Love it or leave it

Kulturschock USA - Teil V

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Love it or leave it lautet ein bekanntes Motto, mit dem die Amerikaner jede gute Idee abschlagen. Wenn's dir hier nicht gefällt, wieso wanderst du nicht aus? Ich war in den USA quasi als Botschafter für die deutsche Energiepolitik. Würden sich meine Zuhörer hinter unsichtbaren US-Fahnen verstecken und mich als Besserwisser aus Europe abstempeln? "You're either with us or against us." Wie weit hatte sich dieses Schwarz-Weiß-Denken von George W. Bush durchgesetzt?

Ich versuchte in meinen Vorträgen klarzumachen, wie oft die Amerikaner Energie verschwenden, weil sie einfach nicht wissen, wie sie Energie verbrauchen. Und ich betonte, dass sie so viel Energie verschwenden, dass sie nicht immer auf Komfort verzichten müssen, wenn sie Energie sparen wollen.

Erstes Beispiel: Meine Eltern haben ein neues Haus gekauft. Der Warmwassertank ist komplett am anderen Ende des Hauses von ihrer Dusche entfernt. Obwohl das Haus gar nicht so groß ist, wartet man gute 2 Minuten, bis das Wasser heiß wird. In der Zeit wäre ich fast fertig mit Duschen. Es wäre ein großer Gewinn an Komfort, wenn der Architekt daran gedacht hätte, das Warmwasser dort zu installieren, wo es gebraucht wird, anstatt dort, wo man die Autos parkt.

Zweites Beispiel: Man baut in Mississippi ein neues Haus. Zunächst macht man alle Bäume platt, damit man besser arbeiten kann. Dann stattet man das Haus mit einem schwarzen Dach aus. Nun dürfen die Bewohner 8 Monate im Jahr mit viel Energieeinsatz versuchen, dieses unbeschattete Haus mit einem schwarzen Dach kühl zu halten. Wo, bitte schön, liegt hier der Komfort?

Aber niemand versuchte mich in meinen Vorträgen mundtot zu machen. Keiner wollte wissen, wann ich endlich zurückfliege. Im Gegenteil: Meine Zuhörer waren offen und wissbegierig. Und nach einem Vortrag an der Tulane Business School meinte eine Studentin, ihr habe vor allem gefallen, dass der Vortrag so witzig war. Ich war verblüfft und konnte mich nicht erinnern, überhaupt einen Witz eingebaut zu haben. Ich lächelte und sagte nur: "Ja, es muss vor allem dort witzig gewesen sein, wo ich es erst meinte."

Blue vs. Red

Kann man die Politik eines Landes ausklammern und den Menschen wie Individuen begegnen? Theoretisch ja, aber ich wusste nicht, ob es mir in den USA schwer fallen würde, meine ganze Frust nicht über jeden auszugießen. Würde ich wie ein Irrer jedem zu erklären versuchen, wie grundgesetzlich enttäuscht die ganze Welt ist, seitdem die Amerikaner den vierjährigen Alleingang und komplette Missachtung anderer Länder in der Politik im November 2004 gutgeheißen haben?

It is incomprehensible to many outside the United States how such a developed society could still trust a man who waged war under false pretenses.

Jakarta Times zur Wiederwahl von Bush

Ich war aber nie versucht, überhaupt irgend jemanden zu belehren. Durch den Tod eines Onkels habe ich an die 40 Verwandte getroffen - Menschen, die ich teilweise seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle wollten von mir wissen, was ich so mache und wie es mir geht. Ich erzählte von zwei Kindern, einer erfolgreichen akademischen und beruflichen Laufbahn, einer berühmten deutschen Webseite, für die ich schreibe ;-), und davon, dass ich gerade auf Vortragsreise war, weil ich ein Buch geschrieben hatte.

Meine Verwandten im Bibelgürtel schauten mich liebevoll an und sprachen immer wieder von meinen "god-given talents". Zu keinem Zeitpunkt war ich versucht, sarkastisch zu entgegnen: "Klar, meine Talente habe ich von Gott, meine Laster vom Teufel." Man macht sich oft keine Gedanken darüber, was es bedeutet, auf einem anderen Kontinent zu leben, fernab aller familiären Bindungen. Es war einfach schön, nach so vielen Jahren in der Fremde so viele Menschen um mich zu haben, die mir nur das Beste wünschen - oder, wie Lyle Lovett einst sang:

I went to a funeral
And Lord it made me happy
Seeing all them people
That I ain't seen
Since the last time somebody died.

Mit Erschrecken erfuhr ich übrigens neulich, dass Lyle Lovett bei der Fete zu Bushs Amtsantritt aufgetreten ist. Soll ich ihn jetzt nicht mehr mögen? Dann dürfte ich auch den schwarzen Jazzpianisten Herbie Hancock nicht mehr hören, denn er hat zum Valentinstag im Weißen Haus gespielt. Wahrscheinlich spielt er nur dort, weil er es verdient hat - so wie Miles Davis, der beim Diner in Reagans Weißem Haus von einer ahnungslosen Dame gefragt wurde, wie er denn seine Anwesenheit dort verdient hatte. Davis: "I've changed music four or five times. What have you done of any importance other than be white?" (Es ist nicht überliefert, ob die Frau antwortete: "Hätten Sie es als Trompeterin im Jazz auch geschafft?")

Außerdem möchte ich nicht so werden wie die Amerikaner, die die Platten von den Dixie Chicks (ganz tolle Gruppe übrigens) kaputtschlagen, weil sie sich gegen Bush ausgesprochen haben, oder Ben & Jerry's (die mein Lieblingseis machen) boykottieren und stattdessen Star-Spangled Ice Cream machen. Ich möchte die Welt nicht in Freunde und Feinde aufteilen. Republikaner und Demokraten, Nichtwähler und Anarchisten sind bei mir gleichermaßen willkommen.

Ansonsten ließen mir viele Amerikaner kaum Platz, um die Blödheit der Amerikaner bloßzustellen. Viele meiner Gesprächspartner haben unsere Landsleute so dermaßen in Grund und Boden kritisiert, dass mir nichts mehr einfiel. Uninformierte Leute seien wir, die von der Welt nur wissen, dass die USA das beste Land sind - so der Tenor bei vielen. Wie sagte es die Sängerin Michelle Shocked einmal über die Menschen in ihrem Dorf in East Texas:

Looking back and asking myself
What the hell'd you let 'em break your spirit for?
You know their lives ran in circles so small
They thought they'd seen in all
And they could not make a place for a girl who'd seen the ocean.

In den Kommentaren zu dieser Serie sind viele TP-Leser über mich hergefallen, weil ich angeblich den Amerikanern alles verzeihen wollte. Wenn mein Land in ein anderes einmarschiert, gehe ich selbst auf die Barrikaden, aber ich habe dadurch noch nie etwas bewegt. Deshalb versuche ich zunehmend nach der Maxime zu leben: "Sei die Veränderung, die du sehen willst." Vor allem aber verstehe ich immer besser, dass es töricht ist, einen anderen Menschen ändern zu wollen.

Die Amerikaner sind also laut manchen TP-Lesern alle ausnahmslos schuld an ihrer Außenpolitik. Eine frühere Generation aus Deutschland wollte die Kollektivschuld nicht auf sich nehmen. Spätere Generationen reden von der "Gnade der späten Geburt". Tja, keiner war's!

Wie wäre es mit der "Gnade der Desinformierten"? Oder wie sagte es Robert Kennedy Jr. in dieser Radiosendung (unbedingt empfehlenswert!):

80% der Republikaner, mit denen ich gesprochen habe, sind uninformierte Demokraten. (80% of the Republicans I meet are just Democrats who don't know what's going on.)

Es gibt keine Republikaner und Demokraten, keine Deutschen und keine Amerikaner. Aber man kann den Menschen eine Identität - eine Nationalität - einreden und sie aufspalten, ihnen sagen, dass sie verschieden sind, und sie gegen einander aufwiegeln. Die Spaltung in den USA ist deshalb so beängstigend: Republikaner und Demokraten reden nicht miteinander - ein gespaltenes Amerika spaltet die Welt in Gut und Böse auf.

Ich versuchte diese Tendenzen unter meinen Landsleuten nicht zu beurteilen, sondern zu verstehen - genauso wie ich versuche, die Beweggründe der Terroristen zu verstehen. Verstehen wollen bedeutet nicht, dass man verzeiht oder gar gutheißt. Einen Menschen kann man zwar nicht ändern, aber vielleicht die Umstände, die zu einem Benehmen und einer Gesinnung führen?

Gewissensbisse

Ich habe mir während der 30 Tage in den USA versucht vorzustellen, wie ich heute in den USA klarkommen würde. Könnte ich meine ökologische Gesinnung mit dem amerikanischen Lebensstil überhaupt noch vereinbaren? Würde ich meine Werte langsam aufgeben, mir ein schönes Auto zu legen und es mir in diesem üppigen Land einfach gut gehen lassen? Anders ausgedrückt: Inwiefern bedingt mein Umfeld in Deutschland mein Verhalten?

Ich fuhr eines Abends mit einem Mietwagen von New Orleans nach Austin. Die Städte - ja, fast alles Menschengemachte - in den USA sind tagsüber nicht so schön (in der Natur erlebt man dafür wahre Weltwunder). Aber nachts erstrahlen die amerikanischen Städte wie Weihnachtsbäume.

Die Strecke zwischen New Orleans und Houston ist ein Ölgebiet. Man fährt an Orten wie Sulphur/Louisiana vorbei. In der Ferne sieht man nachts die Raffinerien. So hässlich sie tagsüber sein mögen, sie erhellen den Himmel in der Nacht wie riesige Raumschiffe. Sie sind nicht von dieser Welt.

Ich fuhr an riesigen Billboards, Werbeplakaten so groß wie ein Haus, vorbei. Links und rechts säumten sie die Autobahn, und die Beleuchtung erstrahlte im nächtlichen Winternebel wie ein Heiligenschein um die Werbebotschaften: "Echte Cajun-Küche! Texas-Portionen, Louisiana-Lächeln..."

Manche Kirchen haben sich den Kampf gegen den Teufel auf die Fahne geschrieben. Hier wandelt eine Kirche in New Orleans die farbliche Einstufung der terroristischen Gefahr für den Kampf gegen das Böse um. Foto: Lance Morris

Mein Mietwagen fuhr wie eine Rakete. Ich hatte ein Auto der "economy class" gemietet - und für meine Begriffe einen Rennwagen bekommen: den Dodge Neon. Einen kleineren Wagen als diesen 4-Türer mit 132 PS gab es offenbar nicht. So was nennt sich sparsam in den USA. Dafür hat der Wagen nur 25 USD pro Tag gekostet - mit Versicherung und unbegrenzten Kilometern.

Mit diesem economy-Rennwagen fuhr ich auch nachts durch Austin/Texas, auf erhöhten Schnellstraßen an den beleuchteten Hochhäusern der Innenstadt vorbei. Eine Welt scheinbar ohne Energieknappheit, in der der materielle Lebensstandard bedeutend höher ist als in meinem für deutsche Verhältnisse reichen Städtle Freiburg.

Ich konnte nachvollziehen, dass man in dieser Welt, die man die Vereinigten Staaten von Amerika nennt, daran glaubt, dass die Wirtschaft ewig weiterwachsen kann, denn man bekommt als Amerikaner vom Ende der Welt sehr wenig mit. Im Alltag erleben die Amerikaner neben all-you-can-eat&drink eine beinah endlose Ressourcenverschwendung, die ihre ästhetischen Reize durchaus hat. In den Nachrichten wird nur übers Ausland berichtet, wenn eine Katastrophe bereits ausgebrochen ist. Das Ausland erscheint vor allem als ein Ort, wo die Menschen nichts auf die Reihe kriegen und nur darauf warten, dass die Amerikaner einspringen und alles doch noch regeln.

Manta geht auf die Reise

Einem dieser Menschen, die die Welt vor sich selbst bald retten wird, bin ich während meines Aufenthalts begegnet: einem US-Soldaten namens Manta (Name geändert, damit seine Karriere, wie er selbst sagte, nicht versaut wird).

Während des Golfkriegs unter Bush Sr. 1991 habe ich als Deutschlehrer an der Universität von Texas einige US-Soldaten kennen gelernt. Sie waren alle ins Militär gegangen, um ihr Studium zu finanzieren. Sie sollten auch alle bald in den Irak gehen, und sie hatten alle Schiss davor. Manche hatten schon Familien. Ich werde einen Satz nie vergessen, den ein Student von mir sagte: "I don't want to die with sand in my teeth."

Ich habe deshalb mit Unverständnis beobachtet, wie das Militär seit 2001 scheinbar geschlossen hinter einem Oberbefehlshaber steht, der selbst noch nie im Krieg war, der aber anscheinend sorglos die Jugend des Landes an die Front schickt mit dem Kampfruf: "bring them on", ein Zitat, das eine Webseite zu Recht auf den ersten Platz der "50 dümmsten Sachen, die Bush in seiner ersten Amtsperiode sagte" hievte.

Wieso lassen sich die US-Soldaten von so einem Muttersöhnchen an die Front schicken, wollte ich von Manta wissen. Nun, erklärte er, das Militär sei schon sehr stark republikanisch, das wisse man. Unter den "einfachen" Soldaten sei die Begeisterung für Bush jedoch größer als bei den Offizieren, die die Entwicklungen der letzten Jahre mit zunehmender Besorgnis beobachteten.

Er selbst habe bisher nur die Grenzen seines Landes vor "Kaninchen und Coyoten" verteidigt, aber 2005 wäre es vermutlich soweit - er müsse dann in den Irak. Das tue er dann auch gerne, zwar nicht weil er die Politik seiner Regierung unterstützen würde, sondern weil er Kommandeur sei, und er müsse seine Jungs schützen, die er ja schließlich auch ausgebildet habe. Es seien nämlich tolle Kerle, zu denen er stehe. Er möchte keinen von ihnen verlieren.

Außerdem habe er einen Eid geschworen, und dazu stehe er auch. Das Eid bestehe einerseits darin, dass er die Befehle des Obersten Kommandeurs - des Präsidenten - ausführen werde; und zweitens, dass er die Verfassung des Landes schützen werde. Erst wenn der Präsident die Verfassung außer Kraft setzt, so Manta, würde das Militär nicht mehr geschlossen hinter dem Obersten Befehlshaber stehen, denn die zwei Elemente des Eids würden in Konflikt geraten.

Ich bewunderte seine Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit und wollte ihm alles Gute wünschen, aber da wollte er von mir noch etwas wissen. Wie könne er mit seiner Frau dieses Land verlassen?

Nun war ich doch etwas verdutzt. Aber nein, sagte er, er meint nicht sofort, er wolle nicht abtrünnig werden, sondern wenn er aus dem Irak zurückkommt, dann könnte er das Militär verlassen, und er und seine Frau würden gerne woanders leben - eben auswandern. Wie macht man das? Du hast es doch geschafft - du lebst in Europa!

"Wieso wollt ihr denn auswandern?" fragte ich die beiden. "Du willst dein Leben zuerst riskieren, Manta, und dann abhauen, wenn keine Gefahr mehr besteht?"

Nun, erklärten mir die beiden, der Alltag in den USA, das sei so eine Sache. Alle, die sie kennen, schuften den ganzen Tag, haben kaum Urlaub, keine Zeit, um das Leben zu genießen. Sie wollten irgendwo hingehen, wo die Menschen wissen, wie man das Leben genießt, statt nur zu arbeiten und zu konsumieren.

"Ihr wollt also nicht auswandern wegen irgendwelchen hohen politischen Idealen, sondern um einen besseren Alltag zu erleben?" fragte ich. "Genau", lächelten die beiden Turteltauben.

"Sehr vernünftig. Aber ich muss euch leider enttäuschen. Das Ausländersein, das ist auch so eine Sache. Nicht jedes Land nimmt Ausländer gerne auf. Ich erzähle mal, wie es mir in Deutschland ergangen ist..."

(Fortsetzung folgt)