Lübcke-Prozess: "Ohne Markus H. hätte es den Mord nicht gegeben"
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Für die Familie Lübcke und ihren Anwalt hat die Hauptverhandlung belegt, dass auch der zweite Angeklagte bei der Tat gegen den Kasseler Regierungspräsidenten dabei war
Oberlandesgericht Frankfurt/M.: Im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie dem versuchten Mord an dem irakischen Asylsuchenden Ahmad E. hat am Dienstag die Nebenklage ihre Plädoyers gehalten. Der Anwalt der Familie Lübcke befasste sich dabei über weite Strecken mit dem Angeklagten Markus H., den er für einen Mittäter hält. Warum sowohl die Bundesanwaltschaft als auch das Gericht das allen Indizien zum Trotz verneinen, ist das große Rätsel dieses Prozesses.
Der Hauptangeklagte Stephan Ernst hat gestanden, in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 den tödlichen Schuss auf Lübcke abgegeben zu haben. Zugleich sagte er wiederholt aus, Markus H. sei bei der Tat dabei gewesen. Motiv sei Lübckes Einsatz für Flüchtlinge gewesen, die 2015 in Deutschland Schutz gesucht und bekommen haben.
Überführt wurde Ernst durch den Fund von zwei Spuren seiner DNA am Hemd des Opfers. H. bestreitet, mit dem Mord etwas zu tun zu haben. Aber auch die Anklagebehörde beschuldigt ihn lediglich, E. allgemein im Tatentschluss bestärkt zu haben, was juristisch als "psychische Beihilfe" firmiert.
Das Gericht war im Laufe der Hauptverhandlung allerdings sogar vom Vorwurf der Beihilfe abgerückt und hatte am 1. Oktober 2020 den Haftbefehl gegen Markus H. aufgehoben und ihn aus der Untersuchungshaft entlassen.
Hier: "Mittäter und Mörder", dort: nicht einmal Helfer - in diesem weiten Feld wird um die Bewertung der Sachverhalte gerungen, die seit Juni 2020 in diesem Prozess zur Sprache kamen.
Der Tatverdacht
Der Tatverdacht gegen Markus H. macht sich für die Familie Lübcke und ihren Anwalt Holger Matt vor allem an den Aussagen des geständigen Stephan Ernst fest und an der Entwicklung, die der Prozess dadurch nahm. Ernst hatte nach einem Aufsehen erregenden Wechsel der Verteidiger gegenüber der Opferfamilie erklärt, er wolle die Wahrheit sagen und alle ihre Fragen beantworten. Das geschah auch. Dabei machte er immer mehr und genauere Angaben zum Tatgeschehen, die die Lübckes letztendlich für glaubwürdig, wahrheitsgemäß und widerspruchsfrei halten.
Darunter sind Details, die Beweiskraft entfalten können und die Holger Matt in seinem insgesamt etwa vierstündigen Schlussvortrag akribisch ausbreitete und einer juristischen Bewertung unterzog.
Lübcke, so Matt, müsse nach vorne geschaut haben, als ihn der tödliche Kopfschuss über dem rechten Ohr traf. Für ihn ein Indiz, dass zwei Täter anwesend waren: Der Schütze Ernst und H., der vor dem Opfer gestanden und es abgelenkt habe. Die zweite zentrale Frage, warum sich überhaupt Ernsts DNA auf dem Hemd von Lübcke befand, warum der ihn berührt habe, führe zum selben Schluss. Ernst gab an, Lübcke in seinen Stuhl zurück gedrückt zu haben, als der aufstehen wollte. Dabei muss er seine DNA hinterlassen haben. Für Matt ist auch das ein Beleg für einen zweiten Täter, der von vorne auf Lübcke zugekommen sein muss, während der den Schützen rechts von sich nicht bemerkte.
Dass Ernst hinterher das getroffene Opfer noch berührt habe, wie es zum Beispiel die Bundesanwaltschaft sehe, mache keinen Sinn. Nach der Tat gebe es für Täter nur eine Reaktion: sofortige Flucht.
Für belegt hält Matt weiterhin, dass H. zweimal bei der Auskundschaftung von Lübckes Wohnhaus in Wolfhagen-Istha dabei war. Aber auch Ernst selber und seine Aussage sei ein Beweis für die Anwesenheit von H., denn Ernst war dabei, er wisse, wie es gewesen sei.
Auffällig schließlich, dass beide - Ernst und H. - nach der Tat ihre verschlüsselte Kommunikation über den Messengerdienst Threema löschten - jeweils die gleichgroße Datenmenge.
Kritik des Anwalts der Opferfamilie: "Wo war der wehrhafte Staat?"
Matt kritisierte die Bundesanwaltschaft, die zwar mit Sorgfalt und Detailtiefe gearbeitet habe, aber bezüglich dem Angeklagten H. nur "ein Minimum" von dessen Tatbeteiligung anerkannt habe.
Mehr noch bemängelte er den Senat und dessen Vorsitzenden Thomas Sagebiel. Die Aufhebung der U-Haft für den Angeklagten H. sei für die Familie Lübcke ein "Hammer" gewesen, der sie "entsetzt" habe. Das umso mehr, als sie H. in fast jeder Minute des Prozesses grinsend erleben mussten.
Der Senat habe gezeigt, dass er von Ernst nichts halte, so Matt. Das passe aber nicht damit zusammen, dass der die Tat gestanden und alle Fragen beantwortet habe. Dessen Aussageverhalten sei der "gemeinsame Aufklärungserfolg" der Hauptverhandlung.
Holger Matt ging angesichts der "historischen Dimension" des Mordes an Lübcke, denn zum ersten Mal sei nach der Weimarer Republik ein Politiker Opfer von Rechtsradikalen geworden, auch auf die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik ein.
"Wo war der wehrhafte Staat, wo der Verfassungsschutz?", fragte er rhetorisch. Nach dem "NSU" dachte man, der Staat sei aufgewacht. Aber irgendwie habe es keiner gemerkt. Der Rechtsextremist H. habe sich unter den Augen des Staates und des Verfassungsschutzes bewaffnen können, ganz legal. Er sprach von einem "Komplettversagen" des Verfassungsschutzes bezüglich Ernst und H.
Auch das Umfeld und Personennetz, indem sich beide bewegten, sei nicht sorgfältig genug beobachtet worden. Strenggenommen hätte man im Mordfall Lübcke noch weitere Personen in den Blick nehmen müssen.