Mädchenmord interessiert die Öffentlichkeit zu Recht
Im Kontext der Tötung einer Zwölfjährigen im westfälischen Freudenberg kochen Emotionen hoch. Eine sachliche Diskussion erreicht man aber nicht mit Informationsverweigerung. Zum Konflikt von Persönlichkeitsrechten und demokratischer Aufklärung. Ein Kommentar.
Nach derzeitigem Kenntnisstand haben zwei Kinder eine Bekannte im gleichen Alter am 11. März im Landkreis Siegen-Wittgenstein erstochen. Die Leiche der 12-jährigen Luise wurde am folgenden Tag von der Polizei gefunden. Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss hatte angesichts des Medieninteresses angekündigt, die Persönlichkeitsrechte der mutmaßlichen Täterinnen höher einzuschätzen als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit.
Sollten sich die beiden geständigen 12 und 13 Jahre alten Mädchen als Täterinnen bestätigen, "dann werden wir keine Aussagen zu Tatabläufen oder Motivlagen machen", sagte von Grotthuss laut dpa.
Dieser Auffassung trat der Dortmunder Medienrechtler Tobias Gostomzyk entgegen und sagte:
Ich glaube nicht, dass das vor Gericht Bestand haben würde, weil die Tat so erschütternd und einzigartig ist - das öffentliche Interesse also erheblich. Es ist demnach nicht gerechtfertigt, jede Information darüber zurückzuhalten, sofern die Persönlichkeitsrechte angemessen geschützt werden.
Prof. Tobias Gostomzyk, TU Dortmund
Denn mit Informationen zu Tatgeschehen und möglichen Motiven werden kindliche Täterinnen nicht an einen medialen Pranger gestellt. Unter anderem für die unvermeidliche Debatte um die Altersgrenze zur Strafmündigkeit und das Portfolio an möglichen erzieherischen Maßnahmen für Schuldunfähige macht es geradezu notwendig, Hintergründe der Tat en détail zu benennen.
Andernfalls müssten letztlich Politiker als Gesetzgeber in Unkenntnis der tatsächlichen Geschehnisse und ihrer Einordnung (u.a. durch Fachleute) über mögliche Gesetzesänderungen diskutieren, also rein emotional statt sachlich, was gerade nicht erwünscht sein kann. Oder das Parlament müsste - wie sein Kontrollausschuss für die Geheimdienste - hinter verschlossenen Türen beraten, was demokratisch unhaltbar wäre.
Abwägung Persönlichkeitsrecht und Interesse
Gerade auch die Abwägung von Persönlichkeitsrechten - hier von Tatverdächtigen - gegen das Informationsinteresse der Bevölkerung muss der Souverän selbst treffen. Schließlich gilt jede gesetzliche Regelung nur solange, bis sie durch eine andere ersetzt wird.
Vom vorliegenden Spezialfall abgesehen, in dem die mutmaßlichen Täterinnen juristisch schuldunfähig sind, haben Täter das öffentliche Interesse an sich und ihrem Handeln zuallererst selbst zu verantworten. Deshalb ist es richtig, in der Verdachtsberichterstattung den Persönlichkeitsschutz deutlich höher zu werten als im Zusammenhang mit Strafverfahren, um keine Unschuldigen bzw. Unbeteiligten ins Licht der Öffentlichkeit zu ziehen.
Spätestens mit Eröffnung der Hauptverhandlung bei Gericht sieht die Sache allerdings anders aus. Denn dann hat das Gericht bereits festgestellt, dass "der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig" ist (§ 203 StPO).
Erweist sich der Angeschuldigte als unschuldig und war er mithin fälschlicherweise medialer Berichterstattung ausgesetzt, müssten Staatsanwaltschaft und Gericht die Verantwortung dafür tragen. Dass dies kaum geschieht, zeigen zahlreiche prominente Fälle zu Unrecht einer Straftat Beschuldigter. Dafür ist allerdings nicht die Öffentlichkeit verantwortlich.
Schutz des Persönlichkeitsrechts
Der Schutz des Persönlichkeitsrechts wird regelmäßig an Namen und Bildern der Tatverdächtigen, Angeschuldigten und Verurteilten festgemacht - und läuft doch regelmäßig ins Leere. Denn alle, die die betreffende Person kennen, wissen in der Regel auch um die Vorwürfe gegen sie. Bzw. andersherum gedeutet: sie wissen, um wen es sich bei einer anonymisierten Berichterstattung handelt.
Und das kann man gerade unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeitsrechte auch begrüßen. Denn andernfalls schießen die Spekulationen ins Kraut. Wenn "ein leitender Angestellter der Firma XY" etwas getan haben soll, glauben zahlreiche Menschen fälschlicherweise zu wissen, um wen es sich handelt oder wenigstens handeln könnte, es so lange, bis der tatsächlich Gemeinte benannt ist.
Dies wurde hier unlängst schon für Gruppenmerkmale diskutiert, die noch nicht auf eine konkrete Person schließen lassen, nämlich wenn es um die ethnische Herkunft von (mutmaßlichen) Tätern geht. Der beabsichtigte Schutz durch Informationsverweigerung kann hier gerade ins Gegenteil umschlagen.
Das eigentliche medienethische Problem liegt weniger in der aktuellen Kriminalberichterstattung, als in der dank Digitalisierung unbefristeten Verfügbarkeit der Informationen. Sind sie gegenwärtig relevant und für den öffentlichen demokratischen Diskurs notwendig, so stellen sie zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich ein bisher ungelöstes Problem dar.
Natürlich konnte man auch aus Zeitungsarchiven schon immer alte Geschichten ausgraben, und zumindest lokal werden einschneidende Ereignisse über viele Jahre und Jahrzehnte mündlich tradiert, mit vielen Verzerrungen, mit Hinzugedichtetem und Unterschlagenem. Doch heute kann eben jederzeit jemand einen winzigen digitalen Fetzen mit einem Klick wieder omnipräsent machen.
Das erlebt gerade im Zusammenhang mit der Tötung in Freudenberg die Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich. So wurde ein acht Jahre alter, längst gelöschter Tweet Heinrichs, den sie verfasste, als sie 14 Jahre alt war, verbreitet, auch noch mit einem irreführenden Zeitstempel, der den Post viel aktueller erscheinen lässt, als es der Wahrheit entspricht.
Informationen über Gewalttaten nötig
Die mit der Digitalisierung verbundenen Probleme für den Schutz von Privatsphäre lassen sich jedoch nicht durch punktuelle Informationsblockaden lösen. Zumal auf "staatlicher Seite", also bei diversen Behörden, viele Daten vorhanden sind, die aus der Öffentlichkeit etwa mit der DSGVO verbannt werden sollen.
Der Freudenberger "Mordfall" (juristisch korrekt kann man nur von Tötung sprechen, eine Entscheidung, ob es ein Mord war, wird es im Falle schuldunfähiger Verdächtiger nie geben) wird einerseits in den Medien sicherlich wie alles, was zur Domäne des Boulevardjournalismus gehört, unverhältnismäßig intensiv verhandelt. Andererseits kommen Gewalttaten von Kindern zwar selten, aber nicht nur ganz vereinzelt vor.
Da die Geschlechtsreife mindestens seit dem 18. Jahrhundert immer früher eintritt, haben wir längst juristisch gesehen Kinder, die z.B. sexuelle Gewalt ausüben können. Dass über die Ursachen solcher kindlicher Gewalt gesprochen werden muss, ist völlig richtig.
Das kann aber nur gelingen, wenn die Gesellschaft so viele Informationen über Gewalttaten hat, dass sie über Hilfs- und vor allem Präventionsmaßnahmen sinnvoll diskutieren kann.