Medien über Israel-Krieg und Gaza: Tatsachen nur auf der einen Seite?

Blick in das Studio der Tagesschau in Hamburg. Bild: New York-air / CC BY-SA 4.0 Deed

Mediensplitter (46): Das Handwerk des korrekten Zitierens und die Kunst der Distanzierung. Was an einem Tagesschau-Beitrag auffällt.

Inwiefern entsprechen wichtige, zumal öffentlich-rechtliche Medien hierzulande Normen für journalistische Objektivierung, insbesondere in der Krisen- und Kriegsberichterstattung?

Im aktuellen Medienstaatsvertrag, der seit dem 7. November 2020 gilt, heißt es dazu mit Blick auf die öffentlich-rechtlichen Medien:

(…) Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.

In einem aktuellen Beitrag von Tagesschau.de, der unter dem Titel "Auch der Süden Gazas ist nicht sicher" als "Reportage" veröffentlicht wurde und damit informationsbetont sein soll wie auch Meldungen und Berichte, heißt es gleich eingangs:

Autokolonnen schieben sich vorbei an einer langen Reihe zerbombter Autos. Immer wieder blockiert die Terrororganisation Hamas Straßen in den Süden des Gazastreifens, um die Flucht dorthin zu erschweren, sagt das israelische Militär. Die Hamas betont, die Menschen würden nicht fliehen wollen.

Tagesschau

Ein relativ typischer Einstieg in einen solchen Beitrag – auch wenn es sich nicht ohne Weiteres erschließt, inwiefern die ARD-Korrespondentin aus der Ferne, offenbar von Tel Aviv aus, – eine Reportage über die Lage im Gaza-Streifen recherchiert und schreibt. Denn eine Reportage lebt in aller Regel von der Vor-Ort-Präsenz der Reporterin oder des Reporters. Das ist hier erklärtermaßen nicht der Fall.

Der Text wäre daher wohl eher als ein "Feature" (also als eine Mischform verschiedener Ebenen mit Reportage-Elementen) denn als "Reportage" zu beschreiben. Doch diese Medienkritik sei hier nur am Rande vermerkt. Was aber fällt am zitierten Absatz auf, wenn wir genauer hinschauen?

Versionen und Quellen

In informationsbetonten journalistischen Darstellungsformen wie Meldungen und Berichten, Reportagen und Features ist es besonders wichtig, Versionen der Ereignisse als eben solche Versionen von bestimmten Personen, aus bestimmter Perspektive und mit bestimmter Interessenlage zu kennzeichnen.

Man könnte als Motto sagen: Versionen als Versionen kennzeichnen! Warum?

Um gerade in diesen informationsbetonten Genres wie Reportage etc. ein möglichst hohes Maß an Sachlichkeit und Transparenz, insgesamt an Objektivierung, zumindest anzustreben – und dann möglichst auch zu erreichen.

Dabei ist zu beachten, dass vor jeder, idealerweise noch so professionellen, Wiedergabe der O-Töne etwas Anderes steht: die journalistische Auswahl, die Selektion der Quellen und der entsprechenden O-Töne dieser Quellen. Bei dieser Auswahl ist "natürlich" schon immer sehr viel Subjektivität oder bestenfalls Intersubjektivität im Spiel.

Betrachten wir daher die oben zitierte Passage näher: Die erste (daher oft wichtigste) ausgewählte und zitierte Quelle ist "das israelische Militär". Das hätte, gerade mit Blick auf die aktuelle Lage im Gaza-Streifen, auch eine andere Quelle sein können – z.B. eine palästinensische Quelle. Aber nun, Zufall oder nicht, ist es hier also "das israelische Militär". Die Formulierung lautet exakt:

Immer wieder blockiert die Terrororganisation Hamas Straßen in den Süden des Gazastreifens, um die Flucht dorthin zu erschweren, sagt das israelische Militär.

Das widerspricht wichtigen handwerklichen Regeln der Rede-Wiedergabe im Journalismus: Wenn die Quelle des Gesagten in einem Extra-Hauptsatz, sei der jetzt voran- oder nachgestellt, in Verbindung mit einem Verb des Äußerns (wie "sagen") benannt wird, dann muss das Zitierte im Konjunktiv I durch den entsprechenden Verbmodus ausgedrückt werden. Hier also muss es lauten:

Immer wieder blockiere die Terrororganisation Hamas Straßen in den Süden des Gazastreifens (…), sagt das israelische Militär.

Es gibt sprachlich und erst recht journalistisch keinen Grund, hier stattdessen die Wirklichkeitsform des Verbs, den sogenannten Indikativ, zu verwenden. Denn wenn so wie oben im Tagesschau-Text geschrieben wird, erhebt man das Zitierte einfach mal in den Rang einer kaum bestreitbaren Tatsache - wie zum Beispiel die Angabe des Wochentages.

Distanz

Wenn ich, an einem Montag, etwas Offenkundiges sage wie "Heute ist Montag", dann benötige ich dafür keine Quellenangabe und auch keinen besonderen Verbmodus. Bei vielen anderen, nicht-trivialen Äußerungen, mit denen es ja Journalismus typischerweise zu tun hat, schon. Dabei geht es um nicht weniger als um professionelle Distanz in möglichst alle Richtungen.

Die Verwendung des Konjunktivs I in Sätzen wie "Scholz sagte, er wolle eine schnellere Digitalisierung" bedeutet gerade NICHT, dass der Verfasser das Gesagte bezweifelt. Sondern einfach, eine bestimmte Version mit Quellenangabe und entsprechendem Verbmodus als genau diese Version professionell auszudrücken.

So neutral wie möglich. Das Publikum soll eigenständig entscheiden (können), wie viel Vertrauen der jeweiligen Aussage zu schenken ist – oder wäre. Denn wenn wiederum z.B. eine Autorin in meinungsbetonten Formen wie Kommentar oder Glosse tatsächlich Distanz ausdrücken möchte gegenüber etwas Gesagtem, dann muss sie den Konjunktiv II, den Irrealis, verwenden, der auf Falsches, Nicht-Glaubwürdiges oder Unwirkliches verweist: "Scholz eierte, er würde sich nicht mehr an diese Gespräche im Zusammenhang der Warburg-Bank erinnern."

Besonders spannend am aktuellen ARD-Beispiel ist nämlich der Gegensatz zur direkt folgenden Rede-Wiedergabe:

"Die Hamas betont, die Menschen würden nicht fliehen wollen."

Hier wird, im deutlichen Unterschied zur Behandlung des Aussageinhaltes des israelischen Militärs als Tatsache, bei Verwendung der Quelle "Hamas" das Zitierte im Konjunktiv wiedergeben, und zwar (formal streng genommen) sogar im, wie zuvor erwähnt, maximal distanzierenden Konjunktiv II, hier mit dem Hilfsverb "würden".

Angemessen wäre in beiden Fällen selbstverständlich die Benutzung des Konjunktivs I: Hier hätte es sprachlich korrekt heißen können:

"Die Hamas betont, die Menschen seien nicht willens zu fliehen."

Wie kommt es zu derartigen Erscheinungen und Fehlentwicklungen?

Realität und Medienrealitäten konfligieren

Es ist davon auszugehen, dass diese Ausdrucksweise, welche die eine Konfliktpartei mittels solcher Sprachverwendung als deutlich vertrauter und vertrauenswürdiger darstellt, kaum absichtsvoll oder auch nur bewusst geschieht.

Sondern dass sich hier gesellschaftliche Verhältnisse, Machtverhältnisse auf bestimmte Weise strukturell und insbesondere sprachlich reproduzieren.

Im Team der Tagesschau-Redaktion scheint das Ganze bisher ja niemand bemerkt oder gar für änderungswürdig befunden zu haben. Läuft halt so. Und das Medium erspart sich womöglich Kritiken wie jene von "false balance".

Einfach, weil hier eben keine auch nur annähernde Gleich-Behandlung, keine Äqui-Distanz gegenüber zwei Konfliktparteien vermittelt wird. Was wiederum aber doch gerade in Fragen von Krieg und Frieden ein besonders wichtiges Thema sein sollte.

Dass dieses nur scheinbar nebensächliche Problem als Phänomen keineswegs ein Einzelfall ist, zeigt sich übrigens noch im selben Text:

Den Gesundheitsbehörden in Gaza zufolge seien allein in den vergangenen 24 Stunden 300 Menschen durch Luftangriffe gestorben, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. (...).

Tagesschau

Nein, hier muss, siehe journalistisches Handwerk, da die Quelle mittels Präposition (wie zufolge, laut, nach) im selben Hauptsatz wie das Zitierte benannt wird, die Wirklichkeitsform folgen, also: "ist".

Auch hier wird mit Blick auf palästinensische Quellen, ob nun Zufall oder nicht, sprachlich mehr Distanz ausgedrückt als journalistisch angemessen wäre. Schließlich folgt, vermittelt als unbestreitbare Tatsache ganz ohne Quellenangabe, dieser Satz in der Wirklichkeitsform:

"Unterdessen geht der Raketenbeschuss der Hamas auf Israel weiter."

Diese Kombinationen von (wahrscheinlich sogar unbewusster) Nähe zur einen Konfliktpartei und (vermutlich gar nicht so gewollter) übergroßer Distanz gegenüber der anderen Konfliktpartei verdeutlichen, dass anscheinend gerade in Krisenzeiten Realität und Medienrealitäten konfligieren – Tendenz offenbar zunehmend. Und wie wichtig journalistische Reflexion, Kritik sowie Selbstkritik gerade in Kriegszeiten ist – oder eben: wäre.