Mehr Flüchtlinge aus dem Nato-Land, das als EU-Grenzwächter dienen soll

Symbolbild: Engin Aykurt / Pixabay Licence

Zahl der Asylanträge aus der Türkei steigt. Anschlag in Ankara und Razzien gegen Opposition. Schutzquote sinkt trotz Eskalation. Das sind die Hintergründe.

Die Türkei soll gemäß einem Abkommen von 2016 eigentlich als Grenzwächter der EU dienen: Gegen Zahlung von Milliardenhilfen hat sich der Nato-Mitgliedsstaat verpflichtet, Fluchtrouten abzuriegeln und nach Griechenland Geflüchtete zurückzunehmen. Millionen, die vor allem aus dem Kriegsland Syrien geflohen sind, leben derzeit in der Türkei unter Recep Tayyip Erdogans islamisch-ultrarechter Koalitionsregierung.

Registriert sind "nur" etwas über drei Millionen – im Wahlkampf wurde aber in diesem Jahr Stimmung gegen angeblich zehn Millionen syrische Geflüchtete gemacht. Laut einem Bericht der Bild soll die Türkei im Rahmen des "Flüchtlings-Deals" bisher nur 2.140 Geflüchtete zurückgenommen haben.

Hinzu kommt aber, dass immer mehr Menschen aus der Türkei selbst bis nach Deutschland flüchten – und das nicht erst seit dem schweren Erdbeben im Februar dieses Jahres. Dies ergab eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Clara Anne Bünger (Die Linke), die eine Zunahme der Repression gegen Oppositionelle und die kurdische Community in der Türkei für die Entwicklung verantwortlich macht.

Im vergangenen Jahr haben 25.054 Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft Asyl in der Bundesrepublik beantragt. 81 Prozent dieser Anträge stammten aus der kurdischen Bevölkerungsgruppe. Im ersten Halbjahr 2023 stieg die Zahl von Schutzsuchenden aus der Türkei und Nordkurdistan noch einmal an. Bis Mitte des Jahres wurden 19.857 entsprechende Asylanträge gestellt, davon 84 Prozent von Menschen kurdischer Herkunft.

Mit rund 40.000 Anträgen ist bis Ende des Jahres zu rechnen

Konservativ geschätzt, kann bis Ende Dezember mit 40.000 Asylsuchenden aus der Region im laufenden Jahr gerechnet werden. Zum Vergleich: 2021 stammten insgesamt 7.067 Asylanträge von Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft.

Die Anerkennungsquote sinkt allerdings – und das dürfte neben innenpolitischen Gründen in Deutschland auch geopolitische Gründe haben, die Nato-Länder insgesamt betreffen. Im Gesamtjahr 2022 lag die bereinigte Schutzquote bei türkischen Asylsuchenden bei 80,8 Prozent, bei kurdischen dagegen nur bei 11,1 Prozent. Im ersten Halbjahr 2023 kamen türkische Asylsuchende auf eine bereinigte Schutzquote von 69,6 Prozent, kurdische nur auf eine von 7,2 Prozent.

Auch die Zahl derjenigen, die tatsächlich in die Türkei abgeschoben werden, steigt laut Antwort der Bundesregierung: 2022 waren dies 515 Personen, im ersten Halbjahr 2023 waren es bereits 345. Im vergangenen Jahr sind 101 Abschiebungen in die Türkei in letzter Minute gescheitert, im ersten Halbjahr 2023 geschah dies in 64 Fällen. Das lag zum Beispiel am passiven Widerstand der Betroffenen, an medizinischen Gründen, an der Weigerung der Piloten oder im letzten Moment eingelegten Rechtsmitteln.

Reizthema Rechtsstaatlichkeit in der Türkei

Fragen zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei wollte die Bundesregierung nicht offen beantworten. Bünger nennt dies laut einem Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF "bezeichnend", da es sich um einen Nato-Staat handelt und der aktuellen Bundesregierung eine starke Nato wichtig ist. Auch wenn dies im Fall der Türkei nicht ins Bild einer "wertegeleiteten Außenpolitik" der deutschen Ampel-Regierung passt.

"Offenbar weiß sie ziemlich genau, wie schlecht es um die Menschenrechtslage in der Türkei bestellt ist", erklärt Bünger. "Gute Beziehungen zum Nato-Partner Erdogan sind ihr aber wichtiger als das Schicksal der Menschen, die in der Türkei willkürlich kriminalisiert, inhaftiert und gefoltert werden, weil sie sich für Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen."

Kurdische Exilorganisationen meinen hier den verlängerten Arm Erdogans zu erkennen. In Schweden, das bisher einen liberaleren Kurs gegenüber kurdischen Linken gefahren hatte, wurden im Zuge des Nato-Beitrittsgesuchs erklärtermaßen die Daumenschrauben angezogen und einzelne kurdische Aktivisten sogar ausgeliefert, damit die Türkei ihr Veto gegen den Beitritt des skandinavischen Landes aufgibt.

Aktuell eskaliert der türkische kurdische Konflikt erneut. Nach einem Selbstmordanschlag am Sonntagmorgen auf die Polizeidirektion im Parlamentsviertel in Ankara, zu dem sich kurdische Guerilla-Einheiten bekannten, kam es nicht nur zu weiteren türkischen Luftangriffen auf vermutete Guerilla-Stützpunkte im Nordirak, sondern auch zu weiteren Razzien gegen die demokratische Opposition in der Türkei.

Laut ANF wurden gleichzeitig mehrere Wohnungen in Istanbul und Kırklareli durchsucht und mindestens 20 Personen festgenommen, darunter Vorstandsmitglieder der Demokratischen Partei der Völker HDP und des Demokratischen Volkskongresses (HDK).