Machteliten: Von der großen Illusion des pluralistischen Liberalismus
Auch 60 Jahre nach seinem Erscheinen hat Charles Wright Mills' Buch "The Power Elite" nichts an Brisanz verloren
Sein Name: Charles Wright Mills. Sein Geburtsort: Austin, Texas. Sein Beruf: Soziologe. Seine Berufung: Seine Aufgabe als kritischer Gesellschaftswissenschaftler ernst zu nehmen.
Wer kennt heute noch den Namen dieses Mannes, der 1956 durch sein Buch "The Power Elite" die Machtelitentheorie begründete? Obwohl Mills längst ein Klassiker der Soziologie ist, scheint die Arbeit des unangepassten Professors von der Columbia Universität in Vergessenheit geraten zu sein. Das ist bedauerlich, denn: Mills hat nichts Geringeres getan, als den demokratischen Charakter der USA auf den Prüfstand zu stellen. Dabei erkannte Mills: Trotz formal vorhandener demokratischer Strukturen hat sich eine Machtelite formiert, der es gelingt, demokratische Prozesse auszuhebeln.
Die Theorie der Machtelite ist heute, 60 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, aktueller denn je. In ihr finden sich die Schlüssel zum Verständnis einer aus guten Gründen gerade sehr aktuellen Diskussion über das Verhältnis zwischen Eliten und Bevölkerung.
"Das vorliegende Buch von C. Wright Mills ist vielleicht das aufschlußreichste, das nach dem Kriege über die Vereinigten Staaten von Amerika geschrieben wurde." Mit diesen Worten beginnt eine Vorbemerkung des Verlages zur deutschen Ausgabe von Mills' Werk über die Machtelite, das 1962 hierzulande auf dem Markt erschien. Die Aussage scheint hochgegriffen, doch wer das Buch des Professors, der eine Vorliebe für Motorräder hegte, liest, wird schnell feststellen: Hier hat jemand eine so grundlegende Arbeit geleistet, dass die Meinung des Verlages nicht einfach von der Hand zu weisen ist.
Mills hat es gewagt, sich der vorherrschenden Gelehrtenmeinung im Hinblick auf die Demokratie in seinem Land zu widersetzen. Er, der in dem Jahr, in dem sein Buch auf Deutsch erschienen ist, im Alter von 46 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, hat das getan, was eine kritische Soziologie eigentlich immer leisten sollte, was sie aber schon seit vielen Jahren kaum noch tut: Bestehende Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen, einen kritischen Blick auf die Weichensteller in den Gesellschaften zu werfen und die verborgenen Mechanismen der Macht freizulegen.
Mills durchbrach mit "The Power Elite" jene Mauer aus dominierenden ideologischen Grundüberzeugungen, die oft genug als große, unhinterfragte Illusion ihre Macht in der Gesellschaft entfalten und die Wirklichkeitsvorstellungen der Bürger prägen.
Wer das tut, wer es wagt, sich der Orthodoxie entgegenzustellen und grundlegende "Wahrheiten" zu überprüfen, kommt nicht umhin, "Schaden" anzurichten. Vorgefertigte Anschauungen und Glaubenssätze werden zerschlagen, Schulmeinungen und Theoriengebäude entzaubert. Charles Wright Mills, das lässt sich heute mit Gewissheit sagen, war einer, den man als Ketzer bezeichnen kann.
Ketzer sind jene Menschen, "die an der Peripherie, weitab vom ideologischen Zentrum stehend, neue Antworten auf alte Frage geben; neue Fragen stellen, die Antworten einfordern, die unangenehm, die beängstigend sind und nicht konform gehen mit der allgemeinen Selbstverständlichkeit".
Mit diesen Worten beschrieb der Jesuit und Unternehmensberater Rupert Lay einmal, was ein Ketzer ist. Und ja: In diesen Worten findet sich auch die Forschungsarbeit von Mills wieder. Lay merkte an, es sei naiv anzunehmen, die Ketzerei müsste doch im Grunde genommen eine "sozial anerkannte, weil doch enorm wichtige Sache sein". Wer dies annehme, vergesse, "dass das Bewahren von Sicherheiten zu allen Zeiten für Menschen ein sehr viel stärkerer Motivator war als das Erkennen von Wahrheiten".
"Ketzer", erklärt Lay, "trampeln nun einmal im Porzellanladen der Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten herum, in dem Menschen die Antworten auf existenzielle Fragen einzukaufen gewohnt sind. Und das ist unverzeihlich. Ketzern verzeiht man nicht."
Diese Ausführungen lassen erahnen, dass Mills, der 1935 ein Studium der Philosophie, Ökonomie und Soziologie aufgriff, keinen leichten Stand bei seiner wissenschaftlichen Karriere hatte. Angriffe, von seinen Kollegen gab es reichlich. Mills eckte mit seinem Blick auf die Dinge an. Mills war unbequem.
Der Texaner, der sich zunächst bei seiner wissenschaftlichen Karriere mit der Wissenssoziologie auseinandersetzte, also jenem Teil der Soziologie, der sich vor allem auch mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit beschäftigt, betrachtete das politische System nicht einfach nur aus dem Zentrum der großen etablierten Lehrmeinungen und Theorien. Hätte er das getan, wäre die Wahrscheinlichkeit groß gewesen, dass er mit in den Chor derjenigen eingestimmt hätte, die jener naiven demokratietheoretischen Sichtweise folgten, wonach, um es zuzuspitzen, Demokratie ganz einfach dann existiert, wenn ausgefeilte demokratische Strukturen bestehen, so wie es etwa in seinem Land der Fall ist.
Die wirkliche Macht geht von einem "politischen Direktorat" aus
Aber Mills gab sich mit dem Blick aus dem "ideologischen Zentrum" nicht zufrieden. Er widersetzte sich den Anziehungskräften aus dem Kerngebiet der orthodoxen politischen Anschauungen, wie sie im akademischen Feld vorhanden waren und sind, um "von außen" der Frage nachzugehen, wo in seinem Land die politische Macht liegt und von welcher Stelle diese ausgeht. Der Soziologe englisch-irischer Abstammung wollte wissen, welche Rolle die "einfachen" Menschen auf der Straße tatsächlich haben, wenn es um die Entfaltung der Demokratie geht.
Wenn es heißt, dass in einer Demokratie alle Macht vom Volk ausgeht, dann ist es nur recht, wenn kritische Gesellschaftswissenschaftler einmal genauer hinschauen und sich dem Phänomen "Macht", das auch in einer Demokratie durch das gesamte politische Gefüge wirkt, genauer anzuschauen.
Wer verfügt in einer Demokratie tatsächlich über Macht? Welche Macht besitzt der Mann oder die Frau "auf der Straße"? Welche Macht besitzen die (demokratischen) Institutionen? Über wie viel Macht verfügen die Eliten einer Gesellschaft? Mit Fragen und Gedanken wie diesen, die richtungsweisend für Mills' Forschung zur amerikanischen Machtelite sind, gelang es dem Sohn eines Versicherungsvertreters und einer Hausfrau die realen Machtverhältnisse freizulegen und die Nebelwand, die ein "romantischer Pluralismus", wie Mills es formuliert, erzeugt, zu durchdrängen. Das, was er dann sah, lies ihn zu einem für die Demokratie wichtigen, aber zugleich auch erschreckenden Befund kommen.
Mit klarem Verstand erkannte Mills, dass in seinem Land eine Machtelite existiert, die aus den gesellschaftlichen Teilbereichen Politik, Wirtschaft und Militär besteht und in der Lage ist, einen Einfluss auszuüben, demgegenüber die "Macht" der normalen Bürger geradezu lächerlich wirkt. In den USA, so Mills' Erkenntnis, hat sich ein "politisches Direktorat" gebildet, von dem die tatsächliche politische Macht im Land ausgeht.
Die Zentralisierung sämtlicher Macht- und Informationsmittel bringt es mit sich, daß einige wenige in unserer Gesellschaft bestimmte Positionen einnehmen, von denen aus sie auf die anderen herabsehen und die Alltagswelt der Durchschnittsmenschen mit ihren Entscheidungen beeinflussen können. Diese wenigen sind nicht Sklaven ihres Berufs oder Gefangene ihres Arbeitsplatzes. Sie können vielmehr Arbeitsplätze für tausend andere schaffen oder beseitigen. Sie werden auch nicht von ständigen Alltags- und Familienpflichten eingeengt, sondern können ihnen, wenn sie wollen, jederzeit entfliehen. Sie sind auch nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern können wohnen, wo und wie es ihnen beliebt. Für sie heißt es nicht, sie hätten nur "zu tun, was Tag und Stunde fordern". Sie selber stellen nicht wenige dieser Forderungen auf und sorgen dann dafür, daß andere sie erfüllen.
Charles Wright Mills
Diese Aussagen verdeutlichen: Mills war ein Freund klarer Worte, der die realen Verhältnisse auf den Punkt bringen konnte. Mills erkannte, dass dem normalen Bürger, wenn es um die Entfaltung von (gesellschaftlicher) Macht geht, enge Grenzen gesetzt sind. Selbst innerhalb jener Grenzen, die den "einfachen" Menschen gesetzt sind, sprich: die Grenzen seiner alltäglichen Umwelt ("Familien- und Freundeskreis, Berufsleben, Nachbarschaft"), "scheint der Durchschnittsmensch von mächtigen Kräften, die er weder begreifen noch meistern kann, getrieben zu sein".
Mills zerschlägt mit wenigen Worten die Illusion, die vor allem die Akteure aus dem ideologischen Zentrum erzeugen und mit Nachdruck aufrechterhalten.
"In Wahrheit liegt die Macht nur bei zahlenmäßig kleinen Kreisen"
Auch in einer Demokratie existieren nämlich enorme Machtungleichgewichte, die dazu führen, dass Menschen Begrenzungen ausgesetzt sind und Zwänge in ihrem Handeln erfahren, an denen sie kaum etwas ändern und die sie schon gar nicht überwinden können.
In aller Deutlichkeit geht Mills mit jenen ins Gericht, die behaupten, im Grunde genommen habe jeder Mensch die Macht, die Geschichte zu beeinflussen. "Wollte man das behaupten", so Mills, "...wäre das soziologisch Unsinn und politisch verantwortungslos." Behaupte man nämlich, dass "'wir' alle die Geschichte bestimmten", wäre das "deshalb verantwortungslos, weil dadurch jeder Versuch im Keim erstickt wird, die Verantwortung für die folgenschweren Entscheidungen jener festzustellen, die die Machtmittel wirklich in der Hand haben".
Da taucht sie also auf, die in akademischen und intellektuellen Kreise so verpönte Frage nach dem konkret handelnden Subjekt. Bereits damals, vor 60 Jahren, geriet man im wissenschaftlichen Feld schnell in den Verdacht, die Komplexität der realen Verhältnisse zu verkennen, wenn der Blick auf die Ebene der handelnden Subjekte gelenkt wurde - woran sich bis heute nichts geändert hat. Und dafür gibt es einen guten Grund: Wenn die ideologischen Verblendungen all derjenigen beiseitegeschoben sind, die selbst jener "großen Illusion" folgen, die der unkritische Glauben an einen pluralistischen Liberalismus erzeugt, wird plötzlich ersichtlich, dass die Stigmatisierung der "Subjektfrage" wie ein mächtiger Schutzschild um eben genau die Akteure herum wirkt, auf die Mills fokussiert - die Entscheider und Macher in der Gesellschaft.
Mills kommt bei seinen Analysen zu dem Ergebnis, dass zwar "rein formell", die Autorität beim Volk liege, "aber in Wahrheit liegt die Macht, die Initiative zu ergreifen, nur bei zahlenmäßig kleinen Kreisen". Der Soziologe sprach von einer landläufigen "Strategie der Manipulation", die den Eindruck hervorrufe, "daß das Volk, oder mindestens ein großer Teil des Volkes, 'tatsächlich die Entscheidungen trifft'".
Aussagen wie diese sind es, die wohl auch heute noch so manchem Demokratietheoretiker das Entsetzen ins Gesicht treiben dürften. Doch Mills war, um gleich Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, keiner, der sich leerer Phrasen bediente und Schreckensszenarien an die Wand malte. Mills gelang es, die Macht der Oberen präzise einzuordnen. Die Machtelite war für Mills weder allmächtig, noch war sie ohnmächtig. Die Machteliten sind bei Mills keine Götter, die die ganze Welt beherrschen.
Mills bezeichnet die Vorstellungen von einer omnipotenten oder impotenten Machtelite als "leere Abstraktionen, die man in der Öffentlichkeit gern als Entschuldigung vorbringt oder mit denen man sich brüstet. Aber wir müssen uns ihrer bedienen, um die großen Probleme zu klären, denen wir uns gegenübergestellt sehen".
Deutlich warnt Mills auch vor der großen Verschwörungsthese, wonach eine einzige herrschende Klasse existiere, "die die ganze amerikanische Gesellschaft lenkt... ."
Die andere Auffassung, daß alles auf die Verschwörung einiger unschwer feststellbarer Schurken oder auf die Taten großer Männer zurückzuführen sei, ist eine ebenso voreilige Interpretation des Tatbestandes, daß Veränderungen im Gesellschaftsgefüge bestimmten Eliten geschichtliche Chancen eröffnen, die sie wahrnehmen oder nicht wahrnehmen. Wer sich eine dieser beiden Vorstellungen zu eigen macht, indem er die Geschichte als Konspiration oder als schicksalhafte Kraft begreift, erschwert es sich, die tatsächlichen Machtverhältnisse und das Verhalten der Mächtigen zu verstehen.
Charles Wright Mills
Mills gelang es, die Machtelite zu sezieren, indem er einen breiten Zugang zu seinem Forschungsgegenstand wählte. Er setzte sich nicht nur mit den Akteuren, also ihrem Eigenverständnis (wie begreifen sich Eliten selbst?), ihrem Handlungsspielraum und den psychologischen Beziehungen der Eliten untereinander auseinander, er beachtete auch die historischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, in die die Eliten eingebettet waren und die ihnen Chancen und Möglichkeiten boten, aber auch Herausforderungen mit sich brachten.
Die Elite ist in sich selbst verliebt
Mit eine der wichtigsten Erkenntnisse, die Mills liefert, führt ins Zentrum dessen, was das Elitensein ausmacht. Der Soziologe stellte fest, dass die Eliten seiner Gesellschaft aus einem tiefen inneren Antrieb heraus handelten und der festen Überzeugung seien, völlig zu Recht zur Elite zu gehören.
Aus dieser Grundeinstellung erklärt sich die oft zu beobachtende Haltung von Angehörigen der Elite, die aufgrund ihrer gesellschaftlich herausgehobenen Position quasi automatisch das legitime Monopol zur Gestaltung der Welt in den Händen zu halten glauben.
Man muss nicht weit denken, um in der sehr aktuellen Diskussion um die Rolle "der Eliten" in unserer Zeit erkennen zu können, woher die Vorwürfe einer arroganten, überheblichen und abgehobenen Machtelite kommen.
Die Spitzen unserer Gesellschaft und die "normalen" Menschen, die das Volk bilden, sind auch in einem demokratischen System durch einen Graben, der kaum tiefer und breiter sein könnte, voneinander getrennt - das war zur Zeit Mills so, das ist heute so. Während ein kleiner Teil von Menschen über riesige Ressourcen aller zentralen Kapitalarten verfügt (ökonomisches, kulturelles, soziales, symbolisches Kapital), besitzt ein großer Teil der Bevölkerungen im Vergleich oft nur einen Bruchteil dieses Kapitals.
Während die einen durch ihre Kapitalvorteile, aber auch aufgrund ihrer Positionen an den Schalt- und Schnittstellen der Macht, Entscheidungen treffen, die für eine ganze Gesellschaft Auswirkungen haben, reicht "die Macht" des einfachen Menschen allenfalls von seinem Wohnzimmer bis zur Haustür.
Mills hebt aber hervor, dass nicht nur die Entscheidungen, die die Angehörigen der Machtelite treffen, weitreichende Konsequenzen haben. "Unterlassen sie es zu handeln", schlussfolgert Mills, "eine Entscheidung zu treffen, so hat dies oft schwerer wiegende Folgen als ihre tatsächlichen Entschlüsse ... ."
Was wir derzeit in Europa erleben, ist das Produkt einer entfesselten Machtelite
Wer in diesen Tagen, 60 Jahre nach "The Power Elite" die Nachrichten verfolgt und mitansehen muss, welche gesellschaftliche und politische Verwerfungen entstanden sind, kann nur zu dem Schluss kommen, dass ein kritischer Blick auf die heutigen Machteliten dringend notwendig ist. An dem Handeln der Machteliten, wie sie Mills vor sechs Dekaden kenntlich gemacht hat, hat sich im Wesentlichen nichts geändert. Ihr Handeln ist geprägt von Machtgewinnung, Machtsicherung, Machtmaximierung und von Einflussnahmen aller Art, um diesem "Dreiklang der Macht" zur vollen Blüte zu verhelfen.
Im Idealfall stehen die Interessen der Machtelite mit denen der normalen Bürger in etwa auf einer Ebene - oft genug ist das nicht der Fall. Trotz vordergründig funktionierender demokratischer Prozesse gelingt es den Mächtigen dieser Welt immer wieder, ihre politische Ideen und Vorstellungen durchzudrücken und dabei einen Schaden anzurichten, der so groß ist, dass er kaum beziffert werden kann.
Was würde Mills sagen, wenn er beispielsweise mitansehen könnte, was Machteliten aus dem europäischen Einigungsprozess gemacht haben? Live und in Farbe ist mitanzusehen, was geschieht, wenn ein Elite-Projekt, wie die europäische Währung "Euro", das Eliten über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden und trotz fundierter Warnungen verwirklicht haben, schief geht.
Länder stehen vor dem wirtschaftlichen Kollaps, eine Jugendarbeitslosigkeit in Staaten wie Portugal, Italien, Spanien oder Griechenland, die zwischen 30 und 50 Prozent liegt, zerstört die Hoffnungen junger Menschen auf ein besseres Leben, milliardenschwere "Rettungsschirme", aufgespannt von Staaten, die noch vor wenigen Jahren ihren Bürgern gepredigt haben, der Sozialstaat sei zu teuer und müsse "verschlankt" werden, machen viele Bürger fassungslos.
Was wir derzeit in Europa erleben, ist das Produkt einer entfesselten Machtelite, die über Jahrzehnte auf der Basis einer neoliberalen Wirtschaftsordnung ihren Wohlstand und ihre Macht mehren konnte und dabei nach und nach Kräfte zur Entfaltung brachte, die gesellschaftszersetzend sind und der Demokratie einen schweren Schaden zugefügt haben.
Auch wenn Mills seine Machtelitentheorie anhand der US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre durchdeklinierte, also einer Gesellschaft, die ihre speziellen Eigenheiten aufweist und nicht eins zu eins auf europäische Verhältnisse übertragen werden kann, auch wenn seine Theorie in manchem durch die historische Entwicklung überholt ist und der historische Kontext, in dem seine Machtelitentheorie entstand, nicht außer Acht gelassen werden darf: Die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen führen direkt ins Zentrum von Mills' Arbeit.
Frühzeitig warnte er vor den Schwachstellen im demokratischen Gefüge und vor der Naivität der Theorie vom "Gleichgewicht der Kräfte". Schon in den 1950er Jahren erkannte Mills, wie ausgeprägt der vorgelagert politische Formierungsprozess der Machtelite in seinem Land war. Er beobachtete, dass Eliten sich aus den demokratischen Strukturen ausdifferenzieren, dass sie sich vernetzen, in Zirkeln der Macht zusammenschließen und über unterschiedliche Einflussorganisationen Macht ausüben. Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nichts geändert.
Ein journalistisches Interesse an den diskreten Machtstrukturen der Eliten ist kaum vorhanden
Doch die Soziologie scheint jenen Teil ihrer Disziplin, der in der Tradition von Mills steht und der es möglich machen würde, die Strukturen der Machtelite zu analysieren, fast vergessen zu haben. Aber auch die Medien, die zumindest in Ansätzen über die Zirkel der Mächtigen berichten könnten, ignorieren diese.
Die Tage etwa hatten Medien, unter anderem auch der Spiegel, über die Einweihung einer russischen Denkfabrik in Berlin berichtet. Offensichtlich war es aus journalistischer Sicht geboten, die Mediennutzer über diesen Schritt zu informieren.
Es gibt viele gute Gründe dafür, dass Medien ihre Aufmerksamkeit auf das Wirken von Stiftungen und Thinktanks lenken. Welche Ziele verfolgen diese? Wer sind ihre Mitglieder, wer ihre Hintermänner? Gibt es eine verborgene Agenda? Sind sie in der Lage, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen? Wenn ja: Wie sieht diese Einflussnahme aus? Wie gestaltet sie sich? Wer sind die konkreten Akteure, die Einfluss nehmen? Zentrale Fragen, deren Beantwortung für eine Demokratie von Bedeutung sind.
Doch, als beispielsweise im März 2013 die Trilaterale Kommission ihre Jahreshauptversammlung in Berlin abhielt, war das in deutschen Medien kein Thema. Trilaterale Kommission? Was ist das? Wie ist sie entstanden? Wozu existiert sie? Welcher Ideologie folgt sie?
Anders gesagt: Als es plötzlich um die Gründung einer russischen Denkfabrik ging, erkannten die großen Medien plötzlich, welche Bedeutung diesen Einrichtungen bei der Beeinflussung von Politik zukommen kann. Wenn es aber um den sich im Windschatten der demokratischen Institutionen vollziehenden Formationsprozess westlicher Machteliten geht (Machteliten: Sie wollen doch nur das Beste für den Planeten), lassen Medien die Öffentlichkeit immer wieder im Dunkeln.
Fast 60 Jahre hat es gedauert, bis deutsche Medien in der Breite erkannt haben, dass die Treffen der Bilderberg-Gruppe "ein Thema" sind. Kritische Berichte, wie etwa dieser Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1975 zur Rolle des Council On Foreing Relations, einer zentralen Denkfabrik der Liberalen in den USA, sind wie eine Perle: sehr schön, aber selten zu finden. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41389590.html
Über die Zusammenkunft der US-Machteliten am Bohemian Grove , wo sich auch mal ein Bundeskanzler dazu gesellte, finden sich im Spiegel-Archiv gerade einmal zwei Artikel - einer von 1979 und einer von 1982. Ein journalistisches Interesse an den diskreten Machtstrukturen der Eliten ist, das ist festzustellen, so gut wie nicht vorhanden.
Es verwundert nicht, dass Mills sich auch mit den Medien auseinandergesetzt hat und kritisch anmerkte, dass diese "eines der bedeutendsten Machtmittel [sind], die der Elite des Reichtums und der Macht zur Verfügung stehen".
Auf gleicher Ebene [wie die Medien] oder nur wenig darunter steht der Propagandist, der Werbefachmann, der die öffentliche Meinung schon im Entstehungsstadium kontrolliert und sie damit als eine willfährige Kraft mehr in die Berechnung des Spiels der Kräfte, der Steigerung des Prestiges, der Sicherung des Reichtums einbezieht.
Charles Wright Mills'
Das klingt radikal, aber Mills lernte früh, zu welchen Gefahren Machtungleichgewichte in einem Staat führen konnten. Mills hatte eine enge Freundschaft mit dem deutschen Soziologen Hans Gerth, der vor der Diktatur der Nazis geflohen war. Seine Einblicke, die er durch Gerth über die Nazi-Herrschaft aus erster Hand erhalten konnte, führten ihn mit dazu, dass er sich der Machtstrukturforschung widmete. Aus der Auseinandersetzung mit dem Nazi-Regime gewann Mills für sich die Erkenntnis, die Sozialwissenschaften müssten sich viel stärker auf eine Forschung konzentrieren, die von Herrschaftskritik geprägt ist.
Der wohl einzige bekannte deutsche Machstrukturforscher Hans Jürgen Krysmanski , der im Juni dieses Jahres verstarb , schrieb einmal über Mills' Arbeit, er habe "das Rezept formuliert, wie man in einer modernen Industriegesellschaft westlichen Zuschnitts, in einer parlamentarischen Demokratie die Herrschaft der Wenigen sichern kann, ohne dass es den Massen sonderlich auffällt".
Alleine das sollte Mills' "Power Elite" zur Pflichtlektüre für jeden machen, dem Demokratie etwas bedeutet.