schlechtem Zustand befindlichen Boote mit Schüssen zum Anhalten gezwungen, gerammt oder schlicht versenkt werden.
Vielleicht hat der Angriff auf die "Ariete" aber einen ganz anderen Hintergrund: Das Schiff hatte in der Vergangenheit immer wieder Schiffbrüchige aufgenommen. 54 Migranten wurden im November 2007 aus dem Meer gefischt, wofür die Crew eine Auszeichnung des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) erhielt. Ein Racheakt also?
Dem Zwischenfall im September gingen bereits mehrere ähnliche voraus. Im Juni hatten die neuen libyschen Küstenwachtschiffe drei italienische Fischerboote in den Hafen von Tripolis geschleppt und tagelang festgehalten. Kurz zuvor erteilte die maltesische und italienische Küstenwache libyschen Polizisten die Erlaubnis, mehrere Boote mit Flüchtlingen zu jagen, erläutert Fulvio Vassallo Paleologo von der Universität Palermo. Laut dem Professor für Privat- und Asylrecht sind zudem in mehreren bilateralen Verträgen Bedingungen für gemeinsame Patrouillen von Libyen und Italien geregelt. Ziel sei, eingefangene Flüchtlinge unverzüglich nach Libyen zurückzubringen.
Die beiden Minister Frattini und Maroni erklären, die Lieferung der sechs Patrouillenboote sei zwar Bestandteil des Freundschaftspakts gewesen, die Entscheidung hierzu sei allerdings schon 2007 von Ministerpräsident Romano Prodi getroffen worden. Bereits 2006 hatte der italienische Sicherheitsmulti Finmecchanica einen Vertrag zur Lieferung von 10 Helikoptern, die besonders für Belange der Grenzüberwachung ausgerüstet sind, abgeschlossen.
EU-Parlament stellt sich gegen Kommission
Die Mittelmeerregion zwischen Libyen und Italien gehört zum Operationsgebiet der EU-Migrationspolizei Frontex (Europas Borderline). Laut deren Jahresbericht von 2009 haben die mit Ausrüstung und Personal anderer Mitgliedsstaaten ausgeführten Missionen eine drastische Reduzierung von Ankünften auf italienischem Festland bewirkt. 2010 sind die Zahlen nach Angaben von Frontex erneut stark zurückgegangen – unter immensen Opfern auf Seiten der Flüchtlinge: Allein im Frühjahr 2009 sind Hunderte Flüchtlinge auf teils ungeklärte Weise vor der libyschen Küste ertrunken.
Auch Deutschland ist an den Missionen beteiligt. Im Juni 2009 wurden etwa 74 Migranten von einer deutschen Hubschrauberbesatzung geortet. Die Koordinaten wurden daraufhin an die maltesische und von dort an die italienische Küstenwache übermittelt, die schließlich die "libyschen Kollegen" informiert hatten.
Die Situation in libyschen Flüchtlingslagern wird in zahllosen Berichten von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Das Land hat kein Asylsystem, ein Recht auf Schutz vor Verfolgung existiert nicht. Laut Amnesty International wird an Flüchtlingen auch die Todesstrafe vollstreckt.
Der Generaldirektor für Inneres der Europäischen Kommission, Stefano Manservisi, hat nichts gegen die Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen einzuwenden. Demgegenüber gibt es seitens des Europaparlaments heftige Kritik: In einer Entschließung werden Libyen systematische Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, die EU-Mitgliedstaaten und Frontex sollen folglich Abschiebungen und Zurückweisungen unverzüglich beenden. Das Antifolterkomitee des Europarats unterstützt die Einschätzung.
Libyens Präsident Muammar al Gaddafi hatte im Sommer erklärt, er vertrete eine andere Flüchtlingsdefinition als die Genfer Flüchtlingskonvention und ließ kurzerhand das Büro des UNHCR zu schließen. Menschenrechtsorganisationen sehen einen Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Neues EU-Abkommen mit Libyen
Gaddafi ist nach jahrelanger politischer und wirtschaftlicher Kooperation mit Italien zum "starken Partner" der Europäischen Union aufgestiegen. Als Präsident der Afrikanischen Union nahm Gaddafi medienwirksam am G8-Gipfel 2009 im italienischen L'Aquila teil (Mehr Benzin, weniger illegale Einwanderung). Auf Druck Berlusconis hatte der Europäische Rat letztes Jahr eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Libyen angeregt.
Jetzt wird die Migrationsabwehr der Europäischen Union und Libyens auf eine neue Stufe gehoben. Der libysche Außenminister Moussa Koussa, die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der für Europäische Nachbarschaftspolitik zuständige Kommissar Stefan Füle trafen sich Anfang Oktober in Tripolis, um einen "Meilenstein im Kampf gegen illegale Einwanderung" zu beschließen. "Wir werden mehr Gas und Benzin aus Libyen bekommen und weniger illegale Einwanderung", hatte Italiens Ministerpräsident Berlusconi letztes Jahr getönt.
Die EU-Kommission drückt sich gewählter aus: "In wichtigen Bereichen wie Handel, Energie, Sicherheit und Entwicklung des afrikanischen Kontinents haben wir gemeinsame Interessen", erklärt Füle den Grund der Reise. "Eine ausgewogene Zusammenarbeit mit Libyen in allen Migrationsfragen ist ein wichtiges Anliegen der EU", ergänzt Malmström.
Die EU-Kommission ruft Libyens "Kampf gegen Menschenhandel, Schmuggel und Terrorismus an den südlichen Landesgrenzen" aus und stellt in der "Vereinbarung über technische Hilfe und Kooperation" rund 50 Millionen Euro für Grenzüberwachung zur Verfügung. Die geforderte Verbesserung der Unterbringung von Flüchtlingen in libyschen Abschiebegefängnissen soll etwaige Abschiebehindernisse der EU minimieren. Libyen soll ein Asylsystem nach "internationalen Standards" aufbauen.
Libyen kauft Überwachungstechnik aus der EU
Welche "technische Hilfe und Ausrüstung" die EU wie beschlossen bereitstelle, könne man noch nicht sagen, erklärte Malmströms Sprecher Michele Cercone. Derweil schafft Libyen Fakten. Kurz nach Abreise der EU-Delegation unterzeichnete Gaddafis Sohn Hannibal am Rande einer Schiffahrtsausstellung den Vertrag über die Lieferung eines Grenzüberwachungssystems. Für rund 20 Millionen Euro stellt die in Irland ansässige Firma Transas:www.transas.com/ der libyschen Behörde für Hafen- und Seetransport ein Set aus Radar- und Kommunikationstechnik bereit, um die Überwachung der 2.000 Kilometer langen Seegrenze zu optimieren. Damit kann etwa festgestellt werden, ob sich per Radar geortete Schiffe mit dem üblichen GPS-Ortungssignal "Automatical Identification System" (AIS) identifizieren.
Die Arbeiten sollen sofort beginnen und innerhalb von 16 Monaten abgeschlossen sein. Eingeschlossen sind Radargeräte, nicht näher bestimmte Sensoren, Kameras sowie Hard- und Software zur Verarbeitung und Speicherung gewonnener Daten. Die Plattform vernetzt 15 Häfen und 43 über die Küste verteilte Stationen mit zwei Lagezentren in Tripolis Benghazi.
Die Anschaffung steht gemäß einem Behördensprecher im Zusammenhang mit internationalen Verträgen, die das Land erfüllen müsse, darunter zur Sicherheit auf See, dem Kampf gegen maritime Verschmutzung sowie des International Ship and Port Facility Security Code (ISPS-Code), ein Maßnahmenpaket zur Gefahrenabwehr bei Schiffen und Häfen.
Neben den Seegrenzen wird auch die Überwachung der libyschen Landgrenzen modernisiert. Hier soll die Installation eines satellitengestützten Systems helfen. Für das ähnlich dem von der EU finanzierten spanischen "Sea Horse"-Projekt geplante System hatte Libyen die Übernahme von 50% der veranschlagten 300 Millionen Euro durch die EU gefordert. "Sea Horse" ist Teil des spanischen "Sistema integrado de vigilancia exterior" (SIVE), das spanischen und nordafrikanischen Behörden Daten über verdächtige Bewegungen auf dem Mittelmeer bereitstellt.
Auch die Satellitenüberwachung geht auf den italienisch-libyschen Freundschaftsvertrag zurück. Dort ist allerdings festgeschrieben, dass italienische Firmen von den Investitionen profitieren sollen. Die Hälfte aller "geschenkten" Milliarden müssen in Italiens Rüstungs- und Bauindustrie reinvestiert werden.
Seit November 2008 verhandelt die EU über ein generelles Rahmenabkommen zu Außenpolitik und Sicherheitsfragen, einer Freihandelszone und weiteren Schritten in der Migrationsabwehr. Das EU-Parlament wird hierfür nicht gefragt, darf aber wenigstens Stellung nehmen. Dabei geht es um nicht weniger als eine "Zusammenarbeit in Schlüsselbereichen", die in einem eigenen Strategiepapier niedergelegt sind: Energie, Verkehr, Migration, Visumpolitik, Justiz und Inneres, Umwelt, Meerespolitik und Fischerei, Bildung und öffentliche Gesundheit.
Für Mitte November sind weitere Verhandlungen für das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union geplant. Für die jetzt schon abzusehenden "expandierenden bilateralen Aktivitäten" richtet die Kommission in Tripolis ein Büro ein.