Marktwirtschaft und Corona
"Abwärtsspirale" - Und die soll ausgerechnet ein Nukleinsäure-Partikel erzeugt haben? Woran man sich erinnern sollte, Teil 2
Wirtschaftsminister Altmaier, der gerade mit Maßnahmen, die gemeinhin eher dem Staatssozialismus zugeschrieben werden, den Kapitalismus zu retten bemüht ist, hat bezeichnenderweise darauf hingewiesen, es sei in der Corona-Krise "falsch, alle marktwirtschaftlichen Prinzipien zu vergessen". (Welt, 20.3.20). Folgen wir seinem Appell und halten wir das Folgende fest und in Erinnerung.
Man soll ruhig kritisch im Hinterkopf behalten, dass z.B. in Belgien - in Befolgung eines marktwirtschaftlichen Prinzips - wenige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie sechs Millionen FFP2-Masken aus Lagerbeständen anlässlich der Schweinegrippe 2009 wegen Ablaufdatum vernichtet und aus Kostengründen nicht ersetzt wurden (FAZ, 24.3.20). Wahrscheinlich planten die Behörden im Fall des Falles eine Just-in-time-Bestellung bei Amazon Prime ein.
Natürlich macht sich im Abbau von Betten und in der Überlastung des Personals der privatisierten Krankenhäuser eine kaufmännische Kostenorientierung bemerkbar. Diese Art Kapitalismus im Gesundheitswesen wird derzeit umfassend zum Thema gemacht und kritisiert. Das ist aber weit weniger als die halbe Antwort auf die Frage, warum, wie es heißt, ausgerechnet ein Virus den gesellschaftlichen Ausnahmezustand auslösen oder "die Systemfrage stellen" (FR 26.3.20) soll.
Es ist zugleich zu beobachten, wie sich weite Teile der Kritik von unten mit einer Selbstkritik von oben treffen, welche die Mängel bei der staatlichen Gesundheitsvorsorge einräumt und eine Abhilfe verspricht, die das medizinische Personal ausweitet und besserstellt, Anteile der globalisierten Arznei-Produktion ins Land zurückholt oder sogar die Privatisierung zu überdenken bereit ist. Keine leeren Worte übrigens angesichts der Lage, in der die politischen Entscheider von heute auf morgen daheim und auswärts Gesellschaft und Wirtschaft hineingeraten sehen und die in einem unbeherrschten Virus ihren Ausgang hat.
Mögen sie anfänglich noch zwischen Volksgesundheit und Wirtschaftswachstum hin- und hergeschwankt sein, so geben die politische Verantwortlichen inzwischen dieser Gesundheit den Vorrang - sogar zum Schaden des geliebten Wachstums -, weil deren Erhalt angesichts der prekären Situation die Bedingung des weiteren Gesellschafts- und Wirtschaftslebens ist. Im Kampf gegen das Virus kommt die Politik nicht umhin, seiner Logik zu folgen, deshalb gleicht sie sich in den verschiedenen Industriestaaten ziemlich an (und nur die Bolsonaros glauben noch, es wegpusten zu können).
Das moderne Wirtschaftsleben finanziert sich wesentlich aus jeder Menge Kredit
Dabei ist Sars-CoV-2 nur ein Naturding, das Zellen befällt, seinen Wirt oft, aber nicht immer zum Kranken macht und ihn vergleichsweise selten umbringt. Es nagt jedoch nicht an Produkten und Produktionsmitteln, noch nicht einmal an Sparbüchern oder anderen Geldanlagen.
Ein mittelständisches oder Großunternehmen hätte zwar keine Garantie, dass jeder Einzelne vom Manager zum Mitarbeiter unbeschadet durch eine Pandemie käme. Zulieferung, Produktion, Verkauf oder Dienstleistung wären zwar beschädigt oder unterbrochen, folglich auch die Umsätze, Gewinne und Lohnzahlungen. Das würde bedeuten, dass die unterschiedlich Betroffenen eine bestimmte oder unbestimmte Zeit von ihren Rücklagen sowie betrieblichen und gesellschaftlichen Reserven leben müssten.
Daran erinnert ja das altmodische, den Grundschülern aber durchaus noch vermittelte "marktwirtschaftliche Prinzip", man spare in der Zeit, dann habe man in der Not. Und so könnte nach glücklich errungenem Sieg über das Virus der Laden mit einem blauen Auge wieder anlaufen.
Jeder weiß aber, dass dieses Szenario bestenfalls der Kapitalismus der schwäbischen Hausfrau ist. Jeder dritte Erwerbsfähige, so liest man, komme mit seinem Einkommen gerade mal bis zum Monatsende, Sparbücher sind da nicht drin, und die entsprechenden Goldschätze bestehen aus den Eheringen. Auch die Löhne und Gehälter der anderen Normalbürger fallen dank des ökonomischen Prinzips der Kostensenkung nicht allzu üppig aus.
Vor allem aber finanziert sich das moderne Wirtschaftsleben wesentlich nicht aus Rücklagen oder Einkünften, sondern aus jeder Menge Kredit. Den haben Banken "geschöpft" und stellen ihn als eigenes Geschäft einem unternehmerischen Konkurrenzkampf zur Verfügung, der darin besteht, mit beständig erneuerten Produktionsmethoden Preise zu unterbieten, den Absatz zu erhöhen und die Mitbewerber auszustechen.
Der Verantwortliche eines Automobilkonzerns fasste diesen marktwirtschaftlichen Normalzustand in die Worte, es gebe zwar zu viele Autos, aber zu wenige BMWs. Im Fortgang dieses Gegeneinanders ist die sog. Realwirtschaft, genauer: ihre gelingenden und wachsenden Erträge, zur Basis eines anschwellenden Finanzüberbaus geworden, der das Rennen seinerseits antreibt.
Das Virus und der Test mit der grenzenlosen Verschuldung
Diese Art Wachstum hat inzwischen so ziemlich jede gesellschaftliche Regung zu einem Moment seines weiteren Gelingens gemacht und diesem untergeordnet. Der Normalmensch dient ihm nicht nur als abhängig Beschäftigter, sondern auch als Konsument, mit seinen Freizeitvergnügungen oder als Urlauber, der sich wieder fit für die Erwerbstätigkeit macht. Kitas, die natürlich kostenbewusst finanziert werden müssen, sind zur Bedingung dafür geworden, dass heute fast genauso viele Frauen wie Männer - mit zugehörigem Gender Pay Gap - dem Erwerbsleben zur Verfügung stehen, also neben ihrem Lohn auch dringend benötigte Gewinne erwirtschaften.
Das Gesundheitswesen soll die Erwerbsfähigkeit erhalten und im Idealfall dabei auch noch Geldüberschüsse erzeugen. Der Straßenbau, der selbst eine Quelle für Gewinne ist oder von Staats wegen zunehmend sein soll, sorgt zwar für chronische Staus auf dem Weg zur Arbeit und in die Freizeit. Dieselben zeigen allerdings den Erfolg der Autokonzerne an, der die Bedingung der entsprechenden Arbeitsplätze ist usw.
Auch die mediale Information und Unterhaltung des Volks wurde weitgehend Geschäftssphäre. Das Wohnen, Grundbedingung für Leben, Arbeit und Erwerb, ist das sowieso und sorgt für Mieten, die sich viele dort nicht leisten können, wo sie arbeiten müssen. Nur über diese permanente Gelderzeugung und -vermehrung, die im beständigen Gegensatz der Erwerbsbürger zueinander erfolgt, existiert und vermittelt sich der gesellschaftliche Zusammenhang.
Und dann kommt das Virus, und seine Bekämpfung unterbricht an einigen der skizzierten Stellen diesen spezifischen Zusammenhang. Etliche Produzenten und Verbraucher, Zulieferer und Abnehmer, Dienstleister, Mieter und Kreditrückzahler, darüber dann auch Vermieter, Prämiensparer, größere Geldbesitzer und schließlich das Kreditgewerbe selbst geraten in die Klemme und können oder wollen ihren jeweiligen Beitrag zum "marktwirtschaftlichen Prinzip" nicht mehr leisten. Was folgt, nannte sich bei der Krise vor zehn Jahren "Blick in den Abgrund" und heißt allgemein "Abwärtsspirale". Und die soll ausgerechnet ein Nukleinsäure-Partikel erzeugt haben?
Der Staat will die Spirale aufhalten und legt "alle Waffen auf den Tisch" (Finanzminister Scholz), finanziert also mit einer gigantischen und unabsehbaren Verschuldung viele der Leistungen, welche die konkurrierenden Wirtschaftssubjekte nicht mehr füreinander erbringen - und demnächst auf gewohnte Weise wieder sollen. Deshalb dürfen wir ja, siehe oben, "die marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht vergessen". Die Finanzwelt und ihre Profiteure erleben diesen Rettungsversuch nicht zum ersten Mal, der darauf zielt, dass sie sich von der Geldmacht des Staates erneut beeindruckt zeigen und keine "Kernschmelze des Geldes" einleiten.
Inzwischen gibt es zu dieser ökonomischen Gratwanderung sogar eine Wissenschaft namens Modern Monetary Theory, die sagt, dass Staatsschulden grenzenlos sein können. Wir erleben zur Zeit einen entsprechenden Praxistest. Das Dumme ist nur, dass es jede Menge Leute gibt, die einen hohen Preis dafür zahlen müssen.