Mehr Niedriglöhnerei, digital und gendermäßig aufgehübscht

Prekär bleibt auch prekär, auch wenn der nächste Auftrag immer mit dem Smartphone gesucht wird. Symbolbild: kalhh auf Pixabay (Public Domain)

Der EU-Sozialgipfel am 7. und 8. Mai in Porto hat keine Trendwende gegen Arbeitsarmut und Arbeitsunrecht eingeleitet. Im Gegenteil

Der zweitägige EU-Sozialgipfel in Portugal begann mit der Feststellung, "Corona" habe die prekär Beschäftigten und gering gebildeten noch ärmer gemacht, die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit der Jugend gefördert und die soziale Ungleichheit dramatisch verschärft. Die Trendwende soll, so die Absichtserklärung von Porto, mit drei Zielen erreicht werden:

Erstens sollen bis zum Jahr 2030 mindestens 78 Prozent der 20- bis 64-jährigen einen Arbeitsplatz haben. Zweitens sollen 80 Prozent der Erwachsenen mit dem Recht auf lebenslanges Lernen grundlegende digitale Fähigkeiten erwerben - dabei soll der Gender Pay Gap, die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen, mindestens halbiert werden. Drittens soll die Zahl der anerkannt Armen um mindestens 15 Millionen sinken.

Im Unterschied zu dem, was man gemeinhin unter "sozial" versteht, ging es beim Sozialgipfel also vor allem um den Arbeitsmarkt, um Zahl und Art der Arbeitsplätze, um Arbeitsrecht. Auch ein von der EU-Kommission vorgeschlagener Europäischer Mindestlohn war Thema. Darüber gab es aber - wie schon vorher - keine Einigkeit.

Vorbereitung seit 2017

Die mit der Corona-Politik nur verschärfte Situation ist nicht neu. Schon beim ersten EU-Sozialgipfel 2017 in Göteborg hatte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärt: Leider, leider herrsche in der EU bei allen Erfolgen auch "Sozialdumping und soziale Fragmentierung". Vor allem in Südeuropa laufe "mit hoher Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und schwacher Wirtschaft die größte Krise seit Generationen". Da müsse man endlich gegensteuern, nicht zuletzt, so Junckers Pflichtbekenntnis, müsse man "Populisten und EU-Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen".

Deshalb proklamierte der Göteborger Gipfel 2017 die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR). Allerdings: Kein Regierungschef war anwesend, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich entschuldigen lassen. Die Erklärung wurde unterzeichnet von lediglich drei EU-Repräsentanten: Von Kommissions-Präsident Juncker, dem estnischen Ratspräsidenten Jüri Ratas und dem Präsidenten des EU-Parlaments Antonio Tajani.

Seitdem wurde der Folgegipfel vorbereitet. In der Zwischenzeit sollten die Regierungen der Mitgliedsstaaten auf die ESSR und deren konkrete Umsetzung eingeschworen werden. Die Kommission erarbeitete die auf der ESSR basierende Richtlinie 2019/1152 und handelte die nun vorgestellte Abschlusserklärung aus. Politiker aus wichtigen EU-Staaten unterstützten jetzt in Porto die Erklärung, gleiches taten Vertreter der Europäischen Gewerkschaftsverbände.

Der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) trat für "faire Löhne" ein. Zustimmung, allerdings vermischt mit Kritik vor allem am Mindestlohn. Aber dem war die Kommission ja schon entgegengekommen: Der Mindestlohn steht nicht in der Abschlusserklärung.

ESSR: Historisch niedrigster Standard

Seit Jahrzehnten hat die EU mehrere Dutzend Richtlinien zum Arbeitsrecht beschlossen. Am bekanntesten sind die Entsende- und die Dienstleistungsrichtlinie. Zum gleichen Recht von Mann und Frau auch in der Arbeit gab es 2002 und 2004 zwei Richtlinien: Sie haben die seitdem wachsende Ungleichheit, vor allem im Bereich der prekären und befristeten Arbeit, nicht aufgehalten.

Die ESSR ist der Versuch, die vielen Richtlinien zusammenzufassen. Die ESSR stellt aber den historisch niedrigsten Standard dar: Nicht nur die Arbeitsrechte der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO werden weiter unterlaufen, sondern auch viele bisherige, schon sehr niedrige EU-Standards.

Die ESSR ist eingeteilt in drei Abteilungen: Erstens Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, zweitens faire Arbeitsbedingungen, drittens Sozialschutz und soziale Inklusion. Gendermäßig hochkorrekt ist nicht nur von Arbeitnehmern die Rede, sondern immer auch von Arbeitnehmerinnen.

Junge Menschen: Recht auf Praktikumsplatz

Recht Nr. 4 hat die Überschrift "Aktive Unterstützung für Beschäftigung". Da heißt es zum Beispiel: "Junge Menschen haben das Recht auf einen Praktikumsplatz". Immerhin! Es muss ja kein richtiger Ausbildungs- oder Arbeitsplatz sein. Ob der gnädig bereitgestellte Praktikumsplatz bezahlt wird - dazu keine Angaben. Weiter heißt es: "Arbeitslose haben das Recht auf individuelle, fortlaufende und konsequente Unterstützung". Hartz IV erfüllt diese Kriterien doch gut: Die Unterstützung ist individuell und irgendwie auch konsequent, oder nicht? Wie hoch die Unterstützung ist - auch dazu keine Angaben.

Atypische Arbeitsverträge dürfen nicht "missbraucht" werden

Recht Nr. 5 heißt "Sichere und anpassungsfähige Beschäftigung". Dazu heißt es: "Der Übergang in eine unbefristete Beschäftigungsform wird gefördert": Mit der ESSR geht die EU also zunächst von befristeter Beschäftigung aus, und irgendwie wird dann die unbefristete Beschäftigung gefördert - die muss aber nicht kommen. Weiter heißt es: "Prekäre Arbeitsbedingungen werden unterbunden, unter anderem durch das Verbot des Missbrauchs atypischer Verträge". Atypische Verträge sind also zulässig und normal, sie dürfen nur nicht "missbraucht" werden. Weiter heißt es: "Probezeiten sollten eine angemessene Dauer nicht überschreiten." Angemessen. Sollten.

Private Streitbeilegung statt staatlicher Arbeitsgerichte

Im Recht Nr. 7 heißt es: "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht, am Beginn ihrer Beschäftigung schriftlich über ihre Rechte und Pflichten informiert zu werden." Donnerwetter! Das ist ja fast (fast) so viel wie in China! So geht es weiter: "Bei jeder Kündigung haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht, zuvor die Gründe zu erfahren." Also schon bevor man vor die Türe gesetzt ist! Von dieser Güte gibt es noch mehr Rechte: "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf Zugang zu wirkungsvoller und unparteiischer Streitbeilegung." Das erfüllt den langgehegten Wunsch der Unternehmer und wie es schon in den Arbeitsrechts-Kapiteln von Freihandelsabkommen wie Ceta steht: Weg von den staatlichen Arbeitsgerichten, lieber die betriebsinterne, private, nichtöffentliche Streitschlichtung!

"Lange Teilnahme am Arbeitsmarkt" - wie lange ist "lang"?

Im Recht Nr. 10 heißt es: "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf ein Arbeitsumfeld, das ihren beruflichen Bedürfnissen entspricht und ihnen eine lange Teilnahme am Arbeitsmarkt ermöglicht." Im Klartext heißt das: Arbeitsmigranten aus Rumänien und Flüchtlinge (die nicht ertrunken oder verhungert sind) werden in Deutschland und Frankreich von den Unternehmern und Vermittlern und Jobagenturen dort eingesetzt, wo ihre Ansprüche und vielleicht anerkannten Qualifikationen am besten hinpassen.

Und was bedeutet eine "lange" Teilnahme am Arbeitsmarkt? Wie lang ist "lang"? Lebenslang? Bis zur gesetzlichen Rente? Oder eben solange, bis die Arbeitskraft verschlissen ist wie in den Fleischfabriken?

Soziale Rechte müssen "angemessen" sein

Die Rechte Nr. 11 bis 20 stehen unter der Überschrift "Sozialschutz und soziale Inklusion". Sie betreffen Kinder, Arbeitslose, RentnerInnen, auch die Gesundheitsversorgung, Mindesteinkommen, Behinderung, Pflege, Wohnraum usw. Die Rechte sind auch hier nicht nur unverbindlich, sondern besonders unbestimmt: "angemessene Freistellungs- und flexible Arbeitszeitregelungen", "angemessene Kündigungsfrist", "angemessene Mindestlöhne", "angemessener Lebensstandard", "angemessener Sozialschutz", "angemessene Leistungen von angemessener Dauer" (für Arbeitslose), "angemessenes Ruhegehalt", "angemessene Unterkünfte und Dienste" (für Wohnungslose).

Keine Kollektivrechte

Die kollektiven Arbeits-, Tarif- und Gewerkschaftsrechte, die Mitbestimmung und Belegschaftsvertretung fehlen in der "Europäischen Säule" vollständig. Das setzt die bisherige Politik der Arbeitsrechte in der EU fort: Gefördert werden individuelle Rechte - die der privaten Unternehmer besonders. Allerdings darf zeitgeistgemäß der Begriff "soziale Inklusion" nicht fehlen.

Null-Stunden-Arbeitsvertrag: jetzt zulässig

Die Richtlinie 2019/1152 zur Umsetzung der ESSR hat den gekonnt irreführenden Titel "Transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen". Danach sind nun auch die unter den Tory-Regierungen in Großbritannien entwickelten Null-Stunden-Arbeitsverträge zugelassen: Sie enthalten keine verpflichtende Zahl der Arbeitsstunden, die dürfen auch mal Null pro Woche betragen. Die Richtlinie besagt lediglich: Sie sollen nur nicht "missbraucht" werden. So gibt es nun das Recht auf Mehrfachbeschäftigung: Gelegenheits-, Mini- und Teilzeit-Jobber, Null-Stunden-Vertragler und "gig worker" sollen das "Recht" bekommen, nebenbei noch einen Zweit-, Dritt- usw. Job anzunehmen.

Weiter heißt es: "Die Richtlinie hat einen breiten persönlichen Anwendungsbereich. Er soll sicherstellen, dass alle Arbeitnehmer/innen in allen Beschäftigungsverhältnissen - selbst in den flexibelsten atypischen und neuen Formen wie Null-Stunden-Verträge, Gelegenheitsarbeit, Hausarbeit, Arbeit auf der Grundlage von Gutscheinen oder Arbeit über Plattformen - in den Genuss dieser Rechte kommen." Auch das ist nun mit der Erklärung von Porto Grundlage des EU-Arbeitsrechts.

Lebenslanges Lernen für Digitalisierung

Diese neuen noch niedrigeren, noch flexibleren Arbeitsrechte sollen zudem Teil der "digitalen und grünen Wende" nach Corona sein. Das Recht auf lebenslanges digitales Lernen soll die Anpassung an die forcierte Digitalisierung auch der Arbeit fördern.

Doch diese noch niedrigeren Standards mit allen atypischen, prekären, auch vertragslosen Beschäftigungen einschließlich des Nullstunden-Vertrags sind die bevorzugten Standards in der digitalisierten Arbeitswelt. Gig worker, die keinen Arbeitsvertrag haben, warten schon jetzt zu hunderttausenden allein und bibbernd zuhause, dass sie per Smartphone einen neuen Auftrag bekommen.

Solche Aufträge können in so kleine Portionen aufgeteilt sein, dass sie bei einem Honorar von einem Euro beginnen. Unklar ist, wann der nächste Auftrag kommt und ob er vielleicht hoffentlich 12,70 Euro bringt. Vielleicht kommt er in der Nacht und muss sofort erledigt werden. Wenn er nicht sofort erledigt wird, sinkt die algorithmisierte Bewertung des "gig workers", er bekommt dann weniger und kleinere Aufträge oder vielleicht auch keine mehr. Verhandlungen mit den meist anonymen Arbeitgebern gibt es nicht, weder individuell noch kollektiv.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat in ihrem Report The World Employment and Social Outlook. The role of digital labor platforms in transforming the world of work (Genf, 23. Februar 2021) Arbeitsverhältnisse auch bei Plattform-Konzernen in der EU untersucht, bei Uber (Taxi), Deliveroo (Essenslieferung), PeeplePerHour (freelance-Arbeit) und die Arbeitsvermittlung Mechanical Turk von Amazon. Ergebnis: Als Teil der Pandemie-Maßnahmen ist die Entwicklung, die schon lange vorher forciert wurde, weitergegangen.

Die Digital- und Plattformkonzerne haben nun ein noch größeres Einzugsgebiet und können sich noch großflächiger und schneller vergleichsweise gut qualifizierte Menschen aus armen Staaten und Regionen suchen, um sie gegen gut qualifizierte Menschen in reicheren Staaten und Regionen ausspielen. Viele "regulär" Beschäftigte verdienen so wenig, dass sie erpressbar und dankbar für eine auch schlecht bezahlte digitale Nebenarbeit sind. Dabei nimmt das Gender Pay Gap zu. Mit der forcierten Digitalisierung wird die EU also diese Entwicklungen eher unterstützen als verhindern.

Abbau der Armut?

Bis 2030 soll es 15 Millionen weniger Arme in der EU geben, so die Erklärung von Porto. Nach Angaben des EU-Statistikamtes gibt es gegenwärtig 91 Millionen Arme. Die Zahl ist ohnehin nach niedrigen Kriterien berechnet - aber schon diese 91 Millionen sind ziemlich genau immerhin 20 Prozent aller EU-Einwohner.

Mit den Praktiken und Methoden der ESSR und der forcierten Digitalisierung der Arbeit unter dem Kommando von Amazon, Google, Facebook, Apple, Microsoft, Uber, Deliveroo, Mechanical Turk, WeWork und PeopleForHours wird die Arbeitsarmut, damit auch die Rentenarmut und die allgemeine Armut weiter zunehmen.

Die nötige Trendwende wurde beim EU-Sozialgipfel nicht eingeleitet, im Gegenteil. Und übrigens unterstützen auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung und der Europäische Gewerkschaftsbund die ESSR. Den Kampf für menschenrechtliche Arbeitsrechte und gegen die Armut müssen andere in die Hand nehmen.

Näheres zu den Instrumenten und Praktiken des Arbeitsmarktes und der Arbeitsrechte und zur Situation auch der Gegenwehr in einem Dutzend EU-Staaten siehe Werner Rügemer: "Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr", 320 Seiten, Köln 2020.

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