Mehr Apokalypse wagen

Während die Klimakrise außer Kontrolle zu geraten droht, verabschiedet sich die Bundesregierung von jeglicher nennenswerten Klimapolitik auf europäischer Ebene

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Ist es noch eine Dürre - oder die "neue Normalität" der manifesten Klimakrise? Weite Teile Europas leiden schon im Frühjahr unter einer schweren Trockenheit, die Erinnerungen wachruft an die Dürreperioden der vergangenen Jahre. Sollte der diesjährige Trend sich fortsetzen, wäre 2020 das dritte europäische Dürrejahr in Folge.

Besonders stark betroffen sind Ostdeutschland, Tschechien und Polen, wo weite Landesteile unter einer extremen Trockenheit leiden und inzwischen landwirtschaftliche Nutzflächen von Zerstörung bedroht sind. Polens Bischöfe riefen unlängst zu Gebeten für baldigen Regen auf, da die Trockenheit gerade in der Wachstumsphase die diesjährige Ernte und Tausende von Existenzen bedroht. "Je weiter man sich nach Osten bewegt", desto trockener wird es", erklärte auch ein Agrarhändler gegenüber der Fachzeitschrift Topagrar.

Im Januar und Februar wurden in Ostdeutschland noch normale Niederschläge verzeichnet, doch seit März habe es kaum noch geregnet, hieß es weiter. Der Wasserstand der Elbe ist am 23. April auf 90 Zentimeter gefallen, was weniger als die Hälfte des üblichen Durchschnittswertes von rund zwei Metern ausmacht. Dramatisch eingebrochen ist der Wasserstand der Weichsel in Zentralpolen: In Warschau wurden gerade mal 53 Zentimeter gemessen.

Von der anhaltenden Dürre sind - in unterschiedlicher Intensität - nahezu alle Regionen der Bundesrepublik betroffen, da es in Zentraleuropa seit Mitte März keine substanziellen Niederschläge gegeben hat. Bislang sind im April nur fünf Prozent der üblichen Niederschlagsmenge verzeichnet worden. In Wechselwirkung mit den starken, trockenen Winden sind die oberen Bodenschichten oft bis zu einer Tiefe von 20 Zentimetern ausgetrocknet, während die tieferen Bodenschichten in vielen Regionen noch die Feuchtigkeit des regenreicheren Winters halten können: "Da haben wir Glück, dass der Winter in diesem Jahr feuchter war als normal, vor allem der Februar", erklärte ein Meteorologe des Deutschen Wetterdienstes gegenüber dem Spiegel-Online.

Zumindest kurzfristig scheint auch kein Wetterumschwung in Sicht, da derzeit eine ähnliche Konstellation herrscht wie während der Dürre 2018, als ein stabiles Hochdruckgebiet sich über Europa ausbildete, das Regengebiete um Europa im Uhrzeigersinn umleitete. Längerfristige Prognosen sehen derzeit keine Änderung dieser Großwetterlage. Zudem setzte sich 2020 der Trend der ungebremsten Erwärmung der Atmosphäre durch den kapitalistischen Klimawandel auch in Europa fort, der sich in immer neuen Temperaturrekorden manifestiert. Nachdem 2019 das wärmste Jahr in Europa seit Beginn der Wetteraufzeichnungen war, stellten auch die ersten drei Monate dies Jahres einen Rekordwert auf, der das bisherige Rekordjahr 1990 um ein halbes Grad Celsius übertrumpfte.

Vielleicht wäre es nicht unangebracht, die der dunklen Jahreszeit (ehemals als "Winter" bezeichnet) folgende Jahresperiode künftig als die Brandzeit zu bezeichnen. Das Waldbrandrisiko ist in vielen Regionen Europas bereits stark angestiegen. Dies belegen nicht nur die apokalyptisch anmutenden Bilder aus der nuklear verseuchten Sperrzone rund um das ehemalige sowjetische Atomkraftwert Tschernobyl, wo außer Kontrolle geratene Waldbrände, die in dem verlassenen Gebiet reichlich knochentrockenes Brennmaterial vorfinden, eine neue Atomwolke aufwirbeln.

Auch in vielen Regionen der Bundesrepublik - in weiten Teilen Brandenburgs, Sachsen-Anhalts, Niedersachsens, Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsens - gilt inzwischen die höchste Waldbrandstufe. Einige Regionen in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen sind ebenfalls betroffen. Seit Anfang April wurden schon dutzende Moor- oder Waldbrände gemeldet, allein in Brandenburg musste die Feuerwehr in den vergangenen zwei Wochen 40 Mal ausrücken.

Megadürre - Beginn eines Klimaumschwungs?

Sollten diese "Dürren" der letzten drei Jahren den Anfang eines Klimaumschwungs in Europa markieren, der durch das Überschreiten eines entsprechenden dialektischen Kipppunktes im Klimasystem ausgelöst wurde, dann werden Waldbrände tatsächlich zu einem alljährlichen Phänomen, dass erst dann sich legen wird, wenn die Vegetation sich den neuen klimatischen Gegebenheiten anpasst - falls sich überhaupt noch eine neue, stabile klimatische Verhältnisse in absehbarer Zeit etablieren.

Wissenschaftliche Untersuchungen gehen davon aus, dass durch den Klimawandel ausgelöste Störungen des Jetstreams - eines Starkwindbandes in der oberen Atmosphäre, das für den Temperaturausgleich zwischen tropischen und kälteren Weltregionen verantwortlich ist - die extremen Hitze- und Dürreperioden in den vergangenen Jahren ausgelöst haben. Ein dauerhafter Umbruch oder Zusammenbruch dieses Strömungssystems, das das Wetter in den gemäßigten Zonen maßgeblich formt, hätte katastrophale Folgen für die betroffenen Regionen.

Eine "Megadürre" zeichnet sich überdies nicht nur in Europa ab. Auch der Mittlere Westen der USA, in dem sich einige der wichtigsten landwirtschaftlichen Anbaugebiete der Welt befinden, leidet unter einer lang anhaltenden Trockenheit, die historisch beispiellos ist.

Was tut die Politik angesichts einer nicht nur klimatisch aus der Fugen beratenden Welt? Wie reagieren die kapitalistischen Funktionseliten auf die unübersehbaren Folgen der sich zuspitzenden Klimakrise, die inzwischen Teile der kapitalistischen Verwertungsmaschine - etwa den Agrarsektor - direkt bedroht? Auf europäischer Ebene wird gerade die Klimapolitik weitestgehend auf Eis gelegt.

Klimapolitische Bankroterklärung

Obwohl die EU-Kommission immer wieder betont hatte, trotz der Pandemie am ökologischen Umbau der EU festzuhalten, legen interne Papiere nun offen, dass dies nicht mehr der Fall ist. Viele Projekte, die im Rahmen des sogenannten Green New Deal realisiert werden sollten, würden demnach auf den Sanktnimmerleinstag verschoben. Viele Industriebranchen, die sich durch die ökonomischen Folgen der Pandemie in ihrer Existenz bedroht sehen, wehrten sich hinter den Kulissen gegen den kostspieligen ökologischen Umbau der Wirtschaft, der im Rahmen des Green New Deal realisiert werden sollte. Ausgerechnet die von der Dürre besonders betroffenen EU-Länder Polen und Tschechien sollen überdies in Brüssel auf generelles Ende des Green New Deal insistiert haben.

Unter anderem ist die europäische Aufforstungsstrategie dem Rotstift zum Opfer gefallen, mit der CO2 der Atmosphäre entzogen werden solle. Ebenso sind Initiativen aufgegeben worden, mit denen die Flugbranche und der Schiffsverkehr zur Nutzung nachhaltiger Treibstoffe gezwungen werden sollten. Das "Recht auf Reparatur", sowie alle Regelungen, die Hersteller dazu verpflichten würden, auf Strategien der geplanten Obsoleszenz beim Produktdesign zu verzichten, sollen ebenfalls vorerst nicht realisiert werden.

Diese klimapolitische Bankrotterklärung in Zeiten der manifesten Klimakrise dürfte somit den Kern der im Juni 2020 beginnenden deutschen Ratspräsidentschaft der EU bilden. Berlin gebe nur "leere Formulierungen" zum Green New Deal von sich, monierten europäische Medien schon Mitte April, da sich in ersten klimapolitischen Programmentwürfen Berlins zur Ratspräsidentschaft nur "leere Worthülsen" fänden.

Ein Mitte April von etlichen EU-Umweltministern veröffentlichter Aufruf, der den Green New Deal als einen zentralen Faktor bei der ökonomischen Erholung Europas nach der Pandemie bezeichnete, ist von Bundesumweltministerin Svenja Schulze erst nachträglich unterschrieben worden. Schulze sprach von einer "Kommunikationspanne", nachdem sie aufgrund der fehlenden deutschen Unterstützung des von Dänemark, Finnland, Italien, Lettland, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Österreich, Spanien und Schweden unterschriebenen Aufrufs unter Druck geraten ist. Auch Frankreich unterschrieb erst nachträglich.

Klartext spricht die interne Korrespondenz des deutschen EU-Botschafters Michael Clauß, die Spiegel-Online zugespielt wurde. In dem "Brandbrief" an Berlin erklärte Clauß, dass Themen, die vor kurzem noch im Mittelpunkt der Europäischen Politik stehen sollte, nun "zwangsläufig überlagert werden oder ganz in den Hintergrund treten" müssten. Hierunter zählte insbesondere der Kampf gegen den Klimawandel.

Priorität räumt Berlin nun den europäischen Auseinandersetzungen um die Krisenpolitik ein - also dem Kampf gegen die Hilfsforderungen der südlichen Peripherie der Eurozone. Es gehe Berlin primär um die "Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen", sowie um die Streitfrage des "Wiederaufbaus", der von Clauß nicht mehr mit dem Green New Deal in Zusammenhang gebracht wird - der ja eigentlich eine ökologische Wirtschaft als neuen konjunkturellen Motor etablieren sollte. Stattdessen stehe laut dem deutschen EU-Botschafter die "Aufrechterhaltung der EU-Integration an sich" auf dem Spiel.

Im Klartext: Während die Klimakrise in Europa manifest wird, gehen die kapitalistischen Funktionseliten dazu über, sinnvolle europäische Klimapolitik zu sabotieren, während zugleich die nationalen Gegensätze aufgrund der Auseinandersetzungen um eine europäische Krisenpolitik die EU zu sprengen drohen. Mehr Apokalypse wagen - dies scheint das inoffizielle Motto der deutschen kommenden Ratspräsidentschaft einer rasch erodierenden EU zu sein.

Von Tomasz Konicz erschien zu diesem Thema das Buch Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört.