Medien ohne Funktion
Die jüngsten Auseinandersetzungen um den Spiegel-Artikel zu Marina Weisband zeigen vor allem eines: Es gibt ein schweres Missverständnis über die Rolle des Journalismus in der Gesellschaft.
Marina Weisband, die Piratenvorsitzende der Herzen, hat sich mit einer Mitarbeiterin des "Spiegel" getroffen. Die beiden haben eine Weile in einem Café zusammengesessen, die Journalistin hat viel gefragt und die Piratin hat viel erzählt. Dann sind beide wieder ihrer Wege gegangen und die Journalistin hat, das ist nicht wirklich überraschend, einen Artikel über das Treffen geschrieben.
Leider hat sie sich in diesem Artikel nicht auf die Dinge konzentriert, die ihrer Gesprächspartnerin wichtig gewesen wären, sondern darüber geschrieben, was sie selbst interessiert hat, oder was sie für ihre Leser interessant fand. Außerdem hat sie nicht das aufgeschrieben, was Frau Weisband sagen wollte, sondern das, was bei ihr als Journalistin ankam.
Das ärgert Frau Weisband, sie schimpft über Verdrehungen und Verkürzungen und Verfremdungen. Die Journalistin, Merlind Theile, setzt sich zur Wehr, verweist auf die Autorisierung der Zitate, die sie verwendet hat. Es wird im Moment viel darüber gestritten, wer von beiden nun recht hat und wer lügt, aber das geht am Kern der Sache vorbei. Niemand behauptet ja, dass die Piratenpolitikerin während des Gesprächs tatsächlich das wörtlich gesagt haben müsse, was nun im Spiegel steht. So haben beide Seiten ihre Wahrheit, und von Lüge, selbst von Verdrehungen zu reden, trifft nicht das Problem, das eigentlich diskutiert werden müsste.
Medien sind keine Sprachrohre
Marina Weisband und ihre Anhänger glauben offenbar, die Medien seien im besten Fall so etwas wie ihr Sprachrohr, sie hätten zu berichten, wahrheitsgetreu und unverfälscht, was die politischen Akteure sagen wollten. Wenn Frau Weisband mit einiger Empörung darauf hinweist, dass Frau Theile die wichtigen Dinge einfach weggelassen hat, dann schwingt darin die Gewissheit mit, sie, die Politikerin, habe zu entscheiden, was für die Leser des "Spiegel" wichtig sei und was die Journalistin diesen Menschen mitzuteilen hätte.
Natürlich nehmen alle Politiker diese angebliche Funktion der Medien nur für sich selbst in Anspruch, den politischen Gegner dürfen, ja, sollen die Zeitungen und Sender gern entlarven, da sollen sie gern aus dem Redeschwall das herausfischen, was der Politiker eigentlich "wirklich" sagen wollte, was in den vielen geäußerten Halbsätzen aber verborgen oder nur angedeutet bleiben sollte.
Journalistische Medien haben aber keine "Funktion" in diesem Sinne. Journalisten fühlen sich - vielleicht und hoffentlich - einer gewissen Wahrhaftigkeit und Redlichkeit verpflichtet, aber sie haben nicht "die Aufgabe", irgendeine "Wahrheit" zu verbreiten, und schon gar nicht die "Wahrheit" der Politiker und der politischen Aktivisten. Jenseits der staatlichen Institutionen und der Einrichtungen, die auf der Basis des Grundgesetzes staatlicher Kontrolle unterstehen, gibt es überhaupt keine Funktionen oder Aufgaben in einer freiheitlichen Gesellschaft. Man kann zwar moralisch appellieren, dass ein jeder Bürger und eine jede Journalistin die Aufgaben, die sie sich selbst gesucht und gestellt haben, redlich und gewissenhaft ausführt, man kann juristisch durchsetzen, dass sie sich dabei an die geltenden Gesetze halten, aber niemand hat das Recht, über Aufgaben einer Zeitung oder irgendeines Unternehmens zu befinden, die diesen "von der Gesellschaft" zugewiesen werden könnten.
Merlind Theile hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, etwas über die Absichten und über das Denken von Marina Weisband herauszufinden, vielleicht auch über das hinaus, was die Piratin selbst zu äußern bereit war, oder sogar über das hinaus, was Frau Weisband sich selbst bisher ganz eingestanden hatte. Es kann sein, dass die Journalistin sich in ihrem Ergebnis geirrt hat, es kann auch sein, dass sie der Wahrheit näher gekommen ist, als es ihrer Gesprächspartnerin aus persönlichen oder politischen Gründen recht gewesen sein mag.
Diese hätte, wenn sie die Medien nicht als ihr Organ, sondern als eigenständige Prüf- und Deutungsinstanz angesehen hätte, zwei Optionen gehabt, mit dem Ergebnis, das Schwarz auf Weiß im Spiegel stand, umzugehen: Sie hätte im Stillen über die Frage nachdenken können, wie viel von dem, was die Journalistin verstanden und aufgeschrieben hat, vielleicht wahrer ist, als sie es sich selbst bisher eingestehen wollte. Mag sein, dass sie sich sehr sicher ist, dass Merlin Theile sie wirklich missverstanden hat. Dann hätte sie, immer noch im Stillen, sich fragen können, wie sie sich so missverständlich ausdrücken konnte, warum das, was sie sagt, auf so ganz falsche Weise verstanden werden kann. Sie hätte auch, das ist die zweite Möglichkeit, die Dinge einfach "gerade rücken" können, hätte darlegen können, eben falsch verstanden worden zu sein und ganz ruhig und hinreichend gelassen ihren Standpunkt zu den aufgeworfenen Fragen schildern können - eben ihre Sicht der Dinge der Sicht der Journalistin entgegenstellen können.
Kritische Reflexion und eigene Sicht ohne Vorwurf
Statt dessen hat sie leider mit Vorwürfen reagiert und damit - da hat Merlind Theile in ihrem Text völlig Recht - genau das Verfahren angewandt, das die Journalisten seit Jahrzehnten von Politikern kennen: Sie hat der Spiegel-Autorin Unredlichkeit vorgeworfen, weil diese nicht das geschrieben hat, was der Politikerin recht und wichtig gewesen wäre.
Piraten sind nun stolz darauf, die Journalisten besser kontrollieren zu können, weil sie Mitschnitte von Interviews selbst ins Netz stellen können. Natürlich kann man das tun, aber man muss sich darüber klar sein, dass dies auch Populisten, die geschickt formulieren können, Tür und Tor öffnet. Natürlich kann man einen Mitschnitt von einem Zwei-Stunden-Gespräch ins Netz stellen und dann mit geschickten Links - "Hören Sie ab 54:20 die nächsten 20 Sekunden und dann noch mal ab 1:21:30 die nächste halbe Minute, dann wissen Sie, was ich wirklich gesagt habe." - die Redlichkeit jedes Journalisten in Zweifel ziehen.
Ob damit der viel gepriesenen Transparenz gedient wäre, ist fraglich. Besser scheint zu sein, die Journalisten ihre Arbeit machen zu lassen, und immer, wenn man mit dem Ergebnis nicht einverstanden ist, die eigene Sicht der Dinge dagegen zu setzen, hne unbedingt gleich die Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit des Zeitungs-Autors in Frage zu stellen. Auf Basis einer sachlichen, offenen Reflexion werden die Leser sich am ehesten ein Bild davon machen können, wer seine Arbeit gut macht und wer nicht.