Machtlos in der Cloud?

Bild: Hans-Böckler-Stiftung

Eine neue Studie liefert erste Einblicke über Crowdworking in Deutschland: Es geht keineswegs nur um unqualifizierte Kleinstarbeiten und einige der Netzarbeiter sind hochzufrieden

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Gewerkschafter nennen sie "die neuen Tagelöhner". Die Zeit beschreibt sie als "digitale Arbeitsnomaden, die sich im Internet von Auftrag zu Auftrag hangeln". Die Tagesschau sprach vor wenigen Monaten gar von einem "digitalen Proletariat".

Über Crowdwork kursierten bisher vor allem Gerüchte. Häufig wird die mehr oder weniger neue Beschäftigungsform dann zur Zukunft der Arbeit überhaupt stilisiert, zum Vorboten schlechter Zeiten. Zum Beispiel von der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die in ihrem Film "Klaus, der Crowdworker" wahrhaftig ein Schreckensszenario verbreitet:

Wir schreiben das Jahr 2020. Die Arbeitswelt hat sich gewaltig verändert. Die Menschen sind fast ausschließlich >Cloud Worker<. Festanstellungen gibt es so gut wie gar nicht mehr. Die Unternehmen heuern, je nach Bedarf, ihre Arbeitskräfte über ein virtuelles Netzwerk an. Was mit der IT-Branche begann, betrifft nun nahezu alle Berufsgruppen. Ein Heer von Freelancern kämpft mit weltweiter Konkurrenz um Aufträge. Die Folge: Preisdumping.

Ver.di

Wird es so kommen? Der Markt für Crowdworking wächst jedenfalls. In einer aktuellen Untersuchung beziffert die Weltbank den globalen Umsatz der Branche auf 4,3 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2020, so ihre Schätzung, wird diese Summe sich verfünffachen. Bei der deutschen Plattform "Clickworker" sind 700 000 Menschen registriert. Wer sind diese Beschäftigten? Nagen sie am Hungertuch? Sind sie wehrlos einer weltweiten Konkurrenz ausgesetzt, unterbieten sie sich gegenseitig?

Eine neue Studie von Wirtschaftsinformatikern der Universität Kassel bringt jetzt ein wenig Licht ins Dunkel. Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung haben Wissenschaftler um den Wirtschaftsinformatiker Jan Marco Leimeister die Internetarbeit in Deutschland untersucht. Weil sie keine Interviewpartner fanden, die ihnen unentgeltlich Rede und Antwort stehen wollten, bezahlten sie schließlich für die Teilnahme - für Crowdworker ist Zeit bekanntlich Geld. So kamen gut 400 Interviews zustande. Die Untersuchung soll demnächst erscheinen. Sie ist zwar nicht repräsentativ, aber sie liefert erste Hinweise über den Arbeitsalltag im Netz.

Absturz ins Bodenlose?

Das wohl wichtigste Ergebnis der Studie: Crowdwork ist nicht gleich Crowdwork. Gemeinsam ist allen Formen der Internet-Arbeit, dass sie (auch) für Geld durchgeführt und über Plattformen vermittelt wird, die sich mit den Vermittlungsgebühren finanzieren. Entscheidend ist weiterhin, dass das Arbeitsprodukt eine digitale Form hat und als Datei über das Netz verbreitet werden kann. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber bereits auf.

Zum Crowdworking zählen ebenso geistlose Arbeiten, die nur mit Cent-Beträgen vergütet werden und von vielen Menschen eher aus Langeweile und nebenher geleistet werden, wie schwierige und voraussetzungsvolle Tätigkeiten, vor allem in den Bereichen Design und Software-Produktion. Die Monatslöhne schwanken zwischen mehreren tausend oder auch drei Euro, die Wochenarbeitszeit zwischen vielen Stunden und ein paar Minuten.

Die große Bandbreite teilten die Wissenschaftler in vier Hauptbereiche. Sie unterschieden zwischen "Mikrotasks", "Marktplätzen", Design- und Testing-Plattformen. Die Mikrotasks prägen oft die öffentliche Wahrnehmung von Crowdwork - anspruchslose Kleinstaufträge wie Adressen recherchieren oder Waren nach Schlagworte sortieren. Die entsprechenden Plattformen heißen "My little job", "Crowdguru" oder "Clickworker". Auf den "Marktplätzen" wiederum (etwa der international genutzte Plattform "Upwork") werden Übersetzungen, Software oder Werbung produziert. Die Spannbreite bei den Qualifikationen und Honoraren ist in diesem Bereich besonders groß. Außerdem gibt es Design-Plattformen und schließlich Testing-Plattformen, wo Nutzer beispielsweise für geringe Beträge oder Rabatte neue Smartphone-Apps ausprobieren.

Auf den Marktplätzen und mit Design wird deutlich mehr Geld verdient als mit anderen Formen der Crowdwork. Jeder vierter Befragte im Bereich "Marktplatz" (vor allem diverse Texter) und jeder fünfte Designer bezeichnete das Einkommen als Haupteinnahmequelle. Das durchschnittliche Einkommen liegt hier bei 662 Euro im Monat, der Median lag bei 300 Euro (Marktplatz) beziehungsweise bei 400 Euro (Design). Dieser Unterschied erklärt sich durch Ausreißer nach oben - eine beachtliche Minderheit lebt nämlich tatsächlich von den Aufträgen aus dem Internet oder ist wenigstens auf diese Einkommensquelle angewiesen.

Offenbar nutzt eine kleine Gruppe von hauptberuflichen Freiberuflern und Selbständigen die Plattformen als eine Akquise-Möglichkeit. Oft sind es qualifizierte und spezialisierte Software-Entwickler und Designer, die hier nach Arbeitsaufträgen suchen. Unklar ist, ob die Honorare, die sie im Netz erzielen, niedriger liegen als bei Aufträgen, die sie auf den herkömmlichen Wegen einwerben. Offenbar können einige von ihnen bestimmte Lohnstandards behaupten, obwohl die Konkurrenz im Netz potentiell schrankenlos ist - schließlich haben all ihre Kollegen mit denselben Qualifikationen dieselbe Möglichkeit. Zum Vergleich: Im Bereich "Mikrotask" liegt der durchschnittliche Monatslohn bei nur 144 Euro.

Kurz gesagt, es liegen Welten zwischen einem freiberuflichen Programmierer, der gezielt im Netz nach lukrativen Aufträgen sucht, und einem Schüler, der lediglich mit ein paar Klicks sein Taschengeld aufbessert, vielleicht abends vor dem Fernseher. Ihre Angaben zu Durchschnittswerten zu verrühren, macht wenig Sinn; Arbeitszeiten und Verdienst unterscheiden sich einfach zu sehr. Aber die Studienergebnisse taugen doch, um die verschiedenen Nutzungsweisen etwas genauer einzukreisen.

Die meisten Crowdworker sind jung und gut ausgebildet; fast 40 Prozent haben einen Hochschulabschluss. Für eine knappe Mehrheit (60 Prozent) ist die Arbeit im Netz nur ein willkommenes Zubrot, besonders natürlich für Studenten. Mutmaßlich sind auf den Plattformen auch einige Rentner und Arbeitslose unterwegs, die auf diese Art ihre Transferzahlungen aufbessern - in der Regel steuerfrei und an den Ämtern vorbei. Es gibt weiterhin Hinweise darauf, dass Aufträge von deutschen Plattformen im Ausland bearbeitet werden, weshalb einige Beschäftigte von einem günstigen Wechselkurs profitieren. Nur vier Prozent sagten, dass sie morgens arbeiten würden. Etwa jeder fünfte Befragte gab an, hauptberuflich Crowdworker zu sein. Etwa jeder zehnte verdient nach Abzug der Gebühren über 1500 Euro im Monat.

Erstaunlich ist die hohe Zufriedenheit

Alles in allem finden die "digitalen Tagelöhner" ihre Bezahlung "fair", sie fühlen sich von den Auftraggebern wertgeschätzt und einigermaßen gut behandelt. Auch das Verhältnis zu den Plattformen gilt als zufriedenstellend.

Für Unmut sorgt höchstens die besondere Art, wie die Aufträge vergeben werden: Viele leisten nämlich erfolglos Vorarbeiten, um einen Auftrag zu ergattern. Die Hans-Böckler-Stiftung, Auftraggeberin der Studie, betont deshalb:

Am wenigsten zufrieden mit Bezahlung und Wertschätzung sind Designer. Ein Grund könnte der spezielle Wettbewerb in diesem Bereich sein, vermuten die Wissenschaftler. Bei Ausschreibungen reichen mehrere Mitbewerber ihre Entwürfe ein. Doch nur wer den Zuschlag erhält, wird entlohnt. Dass der Rest leer ausgeht, empfinden viele als unfair.

Hans-Böckler-Stiftung

Entsprechend wünschen sich nur wenige Beschäftigte mehr rechtliche Beratung. Betriebliche Mitbestimmung und eine Absicherung über die Sozialversicherungen hält nur etwa jeder zweite für erstrebenswert - und nur wenige Crowdworker finden eine gewerkschaftliche Interessenvertretung wichtig. Diese Aussagen dürfen allerdings nicht überbewertet werden, nicht nur wegen der schmalen Datenbasis. Schließlich wird niemand zu Crowdwork gezwungen, weshalb naturgemäß nur diejenigen dabei bleiben, für die das Erwerbsmodell vorteilhaft ist.

Das Studienergebnis dürfte die Auftraggeber dennoch enttäuscht haben. Die deutschen Gewerkschaften versuchen schon lange, mit Beratungsangeboten das Interesse der Netz-Arbeiter zu wecken - bisher ohne Erfolg.

Schon aus eigenem Interesse müssen sie sich um diese Arbeitsform und die Beschäftigten kümmern: Crowdworking verdrängt Normalarbeitsverhältnisse und untergräbt damit ihre Machtbasis. Angesichts der zunehmenden Verbreitung von Crowdwork warnen sie vor einem unregulierten Arbeitsmarkt und einem rechtsfreien Raum. Erreicht haben sie, dass drei große Crowdworking-Unternehmen kürzlich eine freiwillige Selbstverpflichtung unterzeichnet haben, die allerdings weitgehend aus unverbindlichen Allgemeinplätzen besteht.

Die digitale Reputation entscheidet über Aufträge und Bezahlung

Sind die Crowdworker in Deutschland wirklich rundum zufrieden? Oder sinken einfach ihre Ansprüche? Offenbar erwarten viele von ihrer Arbeit im Netz gar keine soziale Sicherheit - und von den Gewerkschaften keine Hilfe. Dabei ist doch der Ausdruck Tagelöhner für sie eigentlich noch beschönigend, "Minutenlöhner" wäre passender. Mit fünfzig Worten eine Jacke beschreiben und dabei 1 Euro 20 verdienen - solche Aufträge sind keine Seltenheit.

Der besondere Charme dieses Geschäftsmodells beruht auf der Tatsache, dass sowohl die Vermittlungsagenturen, als auch die beauftragenden Unternehmen Risiken und Kosten auslagern. Sie behandeln die Beschäftigten als Selbständige, die sich eigenständig gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Erwerbsunfähigkeit versichern sollen. Dazu sind zwar nur wenige Freelancer finanziell in der Lage (und noch weniger in ausreichendem Maß), aber bekanntlich müssen sich weder die Auftraggeber noch die Vermittler darum kümmern. Statt Arbeitsverträgen gelten die Allgemeine Geschäftsbedingungen.

Eine Schlüsselrolle auf den Internet-Arbeitsmärkten spielen die Bewertungssysteme. Das eigene Profil entscheidet, ob gut bezahlte Aufträge hereinkommen oder nicht. Viele Crowdworker nehmen große Abstriche bei der Bezahlung in Kauf, um eine schlechte Bewertung zu vermeiden. Das Management ihrer digitalen Reputation schwächt ihre Verhandlungsposition sowohl gegenüber den Auftraggebern, als auch gegenüber den Plattformen. Wenn es zu Konflikten kommt, dann oft weil sich Beschäftigte ungerecht bewertet fühlen.

Mittlerweile haben einige Plattformen Verfahren und Regeln für solche Streitfälle eingeführt. Sie bemühen sich aber nach Kräften, sich selbst aus der Konfliktschlichtung herauszuhalten. Das tägliche Geschäft soll möglichst automatisch, sprich: algorithmisch abgewickelt werden; Lohnkosten vermeiden sie nach Möglichkeit. Einer ihrer Angestellten "betreut" daher nicht selten Zehntausende von Freelancern.

Allerdings spielen diese Mitarbeiter in Wirklichkeit oft eine bedeutende Rolle bei der "Qualitätssicherung", wie es oft beschönigend heißt. Gerade im Bereich der Textproduktion sorgen diese Angestellten oft dafür, dass überhaupt beim Crowdsourcing ein vermarktbares Produkt entsteht, indem sie redigieren, korrigieren und Plagiate aussortieren. Die Weisheit der Masse und die intelligenten Algorithmen erweisen sich nämlich in der Praxis oft als reichlich dämlich.

Nach außen betonen die Plattformen, lediglich Angebot und Nachfrage zusammen zu bringen. Sie treten als Vermittler auf und kassieren dafür eine Gebühr von zehn Prozent, höchstens zwanzig Prozent des Honorars. Aus der eigentlichen Produktion halten sie sich heraus.

Ihr Geschäftsmodell beruht deshalb darauf, dass sie den Datenfluss kontrollieren können. Denn sobald Angebot und Nachfrage einander gefunden haben, sind sie eigentlich überflüssig. Tatsächlich versuchen professionelle Crowdworker gelegentlich, sich von ihrer Plattform zu lösen, nachdem sie eine Geschäftsbeziehung etabliert haben. Die Plattformen verbieten deshalb den Austausch von Kontaktdaten, kontrollieren die Kommunikation scharf und schließen rigoros Nutzer aus, die versuchen, mit Auftraggebern direkt in Kontakt zu treten.

Einsam in der Masse? - Grenzen der Auslagerung

Die Unternehmen profitieren nicht nur von den unschlagbar niedrigen Crowdwork-Honoraren. Über das Netz können sie auf Erfahrungen und Ideen der Masse zugreifen, die in der eigenen Belegschaft in geringerem Umfang vorhanden sind. Gerade diese Offenheit ist aber gleichzeitig ein Nachteil, wenigstens eine Gefahr. Unternehmen müssen sich öffnen, um die Masse "anzuzapfen", wer aber wichtige Tätigkeiten ins Netz auslagert und Prozesse offen legt, der riskiert, dass "Geschäftsgeheimnisse" nach außen dringen.

Crowdsourcing ist außerdem nur dann effizient, wenn Solo-Selbständige die Aufträge bearbeiten. Bei anspruchsvolleren Tätigkeiten und Geschäftsprozessen entsteht sonst oft ein zusätzlicher Aufwand - ökonomisch gesprochen: zusätzliche Transaktionskosten -, um die einzelnen Arbeiten erst zu zerstückeln, dann wieder zusammensetzen und schließlich noch auf ihre Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Die "Auftragsnehmer" sind nicht weisungsgebunden und arbeiten gewissenhaft, weil sie eine schlechte Bewertung fürchten, nicht aus Loyalität zum Unternehmen.

Schon um Pfusch zu vermeiden und Kontrollkosten zu senken, sind die Unternehmen weiterhin an stabilen und langfristigen Beziehungen interessiert - Internet hin oder her. Aus diesen Gründen rudern mittlerweile einige Unternehmen wieder zurück. IBM etwa kündigte im Jahr 2012 an, viele Software-Entwicklungen künftig der Crowd zu überlassen. Die Beschäftigten sollten sich auf Aufträge über ein firmeneigenes System ("IBM Liquid") bewerben - eine Art öffentliche Ausschreibung des transnationalen Konzerns. Von dem radikalen Plan wurde schließlich nur wenig umgesetzt.

Das Schreckensszenario einer Welt von machtlosen Netzarbeitern kann jedenfalls nicht überzeugen. Das Klischee vom ausgebeuteten, aber wehrlosen Crowdworker ist nur die Kehrseite von dem ebenso wenig überzeugenden Bild einer digitalen Boheme, die angeblich keine sozialen Probleme kennt, solange das WLAN funktioniert. Für die einen verheißt das Internet grenzenlose Freiheit und ein gutes Geschäft für alle Beteiligten, die anderen warnen vor einem sozialen Absturz ins Bodenlose. Beides wird der Wirklichkeit nicht gerecht.

Welche Formen die Crowdworker in Zukunft finden werden, um ihre Interessen durchzusetzen, ist unklar. Bisher spielen die digitalen Arbeitsmärkte noch eine untergeordnete Rolle. Entsprechend konfliktscheu sind die Beschäftigten noch. Statt zu protestieren und zu streiken ziehen sie lieber weiter - zum nächsten Auftrag oder zur nächsten Plattform.