MeToo und Medien: War der Skandal um Till Lindemann eine perfide Verlagsstrategie?

Süddeutsche zu Lindemann. Ging es um Abos? Bild: Screenshot

Von Sex-Missbrauch bis Antisemitismus: Oft verlaufen mediale Skandale juristisch im Sande. Ein Anwalt hat nun eine brisante Theorie. Ein Telepolis-Leitartikel.

Der Skandal um den Comedian Luke Mockridge im September 2021, der Skandal um Rammstein-Frontmann Till Lindemann Ende Mai 2023, der Skandal um den bayerischen Politiker Hubert Aiwanger Ende August 2023 – all diese politischen und medialen Aufreger haben eines gemeinsam: Die Vorwürfe sorgten für großes Aufsehen, nach wenigen Monaten aber war von ihnen kaum noch etwas übrig. Die gerichtliche Entlastung der Beschuldigten interessierte kaum noch jemanden.

Eine weitere Parallele könnte hinzugefügt werden: Oft sind es dieselben Medien, die die Skandale aufbauschen. Fast immer das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, oft die Süddeutsche Zeitung, manchmal der NDR.

Nun hat der Berliner Medienanwalt Simon Bergmann, der Lindemann erfolgreich gegen mangelhaft recherchierte und nicht hinreichend faktengedeckte Anschuldigungen der genannten und weiterer Redaktionen vertreten hat, hat nun schwere Vorwürfe gegen die verantwortlichen Medienhäuser erhoben: Sie skandalisierten gezielt Fälle angeblichen sexuellen Missbrauchs, um Klicks und Abos zu generieren. Dafür nutzten sie die ohnehin umstrittene Metoo-Bewegung quasi als Marketinginstrument.

Bergmann dazu: "Das Thema ist attraktiv und das Interesse der Leserschaft garantiert. Mir fällt auf, dass diese Geschichten meistens hinter einer Bezahlschranke sind. Diverse Artikel werden mit dem Schlagwort MeToo gelabelt, ob es sich um Mobbing oder sexuellen Missbrauch handelt."

Der Vorwurf ist so bemerkenswert wie der Ort, an dem er erhoben wird: Dass ausgerechnet die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) dem deutschen Medienjuristen Bergmann ein Podium bietet, ist ein Armutszeugnis für die deutschen Medien. Es braucht den Blick von außen, um die Missstände im eigenen Betrieb zu benennen.

Denn hierzulande wird die Entwicklung des deutschen Journalismus kaum kritisch hinterfragt. Im Gegenteil: Medienpolitische Angebote wie das Portal Übermedien verteidigen – trotz offensichtlicher Widersprüche wie im Fall Mockridge – das Vorgehen der verantwortlichen Redaktion.

Das ist verheerend, denn überbordende und schädigende Verdachtsberichterstattung ist geeignet, erheblichen Schaden anzurichten: bei den Betroffenen, den Opfern und den angeblichen Zeugen und Zeuginnen, die mutmaßlich aus unternehmerischen Interessen missbraucht werden.

Doch die Debatte über Skandalberichterstattung muss geführt werden: Sei es wegen angeblicher sexueller Übergriffe wie in den Fällen Mockridge und Lindemann, sei es wegen angeblicher antisemitischer Verfehlungen wie im Fall Aiwanger.

Anwalt Bergmann: Gezielt Skandale von MeToo-Fällen?

Es sei bei der Berichterstattung im Fall Lindemann um Mädchen gegangen, die bei den Konzerten für die After-Show-Partys ausgewählt wurden, gibt Bergmann gegenüber der NZZ an, einige von ihnen hätten mit Till Lindemann Sex gehabt: "Darüber kann man sich echauffieren, man kann den moralischen Zeigefinger erheben. Muss ein 60-Jähriger mit einer 22-Jährigen wirklich Sex haben nach oder während eines Konzerts?" Die moralische Frage müsse jeder selbst bewerten, da gebe es kein Richtig oder Falsch.

Und dann holt Bergmann zum ersten verbalen Frontalangriff auf die neue deutsche Skandaljournaille aus. Nach den Prozessen stellten es die entsprechenden Medien gerne so dar, als hätten sie gewonnen und die Berichterstattung über das Casting-System oder die Groupie-Kultur erfolgreich verteidigt.

"Aber das ist falsch", so Bergmann: "Wir haben diesen Teil der Berichterstattung nie angegriffen, weil uns klar war, dass die Beschreibung mehr oder weniger stimmt." Dazu könne jeder seine eigene Meinung haben. "Bei strafrechtlichen Vorwürfen hingegen erwarte ich, dass Journalisten hinreichend recherchieren und es genügend Indizien gibt für den Verdacht, den man erhebt", fügte er an.

Journalisten könnten eben nicht ohne weiteres über einen unbewiesenen Vorwurf schreiben. Die Anforderungen im Presserecht seien hoch, so Bergmann in der NZZ: Laut dem deutschen Bundesgerichtshof ist ein Verdacht ähnlich schlimm wie eine Verurteilung."

Es bleibe für den Angeschuldigten immer etwas hängen, selbst wenn sich später herausstelle, dass die Vorwürfe nicht zuträfen. "Das trifft besonders auf einen Vergewaltigungsvorwurf zu", fügte der Presserechtsexperte an: "Den werden Sie nicht mehr los. Der Verdacht bleibt in den Köpfen der Leute."

Bergmanns konkreter Vorwurf: "Der Spiegel beschäftigt mehrere Journalistinnen, die speziell zu MeToo-Fällen recherchieren. Mit dieser Verdachtsberichterstattung werden digitale Abos generiert, und zwar in erheblichem Maß."

Telepolis hatte Vorgehen der Süddeutschen schon früh hinterfragt

Diesen Verdacht hatte Telepolis mit Blick auf die Fall Aiwanger (Antisemitismus) und Lindemann (sexueller Missbrauch) schon früh geäußert. Ende August stellten wir unter dem Titel "Aiwanger, Lindemann und die Süddeutsche Zeitung: Der Skandal als Geschäftsmodell" fest, der "Fall Aiwanger" sei eben auch ein "Fall SZ" – und zeige "bedenkliche Tendenzen im Journalismus" auf:

Die naheliegende Doppelfrage muss nach zwei Daten gestellt werden: Warum skandalisiert die Süddeutsche Zeitung als einzige überregionale Zeitung mit einem klaren landespolitischen Bezug, also in ihrer Funktion als bayerisches Medium mit bayerischer Zielgruppe, nach 35 Jahren ein Flugblatt - und das sechs Wochen vor einer Wahl, bei der Aiwanger bislang auf einen Erfolg hoffen konnte?

Auf andere Art formuliert: Wer glaubt, dass die SZ-Journalisten Katja Auer, Sebastian Beck, Andreas Glas und Klaus Ott sowie ihre Redaktionsleiter Judith Wittwer und Wolfgang Krach die Story zufällig zu diesem Zeitpunkt lanciert haben, darf getrost auch glauben, dass der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin zwei Monate nach einem Putschversuch gegen Wladimir Putin zufällig vom Himmel gefallen ist.

Die Story selbst, so konstatierten wir damals, sei absolut dünn. Das zeige schon der Teaser vor der SZ-Bezahlschranke. Aiwanger "soll" das antisemitische Flugblatt geschrieben haben. Verbreitet es "offenbar": "Das alles "deutet auf ein Dokument hin", das – Teufen nochmal! – "nun aufgetaucht ist". Dass solche Schriftstücke "nun" immer vor Wahlen "auftauchen", ist ein von Natur- und Parawissenschaftlern völlig unzureichend erforschtes Phänomen.

Nach der schwachen und rechtsstaatlich nicht verifizierten Rammstein-Lindemann-Story verfestige sich mit der Aiwanger-Berichterstattung ein anderer, verheerender Verdacht, so Telepolis: "Setzt die Süddeutsche Zeitung angesichts der hohen Abhängigkeit von zahlenden Abonnenten und rückläufiger Verkaufszahlen auf einen als Investigativjournalismus verbrämten Kampagnenjournalismus, um den Abonnenten Dramen und Skandale zu liefern?"

Dieser Verdacht hat sich mit dem NZZ-Interview weiter erhärtet.

Die Frage ist: Wer hat den Mut, diese. Fehlentwicklung im Journalismus anzuprangern?

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