Medienhetze gegen Systemkritik

Seite 3: Verschließen der Augen

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Wir können einen Journalismus beobachten, der geradezu zur Hochform aufläuft, wenn er wittert, dass ein Akteur durch ein mediales Standgericht für vogelfrei erklärt werden darf. Während ein schlimmer Völkerrechtsbruch ihm allenfalls einen müden Blick abverlangt, fangen Tastaturen unter ihm förmlich an zu glühen, wenn es jemand wagt, sein eng gestecktes politisches Weltbild anzutasten. Politischer Nonkonformismus ist für ihn das, was für die Kirche Ketzerei ist. Dass dieser Journalismus inhaltlich einem Offenbarungseid gleichkommt, liegt nahe.

Da redet Xavier Naidoo, der als Kind nach eigenen Angaben immerhin selbst missbraucht wurde, in seinem Song von Kinderschändern in hohen gesellschaftlichen Kreisen, aber die Betriebsblindheit dieses Journalismus führt zu einem bizarren Verhalten. Anstatt eine schlimme Realität zu erkennen, nämlich das Kindesmissbrauch auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfindet, verschließt er die Augen.

Kritische Journalisten nähmen die Zeilen aus dem Song von Xavier Naidoo zum Anlass, um einmal selbst der Frage nachzugehen, was an diesen Vorwürfen, die der Sänger anspricht, eigentlich dran sein könnte. Wie war das nochmal mit Mark Dutroux und den 27 Toten Zeugen? Wie war das nochmal mit dem Waisenheim Casa Pia in Portugal (Tagesspiegel: "Vier Jahrzehnte lang hatte Portugals feine Gesellschaft Waisenknaben aus dem staatlichen Heim "Casa Pia" in der Hauptstadt Lissabon missbraucht. Die Behörden hatten derweil weggeschaut, obwohl es Hinweise und Hilferufe gab. Damit kam der Verdacht auf, dass höchste Kreise der Gesellschaft in den Skandal verwickelt waren. Ein Pakt des Schweigens wird vermutet, um die Täter zu decken. "

Wer war Jimmy Saville noch einmal (Video). Wie laufen die Ermittlungen in Sachen Edward Heath, immerhin ehemaliger britischer Premierminister? Was war der Franklin Cover-up? Was hat es nochmal mit der Geschichte um Mandy Kopp auf sich? Zu welchen Erkenntnissen ist die BR-Redakteurin Ina Jung bei ihren Recherchen für die beiden ARD-Spielfilme zum Thema Kindesmissbrauch gekommen?

Ein ergebnisoffener Journalismus würde sich diese Fragen, wenn er schon ein Urteil über die Aussagen von Naidoo fällen möchte, stellen.

Aber Vertreter eines über jeden Zweifel erhabenen Qualitätsjournalismus können sicherlich auch anders vorgehen, beispielsweise wie die Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Leonie Feuerbach. In ihrem Artikel schreibt sie davon, dass das Lied von Naidoo auf "... handfeste Verschwörungstheorien wie pädophile Politiker ..." anspiele. So einfach machen es sich Medien, die mit Nachdruck nicht sehen wollen. Pädophile Politiker? Verschwörungstheorie. Eine handfeste auch noch dazu. Punkt. Abgehakt.

Man hätte auch schreiben können, das, wie im Fall Edward Heath, es nicht um eine Verschwörungstheorie geht, sondern um Ermittlungen von Behörden. Aber vielleicht wäre das zu viel Differenzierung gewesen.

Fehlende Differenzierungen

Besonders negativ fällt ein Artikel auf Spiegel-Online auf, der sich mit dem Songtext "Marionetten" auseinandersetzt und durch Nichterwähnung einer zentralen Information ein schiefes Bild zeichnet. Im Artikel von SPON-Autor Andreas Borcholte heißt es:

Natürlich hat es Nachrichtenwert, wenn ein populärer deutscher Sänger, der Millionen Platten verkauft hat und durch diverse Shows und Moderationen ein bekanntes TV-Gesicht ist, in einem Songtext Politiker als "Volks-in-die-Fresse-Treter" bezeichnet und damit droht, sie "in Fetzen" zu reißen. Da helfe auch "kein Verstecken hinter Paragrafen und Gesetzen", wenn "der wütende Bauer mit der Forke" dafür sorgt, "dass Ihr einsichtig seid".

Der Spiegel

Folgende Stelle ist journalistisch hoch problematisch: "... in einem Songtext Politiker als 'Volks-in-die-Fresse-Treter' bezeichnet und damit droht, sie 'in Fetzen' zu reißen."

Wenn Naidoo in dem Song davon spricht, dass er "in Fetzen" reißen möchte, dann redet er von Kinderschändern bzw. Politikern, von denen er glaubt, dass einige Kinder missbrauchen. Diese möchte er am liebsten "in Fetzen reißen".

Wer hier als Journalist seinen Lesern nicht mitteilt, in welchem Kontext Naidoo diese Aussage tätigt, bedient einen Journalismus, wie er fragwürdiger kaum sein kann.

Sicherlich darf man sich über dieses gewalttätige Bild echauffieren, aber hier wird so getan, als sei das harte, das brutale Wort, ja, das Bild der Gewalt nicht schon seit langer Zeit fester Bestandteil von Liedern, die man gar nicht mehr alle aufzählen kann. Hinzu kommt: Wer auch nur ein klei wenig mitfühlt, kann sich einigermaßen vorstellen, welches unfassbare Leid Kinderschänder ihrem Opfer antun. Dass hier ein Künstler sehr deutliche Worte findet, mag vielleicht nicht jedem passen, aber realistisch betrachtet darf man davon ausgehen, dass es nicht wenige Menschen in der Bevölkerung gibt, die sehr ähnlich denken wie Naidoo.

Außerdem: Der Wut, der in den Zeilen zum Ausdruck kommt, hat sicherlich auch mit Naidoos persönlicher Erfahrung als Missbrauchsopfer zu tun.

Warum erfolgen diese Differenzierungen nicht in dem Artikel auf Spiegel Online? Der Text wurde immerhin nicht von einem Praktikanten geschrieben, sondern von einem erfahrenen Kulturredakteur des Spiegels.

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