Meer statt Kontinent
Über die historischen Wurzeln der britischen Anti-EU-Ressentiments
Es war der damals führende britische Politiker Benjamin Disraeli, zweimal sogar im Amt des Premierministers, welcher das britische Weltreich öffentlich eher als eine asiatische Macht denn als eine europäische definierte.
Disraeli bezog sich zu seiner Zeit, also Mitte des 19.Jahrhunderts, als britische Seeleute ihren Finger in den Ozean tauchten, flankiert von der Aussage "Taste salty - must be british" (Schmeckt salzig, muss also britisch sein) auf die Herrschaft Londons über den indischen Subkontinent. 1876 verband Disraeli sogar den Titel der Königin von England mit dem der Kaiserin von Indien, ab diesem Zeitpunkt der offizielle Titel Ihrer Majestät.
Derselbe Politiker hatte schon 1847 in seinem Roman "Tancred" die Idee propagiert, die Königin von England sollte nach Indien umziehen. In dem erwähnten Roman heißt es: "Die Königin soll eine große Flotte sammeln und mit ihrem ganzen Hof und der ganzen führenden Schicht ausziehen und den Sitz ihres Reichs von London nach Delhi verlegen. Dort wird sie ein ungeheures, fertiges Reich finden, eine erstklassige Armee und große Einkünfte."
Benjamin Disraeli brachte mit diesen Worten zum Ausdruck, was zu jener Zeit von vielen Bewohnern des Empires ähnlich empfunden wurde, nämlich dass das britische Mutterland, die Insel, aufgrund der gewaltigen geographischen Ausdehnung des Weltreiches, über Kontinente und maritime Weiten hinweg, kein Bestandteil Europas mehr war und auch nicht mehr mit dessen Schicksal verbunden sei. Viel eher glich dieses Gebiet, in dem die Sonne nicht mehr unterging, einem Schiff, welches den Anker lichten und in einem Erdteil vor Anker gehen kann.
Einige Jahrzehnte später, zu Beginn des 20.Jahrhunderts, propagierte der amerikanische Admiral Mahan gar eine Wiedervereinigung des Vereinigten Königreiches mit den USA, freilich unter der Vorherrschaft Washingtons. Entscheidend war für Mahan dabei, dass die angelsächsische Herrschaft über die Meere aufrechterhalten werden muss, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Während ein Politiker wie Disraeli die Verlagerung des britischen Weltreiches nach Asien propagierte, warb der amerikanische Admiral für einen Auszug nach Amerika.
So unterschiedlich die Motive, das Selbstverständnis und der historische Hintergrund beider Thesen auch sein mögen, so sind diese doch Ausdruck des Selbstverständnisses des britischen Reiches als maritime Macht mit globalem Anspruch.
Was haben diese historischen Betrachtungen mit der aktuellen Debatte um den sogenannten "Brexit" zu tun, wie die Medien die Volksabstimmung getauft haben, welche über den Verbleib des Vereinigten Königreiches in der Europäischen Union entscheiden soll? Sicherlich, die Thesen von Mahan und Disraeli entstammen schon einer fernen Historie, das Empire existiert nicht mehr, ist auf ein paar Fetzen geschrumpft, verstreut in Form von entlegenen Inseln auf allen Weltmeeren. Auffällig ist es aber auf jeden Fall schon, wie häufig von den Befürwortern des Austritts aus der EU die "Rückkehr zu den Meeren" verkündet wird, anstatt die "Hinwendung zu dem Kontinent".
Die Financial Times vermerkte in diesem Zusammenhang: "The European debate with its questions of history and sovereignty has not changed much since 1960." In diesem Zusammenhang sei noch einmal ein historischer Rückblick erlaubt. Nach der Schlacht von Waterloo, als Napoleon, immerhin nach einem 20jährigen Krieg, besiegt wurde, begann die Epoche der unbestrittenen Seeherrschaft Englands, welche Mitte des 19.Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, wodurch auch das Zeitalter des globalen Freihandels begann. Diese Zeit des Freihandels war auch die Zeit der freien Entfaltung der wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit Englands, welche nur in den seltensten Fällen durch "Fair Play" erreicht wurde.
Freies Meer und freier Weltmarkt verbanden sich zu einer Vision, als deren Hüter und Träger nur England, beziehungsweise dessen Weltreich in Frage kommen konnte. Um diese Zeit erreichte auch die kulturelle Ausstrahlung und die Bewunderung des englischen Vorbildes ihren globalen Höhepunkt. Es darf diesbezüglich nicht verwundern, dass die Befürworter eines Brexits, bei aller ideologischen und parteipolitischen Heterogenität, zumindest unterbewusst, häufig auch demonstrativ, die Sehnsucht nach dieser Zeit propagieren, "when Britannia rule the waves", als "Britannien die Wellen beherrschte".
Dass es sich hierbei um eine von Nostalgie getragene Utopie handelt, die im Falle eines Austritts Großbritanniens aus der EU einer tristen Realität- ja einer beklemmende sozioökonomischen Perspektive weichen könnte, ist wahrscheinlich (Brexit - Auswirkungen auf den E-Commerce).