"Man sollte die Fähigkeiten der KP Chinas nicht unterschätzen"

Bild: Dong Fang/VOA/gemeinfrei

Der Sinologe Felix Wemheuer über chinesische Machtgefüge, Mao-Nostalgie und das neue Wettrüsten in Asien

Felix Wemheuer ist Sinologe und forscht an der Universität zu Köln, wo er seit 2014 den Lehrstuhl für Moderne China-Studien innehat. Habilitiert hat er zum Thema "Famine Politics in Maoist China and the Soviet Union". Zu Beginn des Jahrtausends studierte er zwei Jahre an der Volksuniversität in Beijing (Peking) am Institut der Geschichte der Kommunistischen Partei China. Seine neusten Veröffentlichungen sind der Reader "Marktsozialismus: Eine kontroverse Debatte" (Promedia) sowie eine überarbeitete Fassung von "Mao Zedong" (Rowohlt, ebook). Außerdem betreibt er den YouTube-Sender "Studying Maoist China".

Irgendwann im Juli 1921 wurde in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gegründet. Das genaue Datum liegt im Dunkeln, doch das offizielle Beijing beging am 1. Juli den 100. Jahrestag dieser kleinen Versammlung marxistischer Intellektueller, deren Beschlüsse die Welt verändern sollten. Was war Zhōngguó, das Reich der Mitte, zu jener Zeit für ein Land?

Felix Wemheuer: Offiziell heißt es heute in den Geschichtsbüchern, dass China vor 1949 ein "halbfeudales" und "halbkoloniales" Land war. Zwar wurde 1911 das Kaiserreich durch eine Republik ersetzt, aber schon wenige Jahre später gab es keine starke Zentralregierung mehr. In den Provinzen herrschten Warlords. China musste Teile des Staatsgebiets, besonders an der Ostküste, an ausländische Mächte abtreten oder diesen in sogenannten "Vertragsgebieten" exterritoriale Sonderrechte zugestehen.

Moderne Industrie war damals vor allem in Shanghai konzentriert, wo auch eine moderne Arbeiterklasse und Gewerkschaftsbewegung entstand. So ist es kein Zufall, dass die KPCh mit Unterstützung der Kommunistischen Internationalen (Komintern) dort gegründet wurde. Abseits der wenigen modernen Zentren war China damals eine traditionelle Agrargesellschaft.

Die Konkurrenz: Chiang Kai-shek

Der kleine Gründerkreis wuchs rasch an, und die neue Partei spielte schon bald eine wichtige Rolle im chinesischen Machtgefüge. Wie kam es dazu?

Felix Wemheuer: Bis in die 1930er-Jahre war die KPCh nur eine Akteurin unter vielen Kräften. Die Partei wuchs, nachdem sie 1924 ein Bündnis mit der nationalistischen Guomindang (GMD) eingegangen war. Die programmatische Grundlage dieser ersten Einheitsfront war das Ziel, China von Warlords und Imperialismus zu befreien. Die Komintern unterstützte den Aufbau einer neuen Armee mit Geld und Entsendung von Beratern.

Allerdings wandte sich der neue Führer der GMD, Chiang Kai-shek, 1927 gegen die KPCh und ließ in Shanghai Tausende Kommunisten und Mitglieder linker Bewegungen mithilfe der Mafia töten. Dadurch wäre die KPCh fast vernichtet worden und konnte nur überleben, weil sie sich in abgelegene Bergregionen zurückzog und dort revolutionäre Stützpunktgebiete aufbaute.

Zur neuen Basis der Partei wurde die Landbevölkerung, die durch eine Bodenreform gewonnen werden sollte. Zur Massenpartei von nationaler Stärke wurde die KPCh erst im Widerstandskrieg gegen Japan.

"Warum haben wir China verloren?"

Die USA setzten in den 1930er-Jahren und vor allem während des Krieges gegen die japanischen Invasoren (1937-1945) und im nachfolgenden Bürgerkrieg (1946-1949) ganz auf die Guomindang. Wäre diese Partei eine demokratische Alternative gewesen?

Felix Wemheuer: 1936 kam es zur Bildung einer zweiten Einheitsfront zwischen GMD und KPCh, um die japanische Bedrohung abzuwenden. Die sowjetische Führung hatte großen Druck auf ihre chinesischen Genossen ausgeübt, die zunächst vom Kampf gegen Chiang Kai-shek nicht ablassen wollten.

Interessanterweise unterstützen die USA nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 und dem folgenden Kriegseintritt im Pazifik beide Parteien und sahen die KPCh zeitweise als verbündete Kraft. Nach der japanischen Kapitulation 1945 drängen die USA und die Sowjetunion auf die Bildung einer Koalitionsregierung in China. GMD und KPCh wollten faktisch aber beide eine Alleinherrschaft durchsetzen und so kam es ab 1946 zum Bürgerkrieg.

Eine ernstzunehmende demokratische Alternative gab es nicht. Wichtige US-Berater waren von der GMD-Regierung wegen Ineffizienz, Korruption und ständigen Fraktionskämpfen schwer enttäuscht. Im Bürgerkrieg unterstützten die USA die GMD nur halbherzig. Der kommunistische Sieg von 1949 löste dann jedoch ein Trauma aus. Die Frage "Warum haben wir China verloren?" sollte die US-amerikanische China-Forschung noch Jahrzehnte beschäftigen.

Taiwan

Der Spiegel präsentierte unlängst zum KP-Jubiläum eine recht eigenwillige Neuinterpretation der Geschichte Taiwans. Die Insel habe sich 1949 von China losgesagt. Was ist seinerzeit tatsächlich geschehen?

Felix Wemheuer: Der Staat auf Taiwan heißt bis heute offiziell "Republik China". Nach der Niederlage im Bürgerkrieg zog sich die GMD-Führung 1949 samt der Armee nach Taiwan zurück. Sie haben sich damals von China nicht losgesagt, sondern planten im Gegenteil das Festland wieder von den "kommunistischen Banditen zu befreien".

Offiziell argumentierte die GMD, dass die chinesische Republik auf Taiwan weiter bestünde und die einzige rechtmäßige Regierung Chinas sei. Dieser Standpunkt wurde bis Anfang der 1970er-Jahre von fast allen westlichen Regierungen geteilt. Erst in den 1980ern entstand eine stärkere Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan, präsentiert durch die Demokratische Partei, die zurzeit die Präsidentin stellt.

Eine formale Unabhängigkeitserklärung von China erfolgte jedoch nie, weil die Regierung Taiwans weiß, dass ein solcher Akt wahrscheinlich zu einem Angriff der chinesischen Volksbefreiungsarmee führen würde.

Chiang Kai-cheks Truppen richteten 1947 auf Taiwan an der dortigen Zivilbevölkerung ein Massaker an, hatten auf der Insel also zunächst wenig Rückhalt. Wieso verzichteten die Kommunisten dennoch darauf, die GMD-Herrschaft auch dort zu stürzen?

Felix Wemheuer: Bis 1945 war Taiwan eine japanische Kolonie und wurde dann an die Republik China zurückgegeben. 1947 kam es zu diesem Aufstand und die GMD war zunächst unpopulär. Bis Oktober 1949 war die Volksbefreiungsarmee noch mit der Eroberung des Festlandes beschäftigt und die kommunistische Untergrundbewegung auf Taiwan war zu schwach, um gegen die Regierung etwas auszurichten.

Nach dem Ausbruch des Korea-Krieges 1950 sicherten die USA Taiwan, damals das "freie China" genannt, militärischen Beistand zu. Danach war der Regierung in Beijing klar, dass der Versuch Taiwan "zu befreien" in einen Krieg mit den USA münden könnte. 1958 drohte die US-Regierung nach militärischen Konflikten um kleine Inseln sogar mit dem Einsatz der Atombombe.

Außerdem konnte die GMD durch das taiwanesische "Wirtschaftswunder" seit den 1960er-Jahren stark an Legitimation gewinnen. Ich denke, die Unterstützung Taiwans durch die USA ist bis heute der Grund warum die Führung in Beijing vor einer "Vereinigung des Vaterlandes" mit militärischen Mitteln zurückschreckt.

Hungersnot und der "Große Sprung nach vorne"

1949 rief der KP-Vorsitzende Mao Zedong die Volksrepublik aus. Es folgten knapp drei Jahrzehnten raschen Aufbaus, schwerer Hungersnöte und bürgerkriegsähnlicher Jahre Ende der 1960er. Von außen betrachtet folgte die KP-Führung einem irren Zickzack-Kurs. Was waren die Ursachen und wie sahen die Folgen aus?

Felix Wemheuer: Die Phase von 1949 bis 1957 war sehr erfolgreich, was die Überwindung der wirtschaftlichen Folgen des Weltkrieges und des Bürgerkrieges anging. Mit sowjetischer Hilfe wurde eine schnelle Industrialisierung eingeleitet und es kam zu einem Modernisierungsschub durch Urbanisierung sowie Reform der Familienordnung.

Vergessen sollte man aber nicht, dass es während der Bodenreform zur Tötung von mindestens 250.000 "Großgrundbesitzern" kam und während der Kampagne zur "Unterdrückung der Konterrevolution" (1950-1953) nach offiziellen Angaben über 700.000 Menschen hingerichtet wurden.

Zwischen 1959 und 1961 brach dann durch die radikale Politik des "Großen Sprungs nach vorne" eine große Hungersnot aus. In den Jahren 1962 bis 1965 gelang es der Regierung erstaunlich schnell durch Getreideimporte aus dem Ausland und Wirtschaftsreformen die Versorgungslage wieder zu stabilisieren.

Mao fürchtete allerdings, dass sich in Partei und Gesellschaft "kapitalistische Tendenzen" herausbilden würden und löste im Sommer 1966 die Kulturrevolution aus. Während der Kulturrevolution erklärte die Partei die Politikwechsel mit dem "Kampf zweier Linien" zwischen der revolutionären und revisionistischen Linie in der KPCh. Heute wird vom Kampf zwischen guten Reformkräften und schlechten "ultralinken Radikalen" gesprochen, was im Prinzip die gleiche Erklärung mit umgedrehter Bewertung ist.

Diese Erklärung greift allerdings zu kurz. 1961 musste die Parteiführung und auch Mao einsehen, dass das Maximum der Ausbeutung der Landbevölkerung erreicht war, als die ländliche Hungersnot drohte, sich auf die Städte auszudehnen. In der Folge musste die Regierung massive Zugeständnisse an die Bauern machen wie die Wiederzulassung von privaten Parzellen zur Selbstversorgung innerhalb der Volkskommunen. Auch die Politik der Kulturrevolution vollzog mehrere Wenden, da sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse oft anders entwickelten als sich Mao das vorgestellt hatte.

Mao

Dennoch war bei den Alten, die vor 1949 geboren wurden, auch in den späten 1990er-Jahren noch eine große Verehrung für Mao zu spüren. Wieso?

Felix Wemheuer: Ich denke, diese Nostalgie gibt es vor allem in den ehemaligen Kernbelegschaften der Staatsindustrie. Das waren ca. 15 Prozent der Bevölkerung in der Mao-Ära. Sie genossen eine Rundumversorgung von der Wiege bis zur Bahre und ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Während der Hungersnot starben die Menschen in erster Linie auf dem Land.

Außerdem waren die Staatsarbeiter nicht in dem Maße Opfer von politischen Kampagnen wie Intellektuelle oder Bauern. In den 1990er leitete die Regierung eine große Privatisierungswelle ein und ca. 40 Millionen Menschen wurden entlassen. Da ist es kaum verwunderlich, dass viele Menschen aus dieser Gruppe die Mao-Ära idealisieren.

Kritik

Was ist heute noch an der Kommunistischen Partei kommunistisch? Zeitweise machte zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Neue Linke von sich reden, die einen aus ihrer Sicht zu kapitalfreundlichen Kurs der Parteiführung kritisierte. Vor ein paar Jahren entstanden an den Unis studentische Lesekreise, die sich mit Marx beschäftigten und Solidarität mit streikenden Arbeiter organisierten. Wie viel Kritik ist in China heute möglich?

Felix Wemheuer: Formal hält die Partei am Fernziel der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft immer noch fest. Allerdings steht bis 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China, erst mal die Errichtung einer modernen Industriegesellschaft und Aufrüstung der Armee auf "Weltklasse"-Niveau auf dem Plan.

Die Neue Linke ist in den 1990ern stark geworden, als ausländisches Kapital zur Haupttriebkraft des Wirtschaftswachstums wurde. Ihre bekanntesten Vertreter sind allerdings Professoren an Eliteuniversitäten. Sie haben die Parteiführung nie direkt angegriffen, sondern sehen sich eher in einer beratenen Funktion.

Die unabhängigen studentischen Marx-Lesekreise wurden schnell von den Behörden aufgelöst. Kritische Debatten gab es vor allem in Kleingruppen oder im Internet, solange sie keine breite Öffentlichkeit erreichten.

Diese Freiräume wurden seit 2012, als Xi Jinping die Führung übernahm, stark eingeschränkt. Früher wussten die Menschen, wo die "rote Linie" war, die sie nicht überschreiten durften; zum Beispiel TTT (Tibet, Taiwan, Tian’anmen-Massaker). Heute wissen die chinesischen Bürger oft nicht mehr, wo die "rote Linie" ist, da die Liste der Tabu-Themen ständig länger wird.

"Ob China im Jahr 2049 eine Weltmacht sein wird, bleibt abzuwarten"

Was ist aus den schüchternen Ansätzen geworden, zumindest in einigen Modell-Kommunen und -Kreisen, die Wahlen freier zu gestalten und auch Kandidaten zuzulassen, die nicht von der KP vorgeschlagen wurden?

Felix Wemheuer: Auf Dorfebene werden die Bürgermeister in direkten Wahlen von der Bevölkerung gewählt und es gibt auch in der Regel mehrere Kandidaten. In einigen Regionen funktioniert das gut, in anderen nicht. Das Problem sind auch Clanstrukturen oder dass lokale Unternehmer als Strongmen einen echten demokratischen Wettbewerb verhindern.

Auf den oberen Ebenen wie Städten wurden die Experimente mit Direktwahlen abgebrochen. Auch eine universitäre Selbstverwaltung gibt es in China nicht. Das hat schon eine gewisse Ironie, dass die gebildete Stadtbevölkerung nicht wählen darf, aber die Landbevölkerung.

Dabei behaupten Chinesen oft, dass es keine direkten Wahlen auf Landesebene geben könne, da die "ungebildeten Bauern" zur Demokratie nicht fähig seien. Die KPCh hält ihr System auch ohne direkte Wahlen auf nationaler Ebene für eine "sozialistische Demokratie".

Wo wird China 2049 stehen, und welche Rolle wird die KP Chinas dann spielen?

Felix Wemheuer: Hellsehen gehört nicht zu meinen Fähigkeiten. Westliche Beobachter haben seit 1989 schon oft den Zusammenbruch des "Regimes" vorausgesagt und damit Unrecht behalten. Man sollte die Fähigkeit der KPCh nicht unterschätzen sich in Krisen neu aufzustellen und aus ihnen gestärkt hervorzugehen; jüngstes Beispiel die erfolgreiche Eindämmung von Covid-19.

Ob China im Jahr 2049 eine Weltmacht sein wird, bleibt abzuwarten. Es ist fraglich, ob es Xi gelingen wird alle gesellschaftlichen Widersprüche durch die Verschärfung von Kontrolle zu befrieden. Das zunehmend aggressive Auftreten Chinas in Asien löst vor allem bei den kleinen Nachbarstaaten Angst aus und treibt sie zum Teil in ein Bündnis mit den USA.

Allerdings verstärkt auch die aggressive US-Außenpolitik gegen China und der Handelskrieg repressive Tendenzen in der Volksrepublik. Sie liefern der Regierung um Xi einen Vorwand, die Einheit der Nation zu beschwören und oppositionelle Kräfte als vom Ausland gesteuerte "Verräter" zu brandmarken.

Auf die Verstärkung der US-Militär-Präsenz im Pazifik im letzten Jahrzehnt regiert China mit einem gigantischen Programm zur Aufrüstung. In Asien kommt es zu einem neuen Wettrüsten. Im Moment sind die Aussichten nicht gerade rosig.

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