Macht Fernsehen blöd und der Computer schlau?
Die PISA-Studie und die Medien
Aufruhr in Klassenzimmern und auf den Fluren der Unterrichtsministerien, heftiges Rumoren am Stammtisch und in Elternbeiräten, nackte Angst bei SchulleiterInnen und in der Verwaltung: Seit am 4. Dezember 2001 die ersten Ergebnisse des OECD-Projekts PISA (Program for International Student Assessment) publiziert wurden, ist die schulische Welt Deutschlands noch mehr in Unordnung als bislang angenommen. Zwei Wochen nach den per Internet verbreiteten Ergebnisberichten waren alle Unterlagen als Buch1 verfügbar, was zwar am Gesamtbild nichts änderte, aber die Details deutlicher werden ließ. Obendrein ist das jetzt Publizierte nur ein Vorbericht aus den international erhobenen Daten. Die eingehenderen deutschen Zusatz-Fragebögen werden noch ausgewertet; deren Ergebnisse werden für den Winter 2002/03 erwartet.
Dann heißt es wohl nicht mehr wie in einem deutschen Intelligenzblatt Die Schule brennt, dann ist die Schule wohl bereits abgebrannt. Zunächst ein Mal ist das liebevoll gehegte Bild vom Volk der Deutschen als dem der Dichter und Denker weitgehend zerstört. Die Leistungen in den drei Kernfächern, die die Studie untersuchte - Reading, Mathematical, Scientific Literacy, nur unzureichend mit Lese-, mathematischen und naturwissenschaftlichen Fertigkeiten zu übersetzen -, sind nicht nur unterdurchschnittlich, sondern teilweise katastrophal und werden nur noch von Schwellenländern wie Brasilien und Lettland unterboten. Als Glück im Unglück ist anzusehen, dass der Schwerpunkt der ersten Untersuchung - drei werden es bis 2006 insgesamt sein - das Lesen und nicht die Mathematik war; das Ergebnis wäre noch schlechter ausgefallen.
Prinzipiell erschütternd sind nicht allein die unterdurchschnittlichen Leistungen, d.h., die Tatsache, dass nur etwa 30% deutscher SchülerInnen die Leistung erbringen, die in Ländern wie Korea, Japan und Finnland von mehr als der Hälfte abgeliefert werden. Als wesentlich schlimmer zu beurteilen sind die extremen Streuungen, mit der diese Unterdurchschnittlichkeit beobachtet wurde - deutsche SchülerInnen sind in ihrem Leistungsspektrum absolut unberechenbar, unvorhersehbar und dauerhaft unzuverlässig. Solange es sich um politische Inhalte und ästhetische Kategorien handelte, wäre dies ja ein subversiv großer Vorteil; dann kämen gerade die unerwarteten Arbeiten aus diesem Land. So aber heißt das Ergebnis, dass deutsche Manpower eine Größe ist, die in Zukunft vernachlässigt werden kann - und das bei einem Land, das bislang fast nichts Anderes exportiert hat, von etwas Feinmechanik und Optik abgesehen. Selbstverständlich: die Häme folgte auf dem Fuße. Kaum ein Blatt unterließ es, neben der Schelte schnelle Ideen zur Verbesserung der Situation fallen zu lassen, von der verbesserten Lehrerausbildung über kleinere Klassen zum Fremdsprachenunterricht im Kindergarten.
Nach der Diagnose folgte die Schuldzuweisung: Eltern beschuldigen Kinder und Lehrer, diese die Eltern und die Schulbehörden, jene wiederum die Eltern und Politiker, und von dort heißt es, dass an allem nur die Verbeamtung der Lehrer schuld sei. Da alle Schreibenden und Lesenden wissen, dass derlei Schulden nur noch als Münze zirkulieren wie die alte DM, wurde weiter gesucht, und alsbald waren die Schuldigen gefunden: die Medien, vor allem das Fernsehen verblöden die Kinder.
Die schnellen Bosse der deutschen Wirtschaft wussten es als Erste, und die unteren Chargen beten es nun als LeserbriefschreiberInnen in der Lokalpresse nach. Deutsche Kinder haben einen zu hohen Fernsehkonsum, setzen sich gewaltverherrlichenden Spielen zu lange aus, sind zu wenig bereit, sich mit einem guten Buch in die Lese-Ecke zu verziehen. Das letzte Argument ist als klassischer Fallrückzieher mit dem Effekt des Eigentors zu bezeichnen: Selbst didaktische Rahmenpläne sortieren das Lesen unter die schwierigen Tätigkeiten ein - und von Reading Societies hat hier zu Lande noch niemand je gehört, ein paar Universitäten ausgenommen.
Dass ein deutscher Manager seine Reden mit Zitaten aus Literatur und Geisteswissenschaft würzt, gehört ebenso zu den Seltenheiten wie Politiker als Verfertiger stilistisch gekonnter Essays. Glücklicher Weise sind wenigstens die meisten Volkshochschulen inzwischen mit Kursen zur Alphabetisierung ausgestattet; eine notwendige Minimalvoraussetzung, die in diesem Kontext schon ein wenig gruseln lässt.
Nur zögernd wurden Computer und Internet an Schulen eingeführt
Die PISA-ForscherInnen wären ihr Geld nicht wert, wenn sie sich von den Voraussetzungen wie Ergebnissen her nicht mit dem Thema Medien auseinander gesetzt hätten. Sie orientierten sich an der Studie Klaus Hurrelmanns zum Video-Gewalt-Konsum aus dem Jahr 1993, die in ihrer Analyse bis heute unübertroffen geblieben ist: Nur exzessiver Konsum allerschwerster Gewaltdarstellung hat direkte Auswirkungen auf das soziale Verhalten, alles Andere manifestiert sich als Mix aus sozialen, psychischen und ökonomischen Ursachen heraus. Die PISA-Leute haben auch die angebliche Ungewohntheit der Multiple-Choice-Klausur und die ebenso angebliche Unlust deutscher SchülerInnen, an Übungen wie PISA mitzumachen, durch Begleitstudien im Vorfeld ausgeschlossen. Aus der gemeinsamen Betrachtung beider Aspekte ergibt sich für die Rolle der Medien im allgemeinen, funktional auf Erwerb von Fertigkeiten ausgerichteten Erziehungsprozess ein differenziertes Bild.
Die Nutzung von Computern und Internet im schulischen Unterricht hat in Deutschland ungebührlich lang auf sich warten lassen.2 Daran hat nicht allein die früher von mir unterstellte Unlust deutscher PädagogInnen zur Einführung dieser Instrumente in ihre tägliche Arbeit Schuld, sondern sicher auch das Beharren eines Distributionssystems von Schulbüchern und Lehrmaterialien auf gedrucktem Papier - und wer ein deutsches Mathematik-, Physik- oder Chemie-Lehrbuch anschaut, wird schnell gewahr, dass allgemeine Lesekompetenz in diesen Werken nicht gefördert wird.
Nicht einmal der so oft gescholtenen Wirtschaft ist hier ein Vorwurf zu machen. Hervorragende Software, die kostenlos zur Verfügung gestellt wird wie etwa das Verkehrsleit-Lernspiel Mobility von DaimlerChrysler, ist nur in geringen Stückzahlen abgerufen worden und wäre völlig unbekannt geblieben, wenn es nicht seinen Weg auf einige Free- und Shareware-CDs gefunden hätte. Ähnliches gilt für eine Reihe von perfekt produzierten Angeboten im Bereich Politik und Zeitgeschichte aus den verschiedenen Länder- oder Bundeszentralen für politische Bildung, die nur in geringen Stückzahlen abgerufen werden.
Klar, es hat lang gedauert, bis jede Schule ihren Computer-Raum hatte, ihre Netzwerke konfiguriert, ihre Internetanschlüsse gelegt und finanziert hatte; und fünf Jahre nach der ersten Begeisterung fehlen die Mittel für Aufrüstungen, Verbesserungen, Reparaturen. Hier macht sich im internationalen Vergleich sicher eine weitere Umverteilung der Kosten extrem negativ bemerkbar: Mit dem ewigen Geschrei nach Senkung der Lohnnebenkosten nimmt die deutsche Industrie den Kommunen und Ländern die finanziellen Grundlagen für ein brauchbares Bildungssystem weg, während in den hochgelobten Ländern Japan, Korea und - sowieso - den USA das Schulgeld (samt Beförderung und Verpflegung der Kinder) ein fester Bestandteil eines jeden Arbeitsvertrages ist. In zunehmendem Maße gilt dasselbe für Finnland und Großbritannien, für Spanien und seit neuem teilweise auch für die Niederlande, mit jeweils leicht anderen Schwerpunktsetzungen in der Ausführung - etwa der kostenlosen staatlichen Beförderung von SchülerInnen und StudentInnen in den Niederlanden mit Patenschaftsverträgen von Firmen für Schulen. Dergleichen Modelle lassen sich mit ein wenig Phantasie in vielen Variationen erstellen. In Japan und Korea wiederum haben die extremen Grundstückskosten viele Familien die Konsumenten-Flucht nach vorn antreten lassen; hier sind Laptops schon seit den mittleren 90er Jahren fester Bestandteil eines jeden Kinderlebens. Das Geld, das in den genannten Ländern jeder einzelnen Schule für mediale Arbeitsmittel zur Verfügung steht, kann deutschen Rektoren die Tränen in die Augen treiben - vor Wut wie Scham.
Im Humboldtschen Bildungsideal waren Medien nicht vorgesehen
Doch das ökonomische Argument erklärt nur ein allgemein schlechtes Abschneiden, nicht die extreme Streuung der Ergebnisse. Die mögen einerseits auf den noch nicht abgeschlossenen Prozess im Hinblick darauf, ein Einwandererland zu sein, verweisen - und das ist zu Recht in fast allen Berichten zur PISA-Studie thematisiert worden - , sind aber andererseits Ausdruck eines grundsätzlichen Problems im Humboldtschen Bildungsideal, das jede Medialität des Lernens leugnet.
Mit der Säkularisierung parallel zur Französischen Revolution ging ein tiefgreifender Bildersturm einher, der sich nicht auf das Abreißen und Ausplündern großer Klöster und ihrer Kirchen - von Cluny bis Ottobeuren - beschränkte, sondern die kritische Vernunft als bildlos instrumentalisierte. Nichts sollte mehr als Spur übrig bleiben, wenn große Denker ihre Ideen spannen; der reine Gedanken in einem schmucklosen Buch, das war das Ideal der Romantiker und Idealisten. Da waren schon Sokrates und Phaedrus weiter gewesen, denn sie hatten sich zum Diskurs umsichtig ein schönes Plätzchen in den Ölhainen und Weinhängen Attikas gesucht. Doch Kant und Schopenhauer, Fichte und Hegel kamen daher wie weiland die protestantischen Wanderprediger, das Pamphlet war formal ihr Ideal, der Anzug verschlissen, die Frisur wirr, der Habitus weltfremd.
Die Medien, bildlich wie akustisch, waren jedoch für's Volk und wurden von ihm durch Kaufkraft eingefordert: Panorama, Manege, Zoo, Jahrmarkt, Photographie, Stereoskop, illustrierte Wochenblätter, Grammophon und schließlich Film zollten und forderten ihren Tribut an ästhetischen Überschüssen, an Allegorie, Groteske, Ornament und Symbol. Zu deren Distribution entwickelte sich aus handwerklichen Anfängen eine Multimilliarden-Dollar-Industrie, aus den Intentionen philanthropischer Volksbildung wurden Infotainment, Disneyland und schließlich die Quizshow mit verteiltem Wissen per Multiple-Choice-Abfrage. Wobei Letztere bereits wieder die PISA-Situation darstellt, also die Lust am Wissen besonders gut hätte vorführen müssen. Schief gelaufen - im Sinne der Absätze an den Schuhen wie der Paragraphen in schulischen Curricula - ist innerhalb dieser Entwicklung allerdings ein spezifisch deutsches Problem: der mangelnde Ausgleich zwischen Ideologie und Pragmatik. Und der zeigt sich überdeutlich im Umgang mit Bildern als Teil von Bildung.
Bilder zum Lernen unter den Bedingungen der einer Aufmerksamkeits- und Wissensökonomie
Wer die Unterrichtsmaterialien amerikanischer und skandinavischer Kindergärten kennt, hat den Unterschied zur deutschen Praxis gleich vor Augen. Keine Angst vor Plastik, keine Bange vor komplexen Aufgaben, starke Farbigkeit - nicht nur das anthroposophische Orange - und schnelle Beglückung durch Erfolg kennzeichnen Vorschulspielzeuge dieser Länder. Ein fester Tagesablauf, der auch die elterliche Verantwortung zu rechtzeitiger Kinderablieferung und gut terminierter Abholung einschließt, mit bedarfsgerecht eingeplanten Essenszeiten führt die Kinder unmerklich in situative Bedingungen einer Aufmerksamkeits- und Wissensökonomie ein. In diese Regelung fallen auch klar definierte Zeiten von gemeinsamem Medienkonsum und individueller Medienaktivität, die in dieser Form von den Kindern als deutlich getrennt erlebt werden. Nur setzt ein solcher Umgang mit Medien auch technische Kompetenz voraus, die hierzulande kaum erwartet werden kann und darf.
Wesentlicher Faktor japanischer und amerikanischer Vorschulerziehung - die hier nur als paradigmatisch für mediale Verhaltensformen herangezogen werden, nicht etwa aus einer unreflektierten Begeisterung heraus (derlei Unterstellungen prägen deutsche Bildungsdebatten ja schon seit Jahrzehnten und sind im PISA-Umfeld nur noch schärfer geworden) - ist die Trennung von Lesen und Schreiben. Alle kognitionstheoretischen Überlegungen der letzten Jahrzehnte gehen dahin, dass frühe Leseübungen einer bildhaften, ikonischen Einprägung von Worten entsprechen; in der deutschen Ganzheitsmethode war dies ja auch Grundlage gewesen, nur von den ErzieherInnen in der Praxis derart heftig hintertrieben worden, dass die Methode insgesamt in Verruf geriet. Bei der PISA-Studie haben sich gerade jene Länder in der Literacy-Qualifikation bewährt, die vor rund zehn Jahren - auf Grund der Inkompatibilität ihrer Schriften zum westlichen Englisch als lingua franca - neue Leseformen eingeführt haben: Korea und Japan.
Das Beispiel lässt sich in alle (vor- und) schulischen Wissensgebiete übersetzen: Wo Bilder sind, helfen sie schneller und direkter memorieren, verlangen aber eine andere Struktur der Vor- und Aufbereitung. Es gibt derzeit keine schnelleren und weiter reichenden Bildermedien als das Fernsehen und das Internet, die sich in dieser Hinsicht bislang auch noch perfekt ergänzen und in Bälde wohl zusammenfallen. Das Fernsehen liefert die Bilder frei Haus, und nicht nur Durs Grünbein wundert sich darüber, dass Paul Virilio seit dem 11. September 2001 kein Fernsehen mehr sehen mag.3
Die Initiative zum Bildersehen wird natürlich geübt, von der Fokussierung der Mutter über die Drehung des Bildes zum aufrechten Gang bis zu den medialen Einflüssen, die heute selbstverständliche Bestandteile der kindlichen Umwelt sind. Dieser Aufweckung durch Bilder folgt die Bearbeitung, zunächst die Verschiebung in die Raster der verschiedenen Speicher namens Gedächtnis und dabei die Harmonisierung des Einzelnen zum Ganzen. An dieser Stelle setzt Lernen ein, strukturiert - über das mittelalterliche Trivium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik - das Gesehene und macht aus der oder dem naiv Erfahrenden eine oder einen reflektierten Erwachsenen.
Insofern stimmt das PISA-Ergebnis - und doch nicht. Schule setzt zu spät ein und ist grundsätzlich unbildlich. Das Trivium ist eben nicht trivial; die LehrerInnen sind im Umgang mit Bildern schlecht erzogen - also nicht ausgebildet - und miserabel motiviert. Über das 'Guck hin' ist eine sprachliche Reflexion auf das Gesehene nicht zu leisten; und wer sich einmal die im Netz angebotenen Essentials zum Lesen und Schreiben entsprechender Grundschuldidaktiker anschaut, muss wieder feststellen, dass der Umgang mit Bildern peinlichst vermieden wird.
Für Didaktiker und Pädagogen scheinen Bilder nur Metaphern zu sein, lange nach dem Spracherwerb zu bearbeiten, möglichst nur in schriftlicher Form. Damit kann im Internet ebenso wenig operiert werden wie vor dem Fernsehbildschirm und sind Missverständnisse geradezu vorprogrammiert. Für die deutsche Industrie passt auch dieses Bild wieder: In Zeiten größerer Streikandrohungen ist bildhaftes Handeln sehr gefragt: "Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will" als gegenseitiges Zitat. Nur: Von wem der Satz stammt, haben Alle vergessen. Auch ein PISA-Problem?