"Madame Inflation" und ihre Fehleinschätzungen
EZB-Chefin Lagarde räumt ein, dass Inflation doch länger hoch bleibt. Noch im Oktober hatte sie ein baldiges Sinken der Preise angekündigt. Maßnahmen will sie nicht ergreifen
Lange Monate hatte die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB). Christine Lagarde, die steigende Inflation, die schon im September in Deutschland mit 4,1 Prozent so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr war, schöngeredet. Im Oktober hat sie nun auch im Euroraum diesen Wert erreicht, während es in Deutschland schon etwa 4,5 Prozent sind. Die letzte Inflationsspitze von 4,3 Prozent in Deutschland aus dem Jahr 1993 ist also schon überschritten.
Die Marke von fünf Prozent, die 1992 erreicht war, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach überschritten werden. Dass die Marke von 6,3 Prozent erreicht wird, auf die die Rate mit der Ölkrise 1981 gestiegen war, kann immer weniger ausgeschlossen werden. Inzwischen vertritt nicht einmal mehr Lagarde die steile These, dass wir es nur mit einem "kurzfristigen", "vorübergehenden" und auf "Sondereffekten" beruhenden Phänomen zu tun hätten.
Aussagen mit sinkender Halbwertzeit
Noch im Oktober hatte sie behauptet, dass die Inflationsrate im Euroraum schnell wieder fallen werde. "Einige Einflussfaktoren dürften bald wieder verschwinden, etwa die preistreibenden Effekte, die sich aus gestörten Lieferketten ergeben oder aus der Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung in Deutschland", hatte sie im Interview erklärt.
Die Halbwertszeit ihrer Aussagen geht zurück. Deshalb gestand sie nur einen Monat später bei einer Anhörung im Europaparlament ein: "Doch der Rückgang wird länger dauern als ursprünglich gedacht.". Ihre Einschätzung, dass die sich Inflation im nächsten Jahr abschwächen werde, zieht sie aus einer Entspannung bei den Futures-Preisen, die auf eine "spürbare Entspannung bei den Energiepreisen in der ersten Hälfte des Jahres 2022 hindeuten".
Eine Hintertür lässt sich die EZB-Chefin aber schon wieder offen: "Wenn die Energiepreise weiter steigen oder die Versorgungsengpässe fortbestehen, könnte die Inflation länger hoch bleiben, als wir derzeit erwarten." Denn dies könne sich in höheren Löhnen und in der Folge in höheren Preisen niederschlagen. Bislang gäbe es jedoch keine Anzeichen dafür, erklärt sie, warum die EZB auch weiterhin praktisch keine Maßnahmen ergreifen will, um die Inflationsentwicklung zu bremsen.
Nicht einmal am Umfang der Aufkäufe will sie etwas ändern. Man gehe "mittelfristig" davon aus, dass die Inflation unter dem Zwei-Prozent-Ziel bleiben werde, sagte sie, ohne zu definieren, wann das der Fall sein soll. Klar ist längst, dass die neuen Zielvorgaben vorsehen, mittelfristig auch "stärkere Abweichungen nach oben oder unten" zu akzeptieren.
Man fragt sich aber, wo Lagarde ihre Universitätsabschlüsse erworben hat. Denn sie tut so, als hätte die Geldschwemme der Notenbanken seit der Finanzkrise ab 2008 keinerlei Einfluss auf die Entwicklung. Versteht sie auch nicht, dass sich die gestiegenen Energiepreise und die Probleme in den Lieferketten - die Preise für die Beförderung von Containern über die Weltmeere sind ebenfalls wegen fehlender Transportkapazitäten explodiert - erst mittelfristig bemerkbar machen?
Da inzwischen nicht nur Mikrochips in der Produktion fehlen, sogar schon das für den Autobau essentiell notwendige Aluminium ausgeht, verknappt sich das Warenangebot inflationstreibend weiter und damit zieht immer stärker das Gespenst der Stagflation auf. Die sogenannten Wirtschaftsweisen haben angesichts der Probleme längst ihre Wachstumsprognose gesenkt.
Zwei Erklärungen, die beide für Rücktritt sprechen
Da Lieferengpässe die Industrie belasten und Verbraucher längst weniger konsumfreudig sind, gehen sie davon aus, dass deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nur um 2,7 Prozent wachsen wird. Die Bundesregierung hatte im April noch mit 4,1 Prozent gerechnet. Es gibt nur zwei Erklärungen für die Fehleinschätzungen von Lagarde, die allerdings beide als Konsequenz haben müssten, dass sie eher gestern als heute den Sessel räumen sollte. Doch den hat mit dem Bundesbank-Chef Jens Weidmann gerade einer ihrer Kritiker im EZB-Rat geräumt.
Entweder ist sie unfähig, die Entwicklung vernünftig einzuschätzen oder sie geht nach politischen Kriterien vor. Unter anderem wird seit längerem befürchtet, dass die EZB bewusst auf höhere Inflationsraten setzt, um einen Teil der ausufernden Staatsverschuldungen weginflationieren zu können. Im Umfeld der Bundesbank werde längst gemutmaßt, dass Lagarde eben genau aus politischen Motiven handele und nicht ihrer Aufgabe nachkomme, für Geldwertstabilität zu sorgen.
Denn in ihrer französischen Heimat wird im April ein neuer Präsident gewählt und es sieht nicht sonderlich gut für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron aus. Die Null- und Negativzinsen aufzugeben, um der Inflation zu begegnen, würde nur stören, weil dies auch dämpfend auf die Konjunktur wirken würde. Erst nach den Wahlen in Frankreich werde sie ihren Kurs ändern, heißt es. In Frankfurt am Main, wo die EZB ihren Sitz hat, kursiert für Lagarde inzwischen der Spitzname "Madame Inflation".
Während die US-Notenbank FED sich auf den geldpolitischen Schwenk vorbereitet, wo man auch nach der Finanzkrise die Zinsen zeitweise wieder normalisiert hatte, weigere sich Lagarde aber weiter, endlich Geld aus dem Geldmarkt zu saugen, wird in der Mainmetropole kritisiert. Sie erklärte nun sogar, es sei unwahrscheinlich, dass die Bedingungen für eine Zinsanhebung im kommenden Jahr erfüllt seien. In der "Forward Guidance" habe man Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssten, "bevor die Zinsen zu steigen beginnen können". Diese Bedingungen seien bisher nicht erfüllt.
Die Kritik an ihrer Politik wird allerdings immer lauter. "Inflation ist kein temporäres Phänomen", erklärte kürzlich der Vorstandschef der Deutschen Bank, Christian Sewing. Er fordert Lagarde auf, endlich umzusteuern, "eher früher als später", sagte er. "Das vermeintliche Allheilmittel der vergangenen Jahre - niedrige Zinsen bei scheinbar stabilen Preisen - hat seine Wirkung verloren, jetzt kämpfen wir mit den Nebenwirkungen." Allein ist er damit wahrlich nicht.
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