Lula vs. Bolsonaro: Warum die Wahl in Brasilien ein globales Ereignis ist

Seite 3: Souveränitätsanspruch gegenüber USA: Das Verhältnis zu China ist zentral

Vijay Prashad, Sie waren kürzlich in Brasilien. Wie beurteilen Sie die Bedeutung dieser Wahl? Inwieweit stimmen die Wähler eher für die Person Lula oder doch für die Arbeiterpartei als solche? Es gibt einige Berichte, dass seine Popularität viel größer ist als die seiner Partei, und zwar wegen all der jahrelangen Korruptionsskandale, die es gab, als die Partei an der Macht war.

Vijay Prashad: Lula ist eine außergewöhnliche Person, ein außergewöhnlicher Kämpfer, eine exzeptioneller Politiker. Ich habe über Lulas ersten Wahlkampf berichtet, als er in den 2000er Jahren zum ersten Mal gewann, war während seiner zweiten Präsidentschaft in Brasilien und habe dieses Jahr über einige seiner Kundgebungen und öffentlichen Auftritte berichtet. Ich hatte auch die Gelegenheit, kurz mit ihm zu sprechen. Er ist ein beeindruckender Mensch. Er ist außerordentlich charismatisch und berührt die Herzen der Menschen. Das ist es, was man in den Vereinigten Staaten wohl als "retail politics", als volksnahe Politik bezeichnet.

Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Redakteur und Journalist.

Außerdem kandidiert Lula auf einem noch stärker ausgeprägten linken Mandat. Er hat sehr deutlich gemacht, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Vordergrund seiner Präsidentschaft stehen werden. Er hat unterstrichen, dass er Brasilien wieder zu einem wichtigen Akteur im Prozess der südamerikanischen Integration und bei der Wiederbelebung der BRICS machen will.

Man sollte sich jetzt auf die Pläne konzentrieren, die Lula zu unterminieren versuchen. Natürlich sind es die Militärs, aber wir müssen darauf achten, was die Frage der Strafverfolgung betrifft. Eine Sache, die ich im Gespräch mit Fernando Haddad gelernt habe, der 2018 für das Präsidentenamt kandidierte und jetzt Gouverneur des Bundesstaates São Paulo ist, ist es, bei einer Wahl Lulas auch eine Mehrheit im Parlament zu erhalten, um sich vor einem Amtsenthebungsverfahren schützen zu können.

Denn was mit Präsidentin Dilma Rousseff passiert ist, geht allen durch den Kopf. Man kann eine Wahl gewinnen, man kann eine Agenda durchsetzen, aber man wird vom Parlament abgesetzt, das eine sehr rechtsgerichtete Politik verfolgt. Daher ist die Legislative und der Schutz vor einer Absetzung so wichtig. Und hier kommt die Einschätzung der Arbeiterpartei ins Spiel. Wird die Partei stark genug sein, um ihre Kandidaten landesweit zu wählen? Oder wird sie sich wieder nur darauf verlassen, die Präsidentschaft zu gewinnen? Die Frage des Parlamentssiegs ist also entscheidend.

Wenn Lula dieses Mal ins Amt kommt, hat er bereits versprochen, eine Diskussion über eine lateinamerikanische Währung namens Sur zu beginnen. Das wurde bereits unter Hugo Chávez ausprobiert und hieß Sucre. Aber der Sur, wenn Brasilien seine beträchtlichen Ressourcen dafür einsetzt, wird eine wirklich wichtige Entwicklung für Lateinamerika bedeuten.

Wir müssen verstehen, dass, wie Noam sagt, die Menschen in der Welt dagegen sind, von den Vereinigten Staaten oder ihren Verbündeten herumgeschubst zu werden. Die Menschen suchen nach einer anderen Art von Führung. Und der Respekt, den Lula genießt, den die anderen Staatsoberhäupter, sagen wir, in den BRICS-Ländern nicht haben, dieser Respekt, den Lula genießt – Lula ist der erste brasilianische Präsident, dessen Name in anderen Ländern des globalen Südens bekannt ist: Er kann dieses Ansehen nutzen, um eine multilaterale Agenda in der Weltpolitik voranzutreiben.

Ich denke, das wird von großer Bedeutung und Wichtigkeit sein. Als er in den 2000er Jahren an die Macht kam, war die Stimmung in der Welt anders. Jetzt sehen wir in Südafrika, sogar in Indien, das von einer rechtsgerichteten Regierung regiert wird, wie sich die Tonlage ändert: "Wir werden uns nicht an den Kriegen in Europa beteiligen. Wir haben unsere eigenen Probleme. Wir haben unsere eigenen Konflikte." Ich glaube, dass eine Präsidentschaft von Lula die BRICS wiederbeleben wird. Seine Person steht für Verbindlichkeit, Liebe und Respekt, die er in die Weltpolitik einbringen wird.

Vijay, wie beurteilen Sie die Tendenz zu einer multilateralen Welt, die auch in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, vor allem durch die Investitionen, die China dort tätigt. Das ermöglicht es vielen Regierungen, ob von der Rechten oder der Linken, unabhängiger von Finanzierungen, Krediten und Investitionen aus den USA und Europa zu agieren. Bei einem Wahlsieg Lulas: Welche Auswirkungen wird das auf das Engagement China in lateinamerikanischen Volkswirtschaften haben?

Vijay Prashad: China ist auch während der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro weiterhin ein wichtiger Handelspartner Brasiliens gewesen. Bolsonaro war sehr vorsichtig, China nicht frontal anzugreifen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Aufnahme von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und den meisten Ländern Lateinamerikas unvermeidlich ist.

Es gibt einen Grund, warum sich ein Land wie Argentinien Chinas Neuer Seidenstraßen Initiative angeschlossen hat. Das liegt daran, dass die Chinesen über Investitionskapital verfügen. Die Chinesen haben einen großen Markt für die in Lateinamerika produzierten Rohstoffe. In gewisser Weise bietet China diesen Ländern in Bezug auf Handel, Entwicklung, Investitionen usw. viel mehr als die Vereinigten Staaten.

Die Vereinigten Staaten haben in der letzten Zeit, seit Trump, versucht, Ländern in Lateinamerika zu sagen, dass sie den Handel mit China einstellen sollen. Das geschah zum Beispiel mit El Salvador im Zusammenhang mit einem Geschäft für einen Pazifikhafen. Die Vereinigten Staaten versuchten, die Regierung von El Salvador dazu zu zwingen, ein Abkommen mit den Chinesen zu brechen – und hatten damit tatsächlich Erfolg.

Interessant ist, dass China niemanden dazu auffordert, Geschäfte mit den Vereinigten Staaten abzubrechen. Argentinien, ein Partner im Rahmen der Neuen-Seidenstraßen-Partnerschaft, hat sich dieses Jahr wieder an den Internationalen Währungsfonds (IWF) gewandt – ein sehr schlechtes Geschäft übrigens, das noch mehr Kontrollen und noch mehr Sparmaßnahmen für das argentinische Volk mit sich bringt.

Lula hat deutlich gemacht, dass er Bolsonaros Politik im Sinne des Handels mit China fortsetzen werde. Aber es wird eine freundlichere Haltung gegenüber China geben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass, wenn es zu einer Wiederbelebung der BRICS kommt, dieser Versuch, die Länder Eurasiens, insbesondere China, zu dämonisieren, weniger Gehör finden wird, als es jetzt noch der Fall ist.

Es ist sehr bedauerlich, dass die Vereinigten Staaten eine Art Dämonisierungspolitik betreiben, indem sie behaupteten, die Chinesen seien darauf aus, den Menschen etwas zu stehlen und so weiter. Das ist keine glaubwürdige Argumentation in Ländern, in denen sich die Chinesen engagieren. Sie legen über die People's Bank of China Geld auf den Tisch und machen Devisentauschgeschäfte. Sie sagen: "Ihr müsst nicht sparen. Hier ist Investitionsgeld." Es ist nicht glaubwürdig, wenn die Vereinigten Staaten nun daherkommen und behaupten: "China will Euch Euer Haus stehlen". Das ist kein überzeugendes Argument. Aber es schafft eine Menge Unsicherheit und Spannungen in den Ländern.

Wenn Lula oder Leute wie Gustavo Petro in Kolumbien an die Macht kommen, die eine unabhängige Außenpolitik für ihr Land anstreben, dann werden die wissen, dass nächstes Jahr, 2023, das 200-jährige Jubiläum der so genannten Monroe-Doktrin ansteht (mit ihr erhoben die USA Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anspruch auf Lateinamerika gegenüber den europäischen Kolonialmächten, Telepolis). Sie wollen über die Monroe-Doktrin hinausgehen. Sie werden sich erinnern, dass Joe Biden sagte, Lateinamerika sei nicht der Hinterhof der Vereinigten Staaten, sondern der Vorhof der Vereinigten Staaten.

Um Himmels willen, Präsident Biden, Lateinamerika ist niemandes Vorgarten. Es handelt sich um souveräne Länder, denen es gestattet sein muss, ihre eigenen Beziehungen zu gestalten, sei es im Bereich des Handels oder der politischen Beziehungen. Die Vereinigten Staaten können nicht weiterhin, wie Noam sagt, den Paten spielen und den Ländern sagen, was sie zu tun haben.

Bitte beachten Sie die Lizenzbedingungen von Democracy Now. Übersetzung: David Goeßmann.

Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad hat er gerade veröffentlicht: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".

Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Redakteur und Journalist. Er ist Stipendiat und Chefkorrespondent bei Globetrotter. Er ist Herausgeber von LeftWord Books und Direktor von Tricontinental: Institute for Social Research. Prashad ist Senior Non-Resident Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies der Renmin University of China und hat mehr als 20 Bücher geschrieben, darunter "The Darker Nations und The Poorer Nations". Zusammen mit Noam Chomsky hat er gerade veröffentlicht: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".

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