Marketisation in der Altenpflege
Erste große Studie über die Privatisierung aus den nordischen Ländern veröffentlicht
In den nordischen Gesellschaften ist doch so einiges anders. Jüngstes Beispiel: Eine große Gruppe von Wissenschaftlern hat sich zusammengetan, um eines der heißen politischen Eisen nüchtern und umfassend zu analysieren. Dutzende Experten aus Finnland, Schweden, Norwegen und Dänemark sowie kooperierende Fachleute aus Kanada, den USA, Großbritannien und Australien begründeten das Nordic research network on marketisation in eldercare (Normacare). Bei der ersten Zusammenkunft im Januar 2012 hatten sich die Experten geeinigt, das zu untersuchen, was "Marketisation" in der Altenpflege genannt wird. Und zwar in all seinen Belangen.
Soeben wurde die Studie mit dem Titel Marketisation in Nordic eldercare, herausgegeben von Gabrielle Meagher and Marta Szebehely, in Stockholm an der hiesigen Universität veröffentlicht. Sie hat das Zeug, zum Standardwerk (auch außerhalb Nordeuropas) zu werden und sollte von allen Beteiligten und Interessierten gerade in Deutschland zur Kenntnis genommen werden. Auch wenn viele der Grundlagen und Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Implikationen spezifisch "nordisch" und obendrein unterschiedlich in den einzelnen Ländern sind – die analysierten Zusammenhänge sind äußerst lehrreich.
Die Hoffnung gerade in Schweden und Finnland, Anfang der neunziger Jahre beide von schweren Finanzkrisen gebeutelt, zielte auf eine Kostenentlastung der öffentlichen Hände durch Liberalisierung und Marktorientierung (siehe auch meinen Artikel über die Privatschulen in Schweden). Gerade die sozialdemokratischen Parteien waren empfänglich, weil sie darauf hofften, den von ihnen geformten, teuren Wohlfahrtsstaat über diesen "Umweg" erhalten zu können.
Auch in Schweden gab es traditionell neben den öffentlichen auch private Anbieter, vor allem religiöse und andere nicht-profit-orientierte Organisationen waren es, die Altenheime betrieben. Doch die neu in den Markt eingetretenen profit-orientierten Firmen haben sich rasant ausgebreitet. Sie stellen derzeit mehr als ein Fünftel aller Plätze in Altenheimen und liefern ein Fünftel der Pflegestunden in öffentlich finanzierter häuslicher Pflege. Attendo und Carema, beide im Besitz von Risikokapitalgesellschaften, beherrschen den Sektor der privaten Altersheime – sie kommen zusammen auf fast die Hälfte aller Plätze. In der häuslichen Pflege dagegen sind es die vielen kleinen Privatunternehmen, oft mit weniger als zehn Beschäftigten, die den Markt prägen.
Obgleich in Schweden verschiedene staatliche Einrichtungen seit 2009 geradezu hektische Aktivitäten in Sachen Regulierung und Aufsicht entfalteten und über 50 Berichte ausspuckten, bemängeln die Normacare-Fachleute deren Wert. Es gibt keine brauchbare und angemessene Erfassung dessen, was als Qualität gelten kann und soll, keine Berücksichtigung der sozialen Kontexte sowie der Folgen. In Sachen der oft beschworenen Wahlfreiheit, die durch den Wettbewerb ermöglicht werde, bleibt unberücksichtigt, wie Menschen verschiedener Herkunft ihre Informationen finden und ihre Entscheidungen herbeiführen.
Auf der "Kunden"-Ebene sind auf nationaler Ebene bisher keine Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten Betreibern von Altersheime verzeichnet worden. Weil die Thematik eine drängende ist, hat sich das öffentliche Fernsehen ihrer angenommen und die kleine Serie Sveriges bästa äldreboende (Schwedens bestes Altenheim) ausgestrahlt. Binnen vier Monaten sollte das ganz gewöhnliche Altenheim "Smedsberget" in der nördlichen Kleinstadt Lycksele unter Anleitung von Experten zum Musterbeispiel werden. Eine Million Zuschauer zog die letzte Folge an, mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Schwedens.
Vor diesem Hintergrund ist nicht überraschend, dass der Normacare-Report ("The first effort to comprehensively document the process of marketisation in Sweden, Finland, Denmark and Norway.") zu einem ernüchternden Schluss gelangt: Bisherige Untersuchungen hätten nicht die Hoffnungen bestätigt, die von den Befürwortern der Privatisierung geäußert wurden. Immerhin seien weniger negative Folgen aufgetreten, als es etwa im angelsächsischen Raum der Fall gewesen ist.
In Schweden ist "Vinst i välfärden" (Profit im Sozialbereich) durch mehrere Skandale in der Altenpflege längst zum wiederkehrenden Thema geworden. Geschürt wurde die Problematik durch die jüngsten Ereignisse im Privatschulbereich, wo die Behörde zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität nun gegen den Schulkonzern JB Education AB ermittelt, der von seiner dänischen Risikokapital-Mutter Axcel kurzfristig in den Konkurs geschickt worden war. Über 11.000 Schüler und 1.600 Angestellte waren betroffen. Insgesamt ist die Bevölkerung deutlich kritischer als die politische Klasse: Mit 62 Prozent sprachen sich fast zwei Drittel dagegen aus, dass Profite in der Gesundheitspflege, im Schulwesen und im Sozialbereich möglich sein sollen. Durchaus denkbar, dass diese Thematik eine Rolle bei den Reichstagswahlen im September 2014 spielen wird.