Märtyrer des Medienfortschritts
Trieb der Terror des Breitbild-Fernsehens Amsterdamer zu Geiselnahme und Selbstmord?
Mitte März kam es in Amsterdam zu einem denkwürdigen Vorfall. Im Rembrandt-Turm, dem höchsten Bürohaus Amsterdams, war ein bewaffneter Mann am frühen Morgen eingedrungen und hatte zunächst 18 Büroarbeiter als Geiseln genommen. 8 Stunden später erschoss er sich angeblich selbst auf einer Toilette im Erdgeschoss des Gebäudes. Den Geiseln wurde kein Schaden zugefügt. Der Fall hätte wahrscheinlich kaum Aufmerksamkeit außerhalb Amsterdams erregt, wäre da nicht eine Merkwürdigkeit gewesen. Das Problem des Mannes, der die Tat begangen hatte, bestand allen Informationen nach darin, dass er sich zum Kauf eines Breitbild-Fernsehers gezwungen gefühlt hatte.
Aus den Medienberichten ergeben sich zunächst nur spärliche Details über den Mann und seine Motive. Er soll 59 Jahre alt und gut gekleidet gewesen sein. Sein graues Haar soll er lang getragen haben. Angeblich habe er in einer Mittelklasse-Vorstadt gelebt. Dort habe er bereits seit einiger Zeit einen persönlichen Feldzug gegen den Terror der Breitbild-Fernseher geführt, mit Leserbriefen an Lokalzeitungen und Konsumentenschutzorganisationen. An den neuen Fernsehern im Breitbildformat 16:9 habe ihn gestört, dass viele Filme darauf nur mit seitlichen schwarzen Balken zu sehen sind.
Scheinbar hatte er das falsche Hochhaus erwischt. Das Rembrandt-Haus war eine Zeit lang vom Breitbild-Fernseher herstellenden Unternehmen Philips genutzt worden, doch die sind inzwischen in ein benachbartes Hochhaus umgezogen. An die Innenseite der Fenster des Gebäudes, in dem die Geiselnahme stattfand, hatte der Geiselnehmer Buchstaben geklebt. "We Mislead" stand da zu lesen. Und in einem Fax an das holländische Fernsehen beschuldigte er die Hersteller von Breitbild-Fernsehern der "Manipulation" und bezichtigt sie der "Erzeugung von Unsinn".
Laut Aussagen der Geiseln in niederländischen Medien soll es sich um einen "Künstlertypen" gehandelt haben. Wirklich Angst habe er ihnen nicht eingejagt. Nach der ersten Aufregung habe sich die Situation schnell beruhigt und Langeweile und Mangel an Zigaretten seien die größte Sorge für die Geiseln gewesen, berichtete eine Amsterdamer Teilnehmerin der Mailingliste Nettime. Rund um den Rembrandtturm gab es jedoch hektische Antiterrormaßnahmen. Mehrere Straßenblöcke wurden gesperrt, eine Hochschule mit 5000 Studenten komplett evakuiert, eine U-Bahn- und Schnellbahnstation geschlossen, Hubschrauber und Scharfschützen in Stellung gebracht.
Der Mann sei währenddessen die meiste Zeit im Gebäude herumgegangen, sich von vier Geiseln als Deckung vor den Scharfschützen begleiten lassend. Seine Waffen, ein Gewehr und eine Pistole, habe er häufig auf einem Empfangstisch liegen lassen und quasi ununterbrochen geredet. Wer war er?
Wie sich herausstellte, war der alternde "Künstlertyp" in Wirklichkeit Busfahrer und hieß John Roerhorst. Nachdem er mit seiner Kampagne gegen Breitbildfernseher begonnen hatte, las er Bücher über Globalisierung. Er zitierte Naomi Klein in einigen seiner Briefe an Zeitungen und KOnsumentenschutzorganisationen, hatte aber offensichtlich keinen Kontakt mit irgendwelchen Aktivistengruppen. Doch was hat ihn angetrieben. Vielleicht - denn ab diesem Punkt ist alles Spekulation - war für ihn Medienkonsum eine der letzten Brücken zur Wirklichkeit, auch wenn es sich nur um eine synthetische Wirklichkeit handelt? Vielleicht hatte er ja immer schon eine Schraube locker gehabt? Offensichtlich hatte ihn aber etwas über die letzte Grenze geschubst. War es wirklich nur der von ihm so empfundene Zwang zur Aufrüstung, der unaufhaltsame Vormarsch der Breitbild-Fernsehgeräte gewesen?
Ohne den Geiselnehmer und Selbstmörder damit glorifizieren zu wollen, erscheint sein Fall doch ausgesprochen faszinierend. Sicherlich, wenn jeder, der mit der Entwicklung von Consumer Electronics unzufrieden ist, als Geiselnehmer einen Büroturm besetzt, käme das Wirtschaftsleben bald zum Stillstand - von der moralischen Fragwürdigkeit, andere Menschen mit Schusswaffen zu bedrohen, einmal ganz abgesehen. Internetnutzer müssten unter diesem Ausgangspunkt bald zu Massenselbstmördern werden. Während die Erneuerungszyklen des Fernsehens immer noch recht behäbig sind, ist man als Internetnutzer unter beständigem Innovationszwang: lästige Browser-Plug-Ins wie RealAudio, die beständig Updates auf die neueste Version fordern, Websites, die mit der nutzerseitigen Version des verwendeten Browsers nicht zufrieden sind und in störenden Pop-ups zum Update "anregen" (zuletzt bei den Online-Versionen der Tageszeitungen International Herald Tribune und Der Standard). Nicht auszudenken, wenn wegen solcher Dinge dauernd Leute komplett ausrasten würden.
Doch die eigentliche Signifikanz der Tat hat möglicherweise wenig mit der proklamierten Ursache - dem Terror der Breitbild-Fernseher - zu tun. Die Umstände der Tat sperren sich gegen einfache Interpretationen von Ursache und Wirkung. Es drängt sich geradezu auf, die Geschehnisse als eine Art Zeichen dafür zu lesen, dass es an der Schnittstelle zwischen Medienkonsumenten und ihren Apparaten kräftig knistert - und mit "Apparaten" meine ich sowohl das Empfangsgerät selbst als auch den gesamten Apparat, der zur Herstellung der Programme nötig ist, ebenso wie die systemischen Zusammenhänge zwischen dem Bedürfnis nach Medienmassage und seiner Befriedigung.
Ein starkes Indiz dafür, dass es um mehr ging als nur Breitbild-Fernseher, ist der Umstand, dass der Täter den 11.März 2002 als Zeitpunkt der Ausführung seiner Aktion wählte. Das ist genau sechs Monate nach dem 11.September 2001 - dem Tag also. Wenn man Baudrillards Statement zu den Ereignissen vom 11.September zumindest ansatzweise zu folgen bereit ist, dass dieses Ereigniss "nicht wirklich" stattgefunden hat, weil die Medienrezeption in Echtzeit eine Trennung von Wirklichkeit und medialer Rezeption von vorneherein verunmöglicht, dann stellt das Selbstopfer des Amsterdamer Attentäters den Kontrapunkt hierzu dar.
Während wir als Reaktion auf "die Ereignisse vom 11.September" binnen kürzester Zeit mit Gewissheiten bombardiert wurden, wirft die Aktion des 59-jährigen im Rembrandt-Turm vor allem Fragen auf. Unangenehme, bohrende Fragen nach den Auswirkungen der permanent fortschreitenden technologischen Innovation in den Medien z.B., und was diese für die Gesellschaft wirklich bedeutet. Fragen, die zumindest einen so bitter machen konnten, dass er sich selbst dafür aufgab.
Unter diesem Gesichtspunkt könnte man die ebenso spektakuläre wie sinnlose Protesthandlung gegen den übermäßigen Gegner Fernsehen als Handlung eines einsamen Medienguerrilleros interpretieren, der gegen die unsichtbaren Kerkerwände der Medienrealität anrannte und sich selbst damit zu einem Märtyrer des Medienzeitalters machte, anders, doch verwandt mit dem Medientod von Lady Di. Der Amsterdamer Geiselnehmer hat möglicherweise den Aus-Schalter seines Fernsehgeräts nicht mehr rechtzeitig gefunden. So blieb ihm - subjektiv - nichts anderes übrig, als seine eigene Mattscheibe auszuknippsen.
Doch auch das ist, wie gesagt, bloße Spekulation, denn auch über dem Selbstmord steht ein Fragezeichen, folgt man den Hinweisen, die dem Autor nach Veröffentlichung der ursprünglichen Version des Artikels zugemailt wurden. Die Polizei sagte, er habe sich erschossen. Hintergrund sei, dass er schon länger an einem Gehirntumor gelitten habe. Doch trotz eines so spektakulären Endes wurde keine Autopsie vorgenommen, was Anlass zu verschiedensten Spekulationen geben könnte. Das alles sollte uns keineswegs noch zynischer machen, als wir es bereits sind, sondern als Anlass für eine Denk- und Atempause dienen, inmitten einer sich sicher nicht verlangsamenden, von technologischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Überlegungen unnachgiebig vorangetriebenen Medienrevolution.
Update 12.April 2002