Mehr Demokratie wagen…

Mehr Demokratie auf dem Kirchentag 2013 in Hamburg. Bild: Mehr Demokratie/CC-BY-SA-2.0

Die zweifelhafte Karriere einer Nonsense-Parole

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Immer wenn in Deutschland jemand sein Missfallen über die festgefahrenen politischen Verhältnisse äußert, stößt er ins Horn der alternativen Demokratiebegeisterung: "Ich halte es mit Willy Brandt: Mehr Demokratie wagen…" und meint damit "mehr direkte Demokratie", "mehr Volksabstimmungen und mehr Bürgerbeteiligung".

Es ist in der linken Szene und neuerdings nicht mehr nur dort das Allheilmittel gegen alle großen und kleinen Gebrechen der grausamen politischen Wirklichkeit und Schlachtruf aller Anhänger der direkten Demokratie.

Doch wer sich dann weiter fragt: "Was hat der gute, alte Willy Brandt denn so an mehr Demokratie gewagt?", der stellt enttäuscht fest: nichts, aber auch rein gar nichts. Doch halt. Da gab's doch was.

1972 hat er - wenn auch nicht im Alleingang - den Radikalenerlass durchgedrückt, der dafür sorgte, dass fortan Kommunisten, Linksextremisten und sonstige Linke im öffentlichen Dienst nicht mehr beschäftigt werden durften. Eine Art Berufsverbot für frondierende Linke und sonstige "vaterlandslose Gesellen". Galt Brandt nicht auch einmal als so einer?

Viele von denen, die heute die Parole "mehr Demokratie wagen" so begeistert im Munde führen, wären unter dem Extremistenerlass zu Willy Brandts Zeiten wohl auf die Straße gesetzt worden. Und auch wenn man den Erlass stramm staatstreu als Ausdruck einer "wehrhaften Demokratie" deutet, wird er dadurch kein Ruhmesblatt - für "mehr Demokratie" schon gar nicht.

Brandt hat mit "mehr Demokratie wagen" eine ziemlich geniale PR-Parole in die Welt gesetzt, aber mehr Demokratie wollte auch er nicht wirklich. Die Parole wirkt auch fast 50 Jahre danach noch so kraftvoll, als sei sie gerade erst erfunden worden, und hat seit damals an Überzeugungskraft, Attraktion für ganze Generationen und Beliebtheit bei eher noch gewonnen, auf keinen Fall aber verloren.

Im Gegenteil, die heute gültige "Bibel" der Befürworter der direkten Demokratie, trägt den stolzen Titel: "Mehr Demokratie!" und hat den nicht minder stolzen Umfang von 480 Druckseiten, und das auch noch in der 2. Auflage.

Das wissenschaftliche Werk wirbt als "Heilige Schrift" der demokratisch Wagemutigen für eine "Öffnung des Grundgesetzes" und begründet das so: "Die Arbeit des Parlaments und der Parteien bleibt unentbehrlich; aber ergänzend sollen die Bürger die Möglichkeit haben, durch Volksbegehren und Volksentscheid einzugreifen und punktuell politische Fragen selbst zu beantworten."

Willy Brandt hätte dem Opus wohl seine Zustimmung verweigert. In seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 formulierte er zwar: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Und er verhieß am Ende gar: "Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an."

Brandt war entschiedener Gegner der direkten Demokratie

Seitdem und bis heute gilt Brandt als Deutschlands Ur- und Übervater der direkten Demokratie, als derjenige, der Volksinitiativen und Volksentscheide befürwortete. Selten hat sich ein Mythos so machtvoll gegen die historische Wirklichkeit durchgesetzt; denn Brandt wollte das genaue Gegenteil.

Der werbewirksame Spruch ist einer der großen Schlüsselsätze der Bundesrepublik. Brandt griff damit den Protest der 1968er auf und reagierte auf ihren Verdacht, dass die Bundesrepublik keine wahre Demokratie ist, sondern ein Obrigkeitsstaat mit faschistischen Elementen. Seine Kampfformel sollte alle Zweifler beschwichtigen und ihnen versichern: Die Regierung Brandt werde den Gedanken der Demokratie tief in die Gesellschaft tragen und auch gegen die linken Studenten verteidigen.

Gegen Ende der 1960er Jahre sah sich Brandt von zwei Seiten bedroht. Die Konservativen standen seiner Ostpolitik feindlich gegenüber und diffamierten ihn aufs Ekelhafteste wegen seiner unehelichen Geburt und als Vaterlandsverräter - das kann sich heute kaum noch jemand vorstellen (oder inzwischen doch wieder?).

Und die linken Studenten proklamierten als revolutionäres Ziel eine Räterepublik mit starken plebiszitären Elementen und trieben- wo immer das möglich war - eine lebhafte außerparlamentarische Opposition mit der Begründung, dass die parlamentarische Opposition nichts taugt. Diesen beiden Extremen und vor allem den außerparlamentarischen Aktivisten setzte Brandt seine Kampfparole "mehr Demokratie wagen" entgegen.

Mit anderen Worten: Brandt meinte so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was heute mit der Parole "mehr Demokratie wagen" gefordert wird. Er war wie die meisten Politiker in entwickelten Demokratien ein entschiedener Gegner aller plebiszitären Elemente in der politischen Willensbildung und ein bekennender Freund der repräsentativen Demokratie.

Und daran ließ er sogar in seiner Regierungserklärung von 1969 keinen Zweifel, wenn er formulierte: "Die strikte Beachtung der Formen parlamentarischer Demokratie ist selbstverständlich für politische Gemeinschaften, die seit gut hundert Jahren für die deutsche Demokratie gekämpft, sie unter schweren Opfern verteidigt und unter großen Mühen wiederaufgebaut haben." Das richtete sich direkt und ausdrücklich gegen die außerparlamentarische Opposition. Der brachte er nachsichtig, aber in Grenzen, väterliches Verständnis entgegen, aber als Dauerzustand war er dagegen.

In Willy Brandts eigenen Worten klingt so ganz und gar anders als das, was seine geistigen Nachfolger heute damit verbinden, was er tatsächlich mit "mehr Demokratie" meinte:

Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass durch Anhörungen im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken. … Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.

Wilkly Brandt

Arbeitsweise öffnen, Anhörungen im Bundestag, Fühlungnahme mit repräsentativen Gruppen, umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik… mehr hatte Brandt nicht im Sinn. Weit und breit kein Hinweis auf direkte Demokratie, Volksabstimmung, Volksentscheid oder Bürgerbeteiligung. Keine Spur. Denn all das wollte Brandt unter gar keinen Umständen.

Er sprach allerdings von der Einführung der "paritätischen Mitbestimmung" in der Wirtschaft und einer Reform der deutschen Universitäten. Die allerdings lag in den Zeiten der weltweiten Studentenproteste in der Luft und war deshalb kein genuin brandtsches Projekt, das seine Innenpolitik original geprägt hätte. Es mag im Vergleich zum Zustand der Zeit davor, gleichwohl ein kleines Stückchen "mehr Demokratie" gewesen sein, aber eben auch nicht sonderlich viel mehr als ein sehr bescheidenes Häppchen. Der große Klotz "Radikalenerlass", der sogar kommunistische Lokomotivführer mit einem Berufsverbot belegte, liegt da schon wesentlich schwerer im Magen…