Mach Dir einen Reim drauf

20 Jahre Hip Hop in Deutschland

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Wie über Hip Hop schreiben? Die Gretchenfrage, die sich jedem Chronisten der - zumal deutschen, und daher doppelt anrüchigen, aber davon später mehr - Sprechgesangskultur stellt, konnte bislang noch niemand überzeugender beantworten als Hannes Loh und sein kongenialer Schreib-Partner Sascha Verlan.

Wenn sich akademische Analysten im Zuge wissenschaftstheoretischer Modeschwankungen immer wieder mal bemüßigt fühlen, Hip Hop als schlicht die postmoderne Kulturtechnik darzustellen (Scratching, Bedeutungsverdrehung etc... ), so entpuppen sich ihre Analysen in den allermeisten Fällen als bestenfalls originelle Rechtfertigungsstrategie für den eigenen Musikgeschmack. Dass der Verfasser dieser Zeilen sich im Rahmen von Cultural-Studies-Seminararbeiten selbst dieser Technik befleißigte, steigert seinen Respekt vor dem mehr als gelungenen Projekt der beiden hier zu besprechenden Autoren nur.

Dem Hannibal Verlag können hiesige Hip Hops dafür danken, dass er LJ (so der Rapper-Name von Hannes Loh, einst aktiv bei "Anarchist Academy") und SV ein Forum für ihr teils archäologisches, teils projektives Werk geboten hat. Ein Schatzkästlein, reich an Anekdoten und Anekdötchen ist das Buch zum Glück nicht geworden, und sogar die wenigen lustigen Begebenheiten werden seziert und kritisch hinterfragt. Vielmehr geht es den Autoren um die sehr persönliche Darlegung eines kulturgeschichtlichen Stranges, dessen vielfältige Emergenzen die beiden Autoren für ihre Leser transparent machen möchten.

Ohne sich übermäßig lange mit definitorischem Kleinkram aufzuhalten, finden die Autoren zu gemeinsamen Nennern, die so klein sind wie noch nie zuvor. Battle-Kultur als Aggressions-Methadon, Hip Hop als Transportkanal, aber vor allem in der Tradition des Do-It-Yourself, der Zusammenhang der verschiedenen Ingredienzien (Rap, Graffiti, Breakdance, DJing) - alles wird transparent und nachvollziehbar. "20 Jahre Hip Hop in Deutschland" ist ein spannendes Geschichte-zum-Anfassen-Buch über ein Thema, zu dem sich bislang nur wenige Chronisten äußerten.

Dazu befleißigt sich das Autorenduo auf seiner wundersamen Reise einer Reihe verschiedener Stilmittel: die Protagonisten, darunter sogar längst verschollen geglaubte, erzählen, wie sie Hip Hop in Deutschland (groß) gemacht haben, und spätestens nach den ersten paar Kapiteln wird die New School Fans von heute eine unangenehme Erkenntnis wie der sprichwörtliche Blitz treffen: all die großen Daten und Meilensteine hängen nicht als von der Industrie geschaffene Trends in der Luft, um dann von trennungswilligen Möchtegern-Subkulturalisten in Beschlag genommen zu werden, nein, das große Ganze lässt sich an einzelnen Personen festmachen. Da gab es Helden wie Tricks, Torch, Cutsfaster, Ma, Rock da Most... Missionare wie Gawki, die in quasi unermüdlichem Einsatz ein loses Netzwerk schufen, das heute Grausamkeiten wie "Die 3. Generation" als Spätfolge erst ermöglicht.

Von dieser Erkenntnis ist es nur ein kleiner Schritt zur Reue: wie ließ sich eine heilige Vierfaltigkeit bloß auf Rap reduzieren, der doch, so Cora E "nur ein Teil der Kultur" ist. Warum dies geschehen ist und wodurch sich die ersten Jams von den durchgeplanten Festivals mit den Bühnengräben von heute unterscheiden, erklären Loh und Verlan erstaunlich wehmutsfrei und mit von rosaroter Retro-Romantik ungetrübter Brille. Primärliteratur darf dabei nicht zu kurz kommen, und in der Auswahl der analysierten Texte und Textstellen manifestiert sich einmal mehr die profunde Sachkenntnis der beiden Schreiber.

Wir waren mal Stars...

Loh und Verlan machen verständlich, warum Torch, Mitbegründer der ersten ernstzunehmenden und breitenwirksamen Formation "Advanced Chemistry" heute rappen muss:

"Wir waren mal Stars - Toni L im Anzug und Torch in Ledermontur, wir glaubten so stark an die Hip Hop Kultur."

Und zugleich zeichnen die beiden die Bruchlinien und Übergänge von New zu Old School nach, archäologische Feinarbeit, für die sogar im kontemporären Business Bedarf besteht: Nicht ohne gedachtes hämisches Grinsen sei darauf hingewiesen, dass ein Neo-Star wie Afrob Old-Schooler vor seinen Konzerten über die Anfänge sprechen lassen möchte. Aber interessiert sich das Publikum dafür?

Was Torch, Boulevard Bou, Cora E und andere als drogen- und aggressionsfreie Jugendkultur in der Zulu Nation sorgfältig planten, ging als kräftiger Rohrkrepierer nach hinten los: als spaßfeindlich und uncool wurde ihre Einstellung schon bald empfunden, und das vermutlich nicht zu Unrecht, wenn sich Torch beschwert, dass sich Hamburger Newbies die "Absoluten Beginner" nennen. Dass sie ihm damit keineswegs seine Brotkrumen klauen wollen, sondern von ihrem eigenen Status innerhalb einer existierenden Kultur sprechen, ist bezeichnend für den verkrampften Umgang einiger mit allen - der dann, sehr zum Missfallen der grauen Eminenzen, erst von selbsternannten "Hip Hop Clowns und Party Rappern" wie Tobi und Bo (jetzt 5 Sterne Deluxe) durchbrochen wurde, wenn nötig mit Nonsens wie selbstgestrickten DJ-Puppen. Wie ein roter Faden ziehen sich die Fantastischen Vier durch das Buch. Wichtig, unwichtig, Pop allemal, und eigentlich nur Auslöser, aber weit davon entfernt, Macher zu sein - was daneben alles zu kurz kommt, könnte etliche Band-Monographien füllen, Stoff für Legenden liefern, wäre aber nicht essentiell. Und genau darin besteht die Leistung dieses Buches.

Is it real Son, is it really r.e.a.l., Son?

Hannes Lohs Markenzeichen war schon während seiner Zeit als Frontsau im Krieg um Meaningful meaning die innerliche wie äußerliche Distanzierung von Klischees. Anarchist Academy können wie weiland berüchtigte Punk-Bands mit Auftrittsverboten protzen, sahen Hip Hop als Medium für einen spezifisch-politischen Dialog an - nicht umsonst wird im Buch mehrmals die Frage thematisiert, ob Hip Hop ein Medium zum Transport beliebiger Botschaften sei. Anarchist Academy, inzwischen geschrumpft und wesentlich hit-kompatibler als damals nun unter "Doppel A" firmierend, waren weder produktionstechnisch noch von ihren Reim-Skillz her herausragend, aber immerhin zutiefst R.E.A.L.

Natürlich muss der Topos der Realness in vorliegender Abhandlung immer wieder behandelt werden, müsse Wege nachgezeichnet werden, die das alte Spiel Aus-dem-Untergrund-in-die-Charts neu exemplifizieren, mitsamt allen Feedbacks, die der hart ersehnte Erfolg einer Band bringt. Symptomatisch, dass LJ die Academy verlassen hat, sein allzu scharfer Blick macht ein wohlwollendes Überleben im Pop-Business denkbar schwer. Das macht schon sein Statement in der Einleitung klar:

"Seit 1995 habe ich immer wieder in Artikeln, Interviews oder Texten versucht, Kritik anzubringen und auf bedenkliche Tendenzen hinzuweisen. Nur sehr wenige wollten das hören."

Ein 1998 veröffentlichter Text, in dem er sich mit faschistischen Tendenzen in Rap-Lyrics beschäftigt, sorgt für derben Widerstand aus der Szene. Frauen, Rassismus, Schwulen-Gedisse - dort weiterzubohren, wo sich andere nach ebenso fadenscheinigen wie schwachsinnigen Erklärungen á la "It's all signifying und deshalb nicht so tragisch" zurücklehnen und den Finger in die Nase stecken, ist Schreiben über, mit und im Hip Hop und damit unendlich mehr Teil der Kultur als diese Legionen von Fakern, die den Kids täglich erzählen wollen, was für harte Gangsta-Parodien sie verkörpern. Mad Props to SV and LJ!

Sascha Verlan & Hannes Loh: 20 Jahre Hip Hop in Deutschland. Höfen 2000, Hannibal Verlag