Megatrend China: Stromausfall
Wird der Energiemangel zur Wachstumsbremse?
Bis kurz vor Ende der 1990er Jahre schien China die Nachfrage auf dem Energiesektor erfolgreich durch Beschränkungen reguliert zu haben. Der Energiebedarf stieg langsamer als das ökonomische Wachstum, das Verhältnis von industrieller Produktion zur dafür aufgewendeten Energie verbesserte sich, durch modernere Kraftwerke wurde der Ausstoß von einigen Luftschadstoffen gesenkt. Doch mit dem Wirtschaftsboom im Traumland der Industrie-Manager verschlechterte sich die Situation drastisch. Fieberhaft wird an einer Lösung des Problems gearbeitet - mit einer der Größe der Aufgabe entsprechenden Entschlossenheit.
China, größter Stahl-, Kupfer- und Kohleverarbeiter und nach den USA zweitgrößter Öl-und Stromverbraucher der Welt, leidet zunehmend unter Energie-Engpässen. 24 der 31 chinesischen Verwaltungsdistrikte hatten in diesem Jahr schon mit Stromausfällen zu kämpfen. Die Situation spitzte sich im Sommer zu, als die Temperaturen in einigen Gegenden über 40 Grad Celsius anstiegen. Für die heißesten Tagen sagten offizielle chinesische Stellen einen Gesamtleistungsbedarf von 420 Gigawatt voraus - es fehlten 30 Gigawatt oder das Doppelte des für 2003 geschätzten Defizits, wie Jen Lin-Liu in IEEE-Spectrum Online feststellt.
Die Beijing Rundschau zitiert Statistiken des State Power Dispatching and Communication Center, wonach der Tagesstromverbrauch am 28. Juni 2004 erstmals die 600 Milliarden kWh-Grenze erreichte. Am 29. Juni wurde mit 627,4 Milliarden kWh ein neuer Landesrekord im Stromverbrauch aufgestellt. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg der industrielle Stromverbrauch um mehr als 17% - chinesische Ökonomen rechneten lediglich mit 5%.
Um die Leistung um 215 bis 245 Gigawatt zu steigern, will das Land in den nächsten fünf Jahren umgerechnet 120 Milliarden Dollar aufwenden. Normalerweise werden ohnehin schon jährlich zusätzliche 30 Gigawatt eingespeist - durch laufend hinzukommende Kohle- und Wasserkraftwerke.
In der Hoffnung auf eine zurückgehende Nachfrage hatte China die Preise für Elektrizität durchschnittlich um einen Viertel Cent pro Kilowattstunde erhöht. Damit nicht genug - die Regierungsvertreter vor Ort traten an die industriellen Verbraucher (derzeit 75% Anteil am Gesamtbedarf) mit Sparvorschlägen heran. So kursierten in Shanghai in diesem Sommer Briefe des Magistrats an Firmen ausländischer Herkunft mit der Bitte um ein Einverständnis nach einem einwöchigen Abschalten der Energiezufuhr und einer Neugestaltung der Arbeitszeitpläne. In einem Begleitbrief wurde erwähnt, dass 1.700 chinesische Firmen bereits eingewilligt hätten.
Die offizielle Regierungsposition geht dabei von keiner Krise aus, sondern von einem vorübergehenden Problem, das bis 2006 durch den Bau neuer Kraftwerke und einer Steigerung der Effizienz behoben sein soll. Außerdem sollen durch industrielle Umstrukturierungen umweltfreundlichere und energiesparende Technologien Einzug halten.
Vertreter ausländischer Firmen merken jedoch an, dass die Stromausfälle mittlerweile ziemlich regelmäßig auftreten und sind skeptisch, wie das Land in der Zukunft seinen Energiebedarf decken will, wenn es schon jetzt dazu offenbar nicht mehr in der Lage ist. Ausländische Investoren wiegen bereits die durch die ungewisse Situation auf dem Energiemarkt entstehenden Kosten gegen die der billigen chinesischen Arbeitskraft ab und entdecken dabei Länder wie Vietnam.
Sich neu ansiedelnden Unternehmen wird versprochen, dass es keine Probleme mit der Bereitstellung von Energie gibt - bis es dann zum ersten Stromausfall kommt, fünf Minuten vorher angekündigt, manchmal nicht einmal das. Eine ausreichende und sichere Stromversorgung steht deshalb auf der Liste der dringlichsten Befindlichkeiten von künftig in China investierenden Unternehmern ganz oben. Der Amerikanischen Handelskammer in Shanghai zufolge erfahren ausländische (besonders multinationale) Unternehmen gegenüber den einheimischen Firmen hinsichtlich obligatorischer Stromabschaltungen eine bevorzugte Behandlung.
Seit Mitte der 1990er Jahre scheint der Bedarf an elektrischer Energie den durch neue Kraftwerke (meist Kohle) zusätzlich bereitgestellten Kapazitäten davon zu galoppieren. Ein ineffizientes Eisenbahnsystem kann die Kohle nicht mehr schnell genug an die Brennpunkte des Bedarfs - meist im industriell geprägten Osten des Landes - befördern. Viele Kohlekraftwerke hatten schon Anfang Juli ihre für Spitzenzeiten gedachten Vorräte verheizt.
Drei Viertel der erzeugten Energie entstammen der heimischen Kohle. Ein hoher Schadstoff-Ausstoß ist die Konsequenz - schätzungsweise sterben jährlich eine Million Chinesen an den Folgen der Luftverschmutzung. Seit Mitte der 1990er Jahre versucht China, die Emissionen wenigstens von feinen Partikeln und Schwefeldioxid einzudämmen - trotzdem wurde im vergangenen Jahr beim Schwefeldioxid-Ausstoß die 20-Millionen-Tonnen-Grenze überschritten. Der ebenfalls resultierende saure Regen beschäftigt mittlerweile auch die davon betroffenen Nachbarländer Japan, Taiwan und Südkorea.
China verfolgt mit seinem Hang zur gigantomanischen Landschaftsgestaltung außerdem sehr ehrgeizige und äußerst umstrittene Wasserkraftprojekte, wie das Drei-Schluchten-Projekt (siehe Abbildung) oder beispielsweise auch die Errichtung von acht großen Staudämmen am Oberlauf des Mekong, die ohne Absprachen mit den Anwohnern des Unterlaufs (Myanmar, Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam) erfolgte. Erste negative Auswirkungen auf den Zustand von Fluss und dessen Strömungsverhalten sind bekannt.
Auch für die Ölimporte sind rekordverdächtige Wachstumsraten zu verzeichnen - noch in diesem Jahr soll die 100-Millionen-Tonnen-Grenze fallen. Momentan werden 35% des Bedarfs importiert; 50% davon aus dem Nahen Osten. Die International Energy Association (IEA) geht davon aus, dass der Importanteil 2030 84% betragen wird. Allein in diesem Jahr sollen trotz sich abkühlender Konjunktur mindestens 30% mehr Öl importiert werden, wie ein Sprecher der Ölgesellschaft Sinopec bekanntgab. Es gibt Befürchtungen, dass die Ursachen für diesen extremen Anstieg der Importe nicht nur im Mehrverbrauch der Wirtschaft liegen, sondern vielmehr in der Auffüllung von Reserven zu suchen sind, die China bei einem eventuellen Krieg mit Taiwan unabhängig von ausländischen Importen machen sollen.
Die große Unbekannte in der Energieversorgung ist das zunehmend elektrifizierte Dasein der chinesischen Bevölkerung. Um soziale Unruhen zu vermeiden, wurde sie bisher nicht mit Stromsperren behelligt. Die aufgrund wachsenden Wohlstands steigende Popularität von Klimaanlagen, Fernsehern und Kühlschränken könnte die ohnehin schon prekäre Situation weiter zuspitzen. Landesweite Kampagnen sollen die Bewohner mit Einsparmöglichkeiten und effizienter Nutzung von Energie vertraut machen.