Marokko fürchtet weitere Anschläge
Nach den Selbstmordattentaten stehen Marokkos Polizei und Militär in erhöhter Alarmbereitschaft, weitere Anschläge könnten dem Tourismussektor schaden
Nicht nur die Bewohner Casablancas, wo sich am Samstag zwei Bomber in der Nähe US-amerikanischer Einrichtungen in die Luft jagten, herrscht Ungewissheit. Jederzeit und überall kann mit neuen Anschlägen gerechnet werden. Attentate auf Ferienhotels in Agadir oder Tanger, von denen die Behörden in der Vergangenheit mehrere vereitelten, wären eine Katastrophe für das Land, das ökonomisch gerade den Aufbruch plant. Der Tourismussektor wird ausgebaut und soll auch in Zukunft eine der wichtigsten Einnahmequellen Marokkos bleiben.
Egal wohin man derzeit innerhalb Marokkos fährt, nach wenigen Kilometern wird man auf eine Straßensperre angehalten. Ob am Ortsein- oder –ausgang, an fest eingerichteten oder an mobilen, oft wechselnden Kontrollen mit Polizisten auf Motorrädern. Jedes Auto wird gestoppt, Papiere, die Identität der Insassen überprüft und der Inhalt des Kofferraums inspiziert. Ausnahmen gibt es keine.
Obwohl Verspätungen vorprogrammiert sind und es nervt, alle paar Kilometer anzuhalten und auszusteigen, lassen die Menschen alles geduldig über sich ergehen. „Ist ja zu einem guten Zweck“, sagt Youness, ein LKW-Fahrer, der auf dem Weg von Tanger nach Tetouan schon seinen fünften Kontrollpunkt hinter sich gebracht hat. „Und auf die LKWs haben sie’s besonders abgesehen“, sagt er lächelnd, als er mit den Papieren in der Hand wieder in die Fahrerkabine steigt. „Wir könnten ja jemand versteckt haben oder Illegales transportieren."
In den Städten stehen Polizisten, teilweise auch Soldaten, vor allen öffentlichen Gebäuden und ausländischen Institutionen. In unmittelbarer Nähe der bewachten Objekte herrscht seit Wochen striktes Parkverbot, um Autobomben vorzubeugen. In Tanger hat das Spanische Kulturinstitut Cervantes eine eigene Sicherheitsfirma beauftragt, die alle Besucher kontrolliert. Sogar teure Durchleuchtungsanlagen aufgestellt, wie man sie von Flughafen nur zu gut kennt. „Das machen wir hier schon länger“, erklärt der Mann in Uniform. „Nicht erst seit letzter Woche.“
Knapp 10 Gehminuten vom „Instituto Cervantes“ entfernt, liegt das „American Language Center“ (´ALC. Hier gibt es keine Sicherheitsleute, geschweige denn eine Röntgenanlage. Am großen, eisernen Tor steht niemand, der Personen kontrolliert. Nur draußen auf der Strasse schlendern zwei Polizisten auf und ab, die sich aber wohl eher über die neusten Fußballergebnisse unterhalten, denn darum kümmern, wer die Englischschule betritt. Dass die Partnerschule des ALC am letzten Samstag in Casablanca Ziel eines der beiden Selbstmordattentäter war, scheint für sie kein Thema zu sein.
Im Lehrerzimmer wird dagegen über den Angriff in Casablanca diskutiert. „Man weiß nie, ob diese Verrückten nicht eines Tages hier auftauchen“, sagt ein Lehrer mit eher besorgtem Gesicht. „Denen ist es doch egal, dass die meisten Lehrer und der überwiegende Teil der Schüler hier in Tanger wie auch in Casablanca Marokkaner sind." Die Kollegen, die sich gerade auf die bevorstehenden Abendkurse vorbereiten, stimmen einhellig zu. „Man sollte mehr an die Sicherheit denken“, meint eine junge Lehrerin aus den USA, die seit etwa einem Jahr in Tanger unterrichtet.
Der Direktor des ALC, Richard Netherlin, ist sich noch nicht schlüssig, welche Maßnahmen denn wirklich effektiv wären und tatsächlichen Schutz liefern würden. „Der Attentäter in Casablanca ist zwar zum ALC gegangen, hat aber nicht versucht, dort einzudringen. Er hat sich weiter weg in die Luft gejagt. Scheinbar um sicherzugehen, dabei niemand anderen zu töten oder zu verletzen.“
Maßnahmen gegen den Terrorismus
Neben den gängigen Sicherheitsvorkehrungen setzt Marokko dieser Tage auch auf etwas ungewöhnliche Maßnahmen. Offensichtlich will man das Problem des islamistischen, militanten Extremismus mit allen nur erdenklichen Mitteln in den Griff bekommen.
Beamte von Gemeinden und Stadtvierteln ziehen von Haus zu Haus. Mit bürokratischer Beflissenheit werden Anzahl und Namen aller Bewohner eines jeden Haushaltes aufgenommen. Sogar Kindermädchen, Haushaltshilfen, Köchinnen, Gärtner, Wächter oder Chauffeure, sofern es sie denn geben sollte. „Wir wollen vermeiden, dass sich böse Menschen einschleichen“, sagt Mohammed C., nachdem er mir vor meiner Haustür ohne Aufforderung seinen Ausweis mit Foto und Stempel hingehalten hatte. Er sagte das mit einem nicht zu übersehenden Augenzwinkern, als müsste ich sofort wissen, wovon er spricht.
Eine Art improvisierte Volkszählung als Kontrollmaßnahme und Vorbeugung. Offensichtlich tun sich die marokkanischen Behörden immer wieder schwer, den Aufenthalts- oder Wohnort einiger Verdächtiger und ihrer Familien herauszufinden. Nun durchkämmen die unteren Beamten ihre Viertel und Dörfer im ganzen Land bis zum letzten Haus. Ob das viel bei der Verfolgung von Islamisten bringen wird, steht zu bezweifeln. Wer illegal unterwegs ist, wird sich kaum melden, wenn der staatliche Vertreter an die Tür klopft.
Die marokkanische Polizei konnte sich bisher auf das Spitzelsystem, das noch aus der Zeit von König Hassan II. und seinem allgegenwärtigen Geheimdienst stammt, sehr gut verlassen. Außerdem existiert ein ganz normales, soziales Informationsnetz. Jeder Bewohner eines Stadtviertel oder Dorfes hat seine Quelle, aus der er die neuesten lokalen Ereignisse erfährt. Ein soziales Nachrichtennetzwerk, dem nichts entgeht. Ob sich jemand ein neues Auto oder ein neues Motorrad kauft, ein Kind geboren wird, sich jemand scheiden lässt, wer, wie oft in die Moschee geht oder welcher Nachbar gerade von einigen unbekannten Männern seit geraumer Zeit Besuch hat.
Zusammen mit den rigiden Verhörmethoden der Polizei und einiger „Undercover-Agenten“ des Geheimdiensts ergibt sich das „Erfolgsrezept“ der marokkanischen Behörden. In den letzten vier Jahren wurden über 50 Attentatsversuche im In- und Ausland auf Ferienhotels und Militärschiffe in der Meerenge von Gibraltar rechtzeitig entdeckt.
Einnahmequelle Tourismus
Größere Anschläge, gerade auf Tourismuseinrichtungen, würden dem Urlaubsziel vieler Europäer zutiefst schaden. Um knapp 10 Prozent steigt jedes Jahr die Zahl der Marokkourlauber. 2006 wurden 6,4 Millionen erwartet. Adil Douri, der Tourismusminister, sagte, man würde mit dem Bau neuer Unterkünfte den Besucherzahlen hinterher hinken. Nach der Freigabe des Luftraums an nicht-nationale Fluggesellschaften erwartet man im Jahr 2010 10 Millionen Touristen. Dafür müsste die Bettenkapazität pro Jahr um 15.000 bis 17.000 gesteigert werden. Zurzeit schafft man nur etwa 10.000 Betten. Die Billigflieger von „easyJet“ und „Rynair“ fliegen bereits auf einige Routen, werden aber weiter ausbauen und sollen alleine 1,2 Millionen Besucher nach Marokko bringen.
Um die Quote doch noch zu schaffen, wird die bisher verwaiste Region an Atlantik- und Mittelmeerküste um die nordmarokkanische Hafenstadt Tanger erschlossen (Wiederwachen der "Weißen Stadt"). Neben dem drittgrößten Containerhafen am Mittelmeer investiert man in mehre Luxus-Resorts mit Villenanlagen, Swimmingpools und Golfplätzen. Entlang des Atlantiks bis in die knapp 30 Kilometer entfernte Stadt Asliah werden 12 Hotelkomplexe gebaut, für jeweils 24 Millionen Dollar.
Am Mittelmeer, nur wenige Kilometer von Tanger, mit atemberaubendem Blick auf die Bucht der Stadt und über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien, investiert man 600 Millionen Dollar für luxuriöse „Housing-Projekte“. Der alte Hafen von Tanger wird Yacht- und Sporthafen. Der neue Tanger-Med wird deshalb in ein 500 Quadratkilometer großes Gewerbe- und Industriegelände mit verschiedenen Freihandelszonen eingebettet. Investitionen kommen aus den Arabischen Emiraten, Frankreich, Spanien, den USA und natürlich auch aus Marokko. Aber auch für Wintersportler wird vorgesorgt. Wer sich nicht mehr auf die Schneeverhältnisse in Europa verlassen will, kann in Zukunft im schneesicheren Gebirge des Atlas Skifahren. Dort baut man an neuen Skigebieten.
Für Marokko ist die Ausweitung des Tourismus eine existenzielle Frage. Etwa 35 Prozent der Bevölkerung gelten als arm, 40 Prozent können nicht Lesen und Schreiben. Das Land muss in den nächsten 15 Jahren jedes Jahr 400.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Rund 4 Millionen Menschen leben in slum-ähnlichen Ghettos an den Rändern der Großstädte.
Nach den Anschlägen vom 16. Mai 2003 in Casablanca, bei denen 32 Menschen getötet wurden, hatte die Regierung versprochen die Menschen der städtischen Slums, aus denen die Attentäter kamen, umzusiedeln. Bisher konnten aber nur einige tausend in neue Wohnungen umziehen. Das Bruderpaar, das sich am Samstag in Casablanca selbst in die Luft jagte, stammte erneut aus Sidi Moumen, demselben Slum wie die Attentäter von 2003. „Die Regierung hat nichts Ernsthaftes getan“, sagt Ali Amar, ein Redakteur der unabhängigen Wochenzeitschrift „Le Journal“, „die Brutstätte der Bedrohung in den Vororten von Casablanca auszurotten."