Man muss nur wollen

Das Internet kann Leben retten. Und manchmal sogar einen müden Abend

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Dass die Zeit der Helden vorbei sei, mögen manche immer noch nicht glauben. In ihrem Wunsch, Grenzen zu überschreiten, Ketten zu sprengen, Konventionen zu verletzen, gehen sie dorthin, wo noch kein Mensch je einen Fuß hingesetzt, tun das, was vor ihnen noch niemand getan hat: Sie greifen in bestimmte Regale des Supermarkts, und essen, was sie dort finden.

Einer der Kühnsten unter ihnen ist der Autor der Website The Sneeze, der sich nur als "Steven" zu erkennen gibt. Man kann sich das vielleicht wie folgt vorstellen. Steven dachte sich eines Abends: Wie kann ich eine Website erschaffen, die gleichzeitig möglichst widerwärtig und lustig ist?

Die Gallery of Regrettable Food gibt es schon, mit Ekel gehen viele hausieren, z.B. rotten.com, Schadenfreude über die Blödheit anderer ist auch durch. Dann schaltete er den Fernseher ein, und bei einer besonders dummen Folge von Jackass kam ihm die zündende Idee: Er würde schlimme Dinge an sich selbst ausprobieren. Wie zum Beispiel Esswaren, mit denen aus unerfindlichen Gründen zwar gehandelt wird, die aber geistig gesunde Kunden nicht einmal mit der Kneifzange anfassen. Und dann zog er los, und sah sich nach dem Ekelhaftesten um, was sich auftreiben ließ.

So etwa gepökelte Schweineschwarte von der man zuerst gar nicht glauben kann, dass sie auf dem freien Markt erhältlich ist und nicht bloß am Hintereingang des Schlachthofs, dort, wo die Abfallcontainer stehen. Oder eine mexikanische Spezialität namens Huitlacoche. Sie besteht aus Maiskörnern, die von einem bestimmten Pilz befallen sind, wodurch sie zu grotesken Ausmaßen anschwellen und sich schwärzlich verfärben. Das Zeug sieht aus, als sei es zu Testzwecken neben dem Tschernobyler Sarkophag angepflanzt worden. Die leckere Soße, in der der Mutantenmais schwimmt, macht keine halben Sachen: Sie ist völlig schwarz.

Wie Menschen je auf die Idee kommen konnten, so etwas für essbar zu halten, wird nie völlig geklärt werden können, hat aber wahrscheinlich mit Umständen zu tun, unter denen nur noch verdorrtes Steppengras als Alternative zur Verfügung stand. Steven trotzt dem Ekel und zwingt sowohl die Schweinehaut als auch den/die/das Huitlacoche seine Speiseröhre hinab. Die Ergebnisse sind beim Schwein hoch unerfreulich: Nach den ersten glibberig-schwammigen Bissen verzichtet Steven auf weitere Testläufe und verlegt sich darauf, die Schweinehautfetzen auf einem Backblech zu einem Puzzle zu arrangieren, in der Hoffnung, so vielleicht das Schwein wieder zu rekonstruieren, von dem sie stammen.

Dabei überkommen ihn Depressionen, und er gibt die Sache auf. Huitlacoche schmeckt ungefähr genauso, wie er/sie/es klingt. Aber bei solchen Abenteuern endet der Wagemut Stevens nicht. Denn nicht nur in Supermarktregalen lauert der kulinarische Schrecken, er kann sich überall finden. Wenn andere eine vierzehn Jahre alte Frühstücksflockenpackung in ihrem Küchenschrank entdecken, dann werfen sie sie weg. Steven macht sie auf, um nachzuprüfen, ob der Inhalt noch essbar ist. Beim Kauen der Pampe freut er sich darüber, dass die Motive auf dem Verpackungskarton eigentlich schon von historischem Interesse sind, und die noch nicht verzehrten Reste verpackt er erneut, um den Langzeittest fortzusetzen.

Manche seiner Versuche haben auch hohen Informationswert. Wenn Alkohol in einem Gefängnis verboten ist, so heißt das nicht, dass Gefangene ganz darauf verzichten müssen, selbst wenn Schmuggel unmöglich ist. Denn es gibt ja "Gefängniswein". Mithilfe von Obststücken, Zucker, Hefe und Plastiktüten kann jeder innerhalb kurzer Zeit eine Plörre zusammenbrauen, die genug Alkohol enthält, um schnell betrunken zu machen.

Steven hält sich bei seinem Selbstversuch streng an die Regeln, und weil Hefe eine Substanz ist, die in Gefängnissen ebenfalls strikter Kontrolle unterliegt, nimmt er einfach eine selbst gemachte Gärungshilfe: lange getragene Tennissocken, gefüllt mit schimmligem Brot. Nach sieben Tagen enthalten die Testchargen zwischen 10 und 14% Alkohol. Steven ist zufrieden.

Der Witz an all dem ist natürlich nicht nur, dass hier einer mit so saudummen Experimenten seine Zeit verschwendet, sondern dass er auch darüber schreiben kann. Die überschwängliche Vulgarität, mit der der abscheuliche Steven sich ausdrückt, gleitet zwar manchmal in den dumpferen Männerhumor ab, macht aber meistens Spaß, und es ist nicht auszuschließen, dass das von ihm ausgelöste Gelächter schon Leben gerettet hat. Oder sogar ganz müde Abende im Netz, an denen so wenig los war, dass man sich schon für die Webauftritte von n-tv oder Spiegel Online zu interessieren begann. Worin dann Stevens eigentlicher Heroismus läge.