Mehr Niedriglöhnerei, digital und gendermäßig aufgehübscht
Seite 3: Null-Stunden-Arbeitsvertrag: jetzt zulässig
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Die Richtlinie 2019/1152 zur Umsetzung der ESSR hat den gekonnt irreführenden Titel "Transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen". Danach sind nun auch die unter den Tory-Regierungen in Großbritannien entwickelten Null-Stunden-Arbeitsverträge zugelassen: Sie enthalten keine verpflichtende Zahl der Arbeitsstunden, die dürfen auch mal Null pro Woche betragen. Die Richtlinie besagt lediglich: Sie sollen nur nicht "missbraucht" werden. So gibt es nun das Recht auf Mehrfachbeschäftigung: Gelegenheits-, Mini- und Teilzeit-Jobber, Null-Stunden-Vertragler und "gig worker" sollen das "Recht" bekommen, nebenbei noch einen Zweit-, Dritt- usw. Job anzunehmen.
Weiter heißt es: "Die Richtlinie hat einen breiten persönlichen Anwendungsbereich. Er soll sicherstellen, dass alle Arbeitnehmer/innen in allen Beschäftigungsverhältnissen - selbst in den flexibelsten atypischen und neuen Formen wie Null-Stunden-Verträge, Gelegenheitsarbeit, Hausarbeit, Arbeit auf der Grundlage von Gutscheinen oder Arbeit über Plattformen - in den Genuss dieser Rechte kommen." Auch das ist nun mit der Erklärung von Porto Grundlage des EU-Arbeitsrechts.
Lebenslanges Lernen für Digitalisierung
Diese neuen noch niedrigeren, noch flexibleren Arbeitsrechte sollen zudem Teil der "digitalen und grünen Wende" nach Corona sein. Das Recht auf lebenslanges digitales Lernen soll die Anpassung an die forcierte Digitalisierung auch der Arbeit fördern.
Doch diese noch niedrigeren Standards mit allen atypischen, prekären, auch vertragslosen Beschäftigungen einschließlich des Nullstunden-Vertrags sind die bevorzugten Standards in der digitalisierten Arbeitswelt. Gig worker, die keinen Arbeitsvertrag haben, warten schon jetzt zu hunderttausenden allein und bibbernd zuhause, dass sie per Smartphone einen neuen Auftrag bekommen.
Solche Aufträge können in so kleine Portionen aufgeteilt sein, dass sie bei einem Honorar von einem Euro beginnen. Unklar ist, wann der nächste Auftrag kommt und ob er vielleicht hoffentlich 12,70 Euro bringt. Vielleicht kommt er in der Nacht und muss sofort erledigt werden. Wenn er nicht sofort erledigt wird, sinkt die algorithmisierte Bewertung des "gig workers", er bekommt dann weniger und kleinere Aufträge oder vielleicht auch keine mehr. Verhandlungen mit den meist anonymen Arbeitgebern gibt es nicht, weder individuell noch kollektiv.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat in ihrem Report The World Employment and Social Outlook. The role of digital labor platforms in transforming the world of work (Genf, 23. Februar 2021) Arbeitsverhältnisse auch bei Plattform-Konzernen in der EU untersucht, bei Uber (Taxi), Deliveroo (Essenslieferung), PeeplePerHour (freelance-Arbeit) und die Arbeitsvermittlung Mechanical Turk von Amazon. Ergebnis: Als Teil der Pandemie-Maßnahmen ist die Entwicklung, die schon lange vorher forciert wurde, weitergegangen.
Die Digital- und Plattformkonzerne haben nun ein noch größeres Einzugsgebiet und können sich noch großflächiger und schneller vergleichsweise gut qualifizierte Menschen aus armen Staaten und Regionen suchen, um sie gegen gut qualifizierte Menschen in reicheren Staaten und Regionen ausspielen. Viele "regulär" Beschäftigte verdienen so wenig, dass sie erpressbar und dankbar für eine auch schlecht bezahlte digitale Nebenarbeit sind. Dabei nimmt das Gender Pay Gap zu. Mit der forcierten Digitalisierung wird die EU also diese Entwicklungen eher unterstützen als verhindern.
Abbau der Armut?
Bis 2030 soll es 15 Millionen weniger Arme in der EU geben, so die Erklärung von Porto. Nach Angaben des EU-Statistikamtes gibt es gegenwärtig 91 Millionen Arme. Die Zahl ist ohnehin nach niedrigen Kriterien berechnet - aber schon diese 91 Millionen sind ziemlich genau immerhin 20 Prozent aller EU-Einwohner.
Mit den Praktiken und Methoden der ESSR und der forcierten Digitalisierung der Arbeit unter dem Kommando von Amazon, Google, Facebook, Apple, Microsoft, Uber, Deliveroo, Mechanical Turk, WeWork und PeopleForHours wird die Arbeitsarmut, damit auch die Rentenarmut und die allgemeine Armut weiter zunehmen.
Die nötige Trendwende wurde beim EU-Sozialgipfel nicht eingeleitet, im Gegenteil. Und übrigens unterstützen auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung und der Europäische Gewerkschaftsbund die ESSR. Den Kampf für menschenrechtliche Arbeitsrechte und gegen die Armut müssen andere in die Hand nehmen.
Näheres zu den Instrumenten und Praktiken des Arbeitsmarktes und der Arbeitsrechte und zur Situation auch der Gegenwehr in einem Dutzend EU-Staaten siehe Werner Rügemer: "Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr", 320 Seiten, Köln 2020.
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