"Man muss alles tun, damit sich solche Vorgänge in Zukunft nicht wiederholen"

Interview mit Akten-Ermittler Burkhard Hirsch über die Datenvernichtungen und Aktenbeseitigungen im Bundeskanzleramt

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Bis heute gibt es keine Konsequenzen aus der beispiellosen Informationsvernichtung im Bundeskanzleramt. Der frühere Akten-Ermittler der rot-grünen Bundesregierung, Burkhard Hirsch (FDP) beklagt, dass in der Ära von Alt-Kanzler Helmut Kohl im Kanzleramt massiv Akten vernichtet und Daten gelöscht wurden. Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zur CDU-Spenden-Affäre sagte Hirsch Anfang April, seit seinem ersten Bericht vor dem Gremium vor neun Monaten sei "keine Akte aufgetaucht". Die CDU/CSU bezichtigt ihn deshalb der üblen Nachrede. Die Staatsanwaltschaft Bonn beabsichtigt nach eigenem Bekunden die Ermittlungen gegen zwei Beamte des Bundeskanzleramtes einzustellen, noch ist es allerdings in der Schwebe. Noch bis Ende des Monats soll das Bundeskanzleramt Stellung beziehen.

Nachdem bis jetzt keine rechtlichen Konsequenzen aus den Vorgängen gezogen wurden, sieht es auf der politischen Bühne auch nicht viel besser aus: Der Entwurf für eine Informationsfreiheitsgesetz liegt entgegen aller Ankündigungen des Bundesinnenministeriums immer noch nicht vor. Ein Gesetz für den Umgang mit den Kanzlerakten ist nicht einmal in Planung. Wiederholungstäter gingen damit auch künftig straffrei aus. In den Medien wurde dies bis heute nicht einmal ansatzweise diskutiert. Christiane Schulzki-Haddouti sprach jetzt für telepolis mit Burkhard Hirsch über seine Erkenntnisse und die politischen Konsequenzen:

Zu welchen Ergebnissen kamen Sie bei Ihren Nachforschungen?

Burkhard Hirsch: Unabhängig davon, ob man einzelnen Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes strafrechtlich relevante Handlungen nachweisen kann, bleibt es dabei, dass eine ganze Reihe von wichtigen Akten verschwunden sind. Dass ein anderer Teil von Akten jahrelange Lücken aufweist, die nicht erklärbar sind. Es bleibt, dass von der Datenverarbeitung Daten in der Größenordnung von etwa drei Gigabyte gelöscht worden sind, wobei eine Vielzahl von Informationen verloren gegangen ist, die wir möglicherweise in den Akten auch nicht mehr finden.

Was schließen Sie aus den bekannt gewordenen Lücken und aus dem Umfang der Löschungen?

Burkhard Hirsch: Das ist eine schwierige Frage. Was den Zustand der Akten anbelangt, drängt sich zum einen der Eindruck auf, dass die Veränderung der Akten im Zusammenhang steht mit den Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages, die sich insbesondere mit Privatisierungsvorgängen in den neuen Bundesländern befassten, also der Tätigkeit der Treuhand und dem Vermögen der DDR.

Bei der Löschung von Daten ging es gezielt darum, die darin enthaltenen Informationen nicht der Nachfolgeregierung zur Verfügung zu stellen. Das ist auch in der Umschreibung zum Ausdruck gebracht worden, dass die Vorbereitung von Koalitionsverhandlungen, ausgesprochene politische Ausarbeitungen und Notizen die Nachfolger nichts angingen. Wobei man sich fragen muss, wie mit diesen Beschreibungen drei Gigabyte zustande kommen. Das Bundeskanzleramt war ja keine Parteizentrale. Es ging hier ganz gezielt darum, Informationen zu verkürzen.

Welche Schlussfolgerungen zogen Sie noch aus den gesäuberten Akten?

Burkhard Hirsch: Man kann an den Akten an verschiedenen Stellen sehen, dass es natürlich sehr enge Kontakte zu der Wirtschaft gegeben hat. Das ist ein Sachverhalt, den wir alle kennen, uns aber nicht klar gemacht haben. Wenn beispielsweise ein führender Politiker eine Auslandsreise macht und ihn die ganze Crème der deutschen Wirtschaft begleitet, wird der Erfolg der Reise davon abhängig gemacht, wieviel Türen geöffnet wurden und wieviele Abschlüsse getätigt worden sind.

Dass ein leibhaftiger Bundeskanzler Bargeld annimmt, wäre vor wenigen Jahrzehnten noch absolut undenkbar gewesen. Diese Vorgänge sehen wir, nehmen sie zur Kenntnis, ohne sie wirklich zu bewerten. Dabei muss sich der normale Bürger natürlich fragen, wenn dies gang und gäbe ist, ob dann noch alles mit rechten Dingen vor sich geht.

Wenn man diesem Eindruck entgegentreten will, hilft nur gnadenlose Transparenz. Dann müssen finanzielle Kontakte ganz gnadenlos offengelegt werden. Und das ist ein Vorwurf, den ich ganz unabhängig von meinen Untersuchungen dem Altbundeskanzler Kohl machen muss. Die Tatsache, dass er Spenden entgegen nimmt, aber sie gesetzwidrig nicht offenlegt, ist ein so fundamentaler Verstoß gegen einen Verfassungsgrundsatz, dass ich mich wirklich wundere, dass versucht wird das zu bagatellisieren.

Würden Sie soweit gehen zu sagen, dass sich die Politik nicht mehr nach dem Willen des Volkes, sondern dem Willen der Wirtschaft untergeordnet hat?

Burkhard Hirsch: Soweit würde ich nicht gehen. Die Trennwand zwischen Wirtschaft und Politik ist aber sehr dünn geworden. Nachdem wir aber vor vielen Jahren die Flick-Affäre erlebt haben und nun die CDU-Spendenaffäre erleben, ist es dringend notwendig dem Eindruck, dass Politik käuflich sei, entgegen zu treten. Das kann man nur tun, wenn in der Frage der Transparenz nicht noch mehr versäumt wird. Ich wundere mich, dass nicht schon längst Vorschläge öffentlich auf dem Tisch liegen, - die ja in den Fraktionen bereits diskutiert werden -, wie man das Parteiengesetz entsprechend reformieren kann.

Genügt eine Reform des Parteiengesetzes, oder müsste man den Umgang mit Akten neu überdenken?

Burkhard Hirsch: Die Reformierung des Parteiengesetzes mit wesentlich härteren, auch strafrechtlichen Sanktionen oder dem Verlust der Wählbarkeit für mehr als eine Legistlaturperiode, wenn gegen die Offenlegung der Finanzierung verstoßen wird, die halte ich für dringend notwendig. Das wäre ein Riesenschritt nach vorne, falls dies zustande käme.

Auch die Offenlegung von Akten ist von großer Bedeutung. Ich habe bisher noch nicht erwähnt, dass der Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Friedrich Bohl, und der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl ein papierfreies Büro hinterlassen haben. Sie haben erhebliche Teile ihrer Akten, die sie bei sich geführt haben, aus dem Bundeskanzleramt ausgelagert.

Frage: Wohin?

Burkhard Hirsch: Akten von Herrn Bohl sind in der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin gelandet. Von der Aktensammlung Helmut Kohls kann ich hingegen nicht exakt sagen, wo sie sich befindet. Die Akten wurden weder dem Bundesarchiv übergeben, noch sind sie im Bundeskanzleramt. Sie sind sämtlich nicht verfügbar.

Hier muss ich darin erinnern, dass in den Vereinigten Staaten ein ganz sauberes, eingehendes Gesetz für die Akten des Präsidenten existiert, demnach die Akten einer ganz spezifischen Behandlung unterworfen werden. Der amerikanische Präsident darf nichts an Notizen, an Papieren, an Tonbandaufnahmen, weder seine eigenen noch seiner Mitarbeiter, die ihn beraten, auf eigene Verantwortung vernichten, sondern er muss sie einem Vertreter des Bundesarchivs vorlegen. Dieser entscheidet, ob er die Akten aufbewahrt oder nicht. Der Präsident hat die Möglichkeit Sperrfristen bis zu zwölf Jahren anzuordnen, aber auch über die kann sich der Archivar hinwegsetzen, wenn die Akten von so großer historischer oder politischer Bedeutung sind, so dass sie veröffentlicht werden müssen. Nach einem Zeitraum von maximal zwölf Jahren werden die Akten völlig der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Das ist nicht wie bei uns, dass sie nur lange Zeit möglicherweise nur beschränkt zugänglich sind. Sie werden veröffentlicht.

Das ist natürlich eine Konsequenz aus dem Watergate-Skandal. Richard Nixon hatte ja seine Tonbänder für privat erklärt und wollte sie nicht veröffentlichen. Die Amerikaner haben also aus dem großen Skandal gelernt. Sind die Deutschen lernfähig?

Burkhard Hirsch: Ich wundere mich ein bisschen, dass die Novellierung des Parteiengesetzes noch immer Zeit in Anspruch nimmt, wobei wir ja nur noch eineinhalb Jahre dieser Legislaturperiode vor uns haben. Was die Akten des Bundeskanzleramts und des Bundeskanzlers angeht, die natürlich politischer Natur sind, sehe ich noch keine Initiative. Ich habe mir das amerikanische Gesetz beschafft, ich habe es übersetzt, diese Übersetzung steht zur Verfügung. Ich habe ein gewisses Interesse daran gefunden, sehe aber noch keine Aktivität.

Wer hat sich bereits dazu geäußert?

Burkhard Hirsch: Ich habe das natürlich den Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes zur Verfügung gestellt und ich habe darüber mit Kollegen aus meiner früheren Fraktion gesprochen. In Deutschland gibt es eine Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es einen exekutiven Kernbereich gibt, der auch Untersuchungsausschüssen gegenüber nicht offenbart werden müsse. Hier bin ich der Meinung, dass man diesen Bezug auf Untersuchungsausschüsse nicht einfach übernehmen darf. Dass man entweder exakt definieren muss, was dieser exekutive Kernbereich ist - das Verfassungsgericht tut das nicht -, und dass man die Bundesregierung verpflichten muss, einem Untersuchungsausschuss zu sagen, ob und in welchem Umfang sie von dem Ausnahmrecht Gebrauch machen will.

In der Vergangenheit hat die Regierung davon ja Gebrauch gemacht, ohne dem Untersuchungsausschuss Gelegenheit zu geben, dies zu erkennen. Der Bundestag hatte die Vorstellung er verfüge über die vollständigen Akten, aber in Wirklichkeit war dies nicht der Fall. Selbst wenn man die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts akzeptieren will, sind dies Dinge, die geändert werden müssen. Ich bin mir sicher, dass sie dann zu einem parlamentarischen Thema werden, sobald der Untersuchungsausschuss seinen Bericht vorgelegt hat.

Nochmal eine Verständnisfrage: Wie konnte es passieren, dass die Akten von Kohl nicht rechtzeitig gesichert wurden, dass Angestellte des Bundesarchivs nicht rechtzeitig auf der Matte standen, um sie abzuholen?

Burkhard Hirsch: Anscheinend glaubte er, dass die Akten, die der Bundeskanzler persönlich führte, sein persönliches Eigentum seien. Daraus leitete er eine eigene Dispositionbefugniss her. Er ging davon aus, dass er von den Regeln des Archivgesetzes befreit sei. Das ist falsch.

Woher rühren diese Annahmen?

Burkhard Hirsch: Das ist ein weites Feld. Vielleicht beantwort es der Alt-Bundeskanzler einmal in einem Tagebuch.

Wie werden die Bohl-Akten jetzt in der Stiftung behandelt? Darf die jeder einsehen?

Burkhard Hirsch: Sicherlich nicht. Auch die Vertreter des Bundeskanzleramtes hatten Schwierigkeiten, die Akten einzusehen. Das geht immer nur in Einverständnis mit Herrn Bohl.

Damit werden die Akten auch als Privateigentum eingestuft?

Burkhard Hirsch: Meines Wissens nach hat das Bundeskanzleramt nur Zugang zu einer bestimmten Aktenmenge gehabt, soweit Bohl einverstanden war. Der volle Umfang ist mir und auch dem Bundeskanzleramt nicht bekannt.

Welche Überlegungen gibt es, den Zugang zu erzwingen?

Burkhard Hirsch: Es wurden intensive Verhandlungen zwischen dem Bundeskanzleramt und Bohls Anwalt geführt. Über deren Stand und Ergebnis bin ich nicht informiert.

Was die elektronischen Daten anbelangt - gab es ein präzise Regelung des Umgangs?

Burkhard Hirsch: Es gab keine wirklich ausreichenden Regelungen. Es gab nur Regelungen, die sich auf die Sicherheit der Daten bezogen, aber nicht auf den Umgang mit ihnen. In den 80iger Jahren hielten die PCs Einzug in die Verwaltung. Damals konnte jeder einzelne Sachbearbeiter auf einer Festplatte etwas speichern. Meistens hatten sie jahrelang keine eigenen Diskettenzugänge. Die Regelungen für Akten hingegen wurden an die neuen Arbeitsbedingungen nicht angepasst.

Zu meinen Vorschlägen gehört es deshalb auch, hier präzisere Regelungen zu finden. Man muss die Fragen klären: Wer ist der Herr der Daten? Wer hat den Zugang dazu? Wie lange sollen sie gespeichert werden? Was wird mit ihnen, wenn man ihren Inhalt nicht mehr braucht? Es tun sich eine Menge, teilweise sehr schwierige Fragen auf.

Wie konnten Sie feststellen, in welchem Umfang die Löschungen vorgenommen wurden?

Burkhard Hirsch: Aus Protokollierungen der Datenverarbeitungsanlage.

Haben die Mitarbeiter des Bundeskanzleramts Ihrer Ansicht nach bislang in einem rechtsfreien Raum gearbeitet oder haben die bislang existierenden Regeln versagt?

Burkhard Hirsch: Es gibt keinen rechtsfreien Raum. Es gibt Regeln und Vorschriften von der Geschäftsordnung bis hin zu disziplinarrechtlichen und strafrechtlichen Regelungen. Aber die Regeln für Datenverarbeitung sollten präzisiert werden.

Also waren die Schlupflöcher zu groß?

Burkhard Hirsch: Das werden die Verfahren zeigen, die anhängig sind. Ich sehe aber einen Verbesserungsbedarf. Im Übrigen, es ist für das Schicksal der Bundesrepublik nicht so erheblich, ob nun der eine oder andere Beamte disziplinar- oder strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wird. Aber man muss alles tun, damit sich solche Vorgänge in Zukunft nicht wiederholen. Jeder Politiker weiß doch, dass Akten nicht sein Privateigentum, sondern öffentliches Eigentum sind.

Womit erklären Sie sich, dass die Begeisterung für eine Neuregelung nicht so groß ist?

Burkhard Hirsch: Ich glaube, dass zur Zeit noch vieles von den Emotionen der Beteiligten verzerrt ist. Je näher wir an den Wahlkampf herankommen, um so schwerer wird es, Regelungen zu finden, die eine möglichst breite Zustimmung erzielen. Daher empfinde ich auch eine gewisse Unruhe. Was nicht im Laufe dieses Jahres in trockenen Tüchern ist, wird sicherlich im Wahlkampf untergehen. Es vergehen dann wieder zwei Jahre, bis eine normale Gesetzgebung stattfinden kann.

Wie sehen Sie die Pläne der Bundesregierung, ein Informationsfreiheitsgesetz einzuführen?

Burkhard Hirsch: Das war Bestandteil der Koalitionsvereinbarung der jetzigen Regierung. Aber ich sehe noch keine konkreten Schritte dazu. Es gibt eine EG-Richtlinie, die auch nur sehr mühsam umgesetzt wurde, die sich auf umweltrelevante Daten bezieht. Ich wünsche mir, dass der Bundestag eine weit offenere Lösung finden wird.

Wenn man an Elemente der direkten Demokratie denkt, die Bürger direkter an Entscheidungen zu beteiligen, dann muss der Bürger auch einen breiteren Zugang zu Informationen haben. Sonst ist er ja allen Agitationen ausgeliefert. Für mich gehört zum ganzen Paket der direkten Demokratie ein größeres Zugangsrecht zu Informationen.

Werden Sie sich nun innerhalb der FDP für die Einführung eines Informationsfreiheitsgesetzes einsetzen?

Burkhard Hirsch: Ja, wir hatten dies schon einmal in einer Wahlaussage.

Das liegt vermutlich daran, dass sich noch kein wichtiger Politiker das Thema auf die Fahne geschrieben hat.

Burkhard Hirsch: Dafür gibt es viele Gründe. Darüber will ich nicht spekulieren.

Wird Ihr Bericht veröffentlicht?

Burkhard Hirsch: Nein, ich habe den Bericht Staatssekretär Steinmaier erstattet und habe dem Untersuchungsausschuss eine Fassung zur Verfügung gestellt, die von einer Reihe personeller Details bereinigt wurde. Das geht nicht anders angesichts der laufenden Disziplinarverfahren.

Schade.

Burkhard Hirsch: Ja. Aber eine öffentliche Erörterung der Tatbestände ist angesichts des anhängigen Disziplinarverfahrens nicht möglich.