Löcher im Netz
Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht - und ganz Deutschland lacht über die Bahn in Mainz
"Manche Dinge sind so groß, dass sie unsichtbar werden, so ein Ding ist die Bahn", schrieb ich seinerzeit und hätte dabei auch erwähnen können, dass es lange dauert, um ein so großes Ding, einen so großen technosozialen Organismus wie die deutschen Eisenbahnen, zu ruinieren. Mit den Zuständen in Mainz ist klar, dass die nimmermüde deutsche Verkehrspolitik das Ziel beinahe erreicht hat.
Und wie es in der Geschichte der Absurditäten so oft der Fall ist, beginnt das Malheur mit einer scheinbar kleinen Sache: not with a bang, but with a whimper. Nicht ein Krieg, ein Meteoriteneinschlag oder ein Generalstreik haben den Bahnverkehr in Mainz zum Erliegen gebracht, sondern der Urlaubsantritt einiger Fahrdienstleiter. Fahrdienstleiter sind diejenigen, "denen auf den ihnen zugeordneten Betreibsstellen eigenverantwortlich die Zulassung der Zugfahrten obliegt. Keine Zugfahrt darf ohne Zustimmung des Fahrdienstleiters durchgeführt werden".
Das ist, wie eigentlich klar sein müsste, ein ziemlich verantwortungsvoller und aufreibender Job, und nur wer glaubt, dass Menschen unfehlbare Roboter sein sollten, verlangt von Fahrdienstleitern, dass sie ohne Unterlass und Urlaub zur Stelle zu sein haben. - Warum sollte auch jemand Erholung brauchen, der tagtäglich eine Unzahl von Menschenleben in der Hand hat, und mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, auf jede Ausnahmesituation angemessen reagieren muss?
So oder so ähnlich denkt anscheinend Patrick Döring, seines Zeichens Generalsekretär der FDP und Mitglied des Aufsichtrats der DB AG. Wie das Monster von Loch Netz hebt er sein Haupt aus dem politischen Sumpf, um seine "Lösung" für das Problem anzubieten: Die Fahrdienstleiter sollen auf Kosten der Bahn aus dem Urlaub zurückgepfiffen und zum Dienst verpflichtet werden. Herr Döring wird auch mit den Aussagen zitiert, dass die Bahn auch vom Teamgeist der Eisenbahner lebe, und dass die Züge in Mainz wieder rollen müssten.
Nun ist ja hinreichend bekannt, dass die Aussagen deutscher Verkehrspolitiker und -manager gern die Grenze zum groben Unfug überschreiten, aber selbst vor diesem Hintergrund sind die Aussagen von Döring bemerkenswert. Sie können eigentlich nur von jemandem stammen, der weder sich selbst, noch Leute, an denen ihm irgend etwas liegt, der Fürsorge unausgeruhter und überlasteter Fahrdienstleiter anvertrauen muss. Im Umkehrschluss könnte man vermuten, dass Herrn Döring an allen, die auf die Bahn angewiesen sind, nichts liegt.
Kaputtsparen, was man kaputtsparen kann
Wenn man sein Gerede einmal beiseite lässt, bleibt als Ursache für das sich entfaltende Debakel bei der Bahn nur eine Sache übrig, die nichts mit dem Urlaub von ein paar Fahrdienstleitern zu tun hat: Die Bahn ist jahrzehntelang einer Schrumpfkur unterworfen worden, die sie zu einem Schatten ihrer selbst hat abmagern lassen. Daran ändern auch die hektischen Gegensteuerbewegungen und punktuellen Neueinstellungen der jüngsten Zeit nichts. Die Mittelbayrische Zeitung hat recht, wenn sie schreibt:
Was in Mainz passiert, ist erst einmal Zufall, aber auch wieder eine Folge des Stellenabbaus, der zu lange nach der Fusion von Bundesbahn und Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG1994 Standard war. Im sechsstelligen Bereich hat die Bahn Personal verloren. Die Gründe: Erst massiver Abbau im Osten und dann flankierende Maßnahmen zur Vorbereitung des Börsengangs.
Wenn man nur lange genug kaputtspart, was man kaputtsparen kann, gibt man "Zufällen" die Chance, in einer Weise zu greifen, wie das jetzt in Mainz der Fall ist. Es hat lange gedauert, aber der Ernstfall tritt noch schneller ein, als von mir seinerzeit vermutet.
Das Bahnnetz ist ein Cluster von Netzen: das Schienennetz, das bahneigene Telefonnetz, das bahneigene Funknetz, das bahneigene Elektrizitätsnetz, die Subnetze der Klein- und Privatbahnen um das eigentliche Netz herum, das Netz der stillgelegten Strecken, von denen durch Rückbau, Materialwiederverwertung, Wiederaufnahme durch Liebhaber immer noch Impulse für das lebendige Netz ausgehen, Teststrecken und Forschungseinrichtungen, ein Netzwerk von Reparatur-, Wartungs-, und Reinigungseinrichtungen (...): Netze über Netze, Netze in Netzen. (...)
Nicht jede Ausdünnung des Netzes schwächt den Zusammenhalt des Ganzen, "Leichtbauweise" in der Ingenieurskunst beruht auf der Abstoßung und Abschleifung überflüssiger Teile, und (...) bis zu einem gewissen Grad der Ausdünnung [kann] ein Netz immer noch zufriedenstellend funktionieren (...). Unterhalb dieses Grades bricht es zusammen, d.h. es teilt sich in verschiedene, nicht mehr miteinander verbundene Netze, und während dieses Stadium des Zusammenbruchs im Zuge der Schrumpfung der Bahn noch lange nicht erreicht ist, erleben wir doch die ersten schmerzhaften Symptome dafür, dass das Netz überlastet ist. Man nennt sie Verspätungen und Unfälle.
Es erweist sich, dass das übermäßig optimistisch gedacht war, denn um bloße Verspätungen geht es schon wenige Jahre später längst nicht mehr: In Mainz, der Hauptstadt eines deutschen Bundeslands, findet das Netz der Bahn derzeit nur noch als Farce statt, und das soll bis zum Herbst so bleiben. Selbst die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs behinderten den Bahnverkehr in Mainz nicht so einschneidend:
Die Reichsbahndirektion registrierte 1945 einen Schaden von rund 180 Millionen Mark. Trotz allem wurde der Zugverkehr mit kurzen Unterbrechungen aufrechterhalten.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt:
Über Jahre hatte die Leitung die Bahn auf den Börsengang getrimmt und massiv Stellen abgebaut. Als das Vorhaben abgeblasen wurde, blieb ein Unternehmen mit notorischem Personalmangel und ohne die erhoffte Geldspritze von den Aktienmärkten übrig.
Die konkreten Ergebnisse dieser Politik hatte der damals wie heute sehenswerte Film Bahn unterm Hammer von Herdolor Lorenz und Leslie Franke zum Thema, als den großen Zeitungen noch arg wenig zum Thema einfiel. Wer trägt aber für diese verfehlte Politik und ihre Folgen die Verantwortung?
Zum Teil die FDP, die Partei der Besserverdiener, die wollen, dass andere am Laufen halten, was dem Besserverdienen nützt. Philip Rösler, Bundesvorsitzender dieser fabelhaften Partei und außerdem Bundeswirtschaftsminister, forderte jedenfalls noch im Dezember 2012, die Privatisierung der Bahn wieder in Angriff zu nehmen. Dies ist ein Herzensanliegen, das die beiden aktuellen Regierungsparteien schon lange vereint, und das auch bei der Abfassung des Koalitionsvertrages der aktuellen Regierung einen bestimmten "FDP-Verkehrsexperten" besonders bewegte. Sein Name: Patrick Döring.
Bis 2009, als der Großteil des Personalabbaus zur Vorbereitung auf die Privatisierung längst gelaufen war, wurde die Privatisierung auch von der SPD unterstützt.
Gemisch aus Blindheit, gewollter Ahnungslosigkeit und Masochismus
Das Geschimpfe und Gelächter des Publikums über die Zustände in Mainz fallen allerdings auf es selbst zurück, sind doch die Politiker, die die Bahn ruiniert haben und weiter ruinieren, von genau diesem Publikum in ihre Positionen gewählt worden - für die Wahl im September ist nichts anderes als eine Wiederholung des immergleichen Spiels zu erwarten.
Selbst den meisten regelmäßigen Bahnreisenden ist die Wichtigkeit ihres Lieblingsfortbewegungsmittels nur in Ausnahmefällen klar zu machen; von einem "vernetzten Denken", das die Dimension des Problems auch nur annähernd überschaut, keine Spur. Die Medien sind keinen Deut besser.
Dass die Mainzer Affäre erahnen lässt, was geschieht, wenn Stuttgart 21 ernsthaft in Angriff genommen wird, bleibt bisher unbenannt, grundsätzliche Fragen zum Thema Verkehrspolitik spart man sowieso aus. Es ist genau dieses Gemisch aus Blindheit, gewollter Ahnungslosigkeit und Masochismus, das möglich macht, was geschieht.
Empfehlungen? Den Mainzer Fahrdienstleitern empfehle und wünsche ich weiterhin einen entspannten Urlaub. Wer sich verschleißen lässt, muss sich nicht wundern, wenn er verschlissen wird. Und Herr Döring? Hat im Aufsichtrat der Deutschen Bahn AG nichts verloren.