Mehr Selbstmorde in Zeiten von Wirtschaftskrisen
Mit steigender Arbeitslosigkeit nimmt nach einer EU-weiten Studie auch die Zahl der Selbstmorde, Morde und Todesfälle durch Alkohol zu
Wirtschaftskrisen sollen, wie manche Soziologen behauptet haben, zu einer besseren Gesundheit der Menschen führen. Mit der Arbeit entfällt der Stress, es gibt mehr Zeit, um sich sportlich zu betätigen oder sich zu bewegen, mangels Geld wird nicht mehr zu viel gegessen oder Alkohol getrunken. So soll die Mortalität in schlechten wirtschaftlichen Zeiten sinken und mit dem Aufschwung wieder steigen (Schlechte Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit sind gute Zeiten für die Gesundheit). Es gibt aber auch die umgekehrte Vermutung, dass Arbeitslosigkeit oder Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes den Stress erhöhen und zu ungesunden Lebensstilen führen. Die WHO etwa warnte, dass mit der Wirtschaftskrise "Stress, Selbstmorde und psychische Störungen" zunehmen, die Armen als erste leiden und es schwer werden könne, die Budgets für die Gesundheitssysteme vor Streichungen zu bewahren.
Ein internationales Team an Soziologen und Medizinern unter der Leitung von David Stuckler von der Oxford University hat versucht, aufgrund von empirischen Daten herauszuarbeiten, wie sich Wirtschaftskrisen auf die Menschen auswirken. Untersucht wurde dabei die Mortalität anhand von Daten über Arbeitslosigkeit in den drei Jahrzehnten zwischen 1970 und 2007 in 26 europäischen Ländern. Frühere Analysen haben das BIP pro Kopf zugrunde gelegt, um eine Verbindung zwischen wirtschaftlich schlechteren Zeiten und gesundheitlichen Auswirkungen zu eruieren. Das betreffe aber nicht die alltäglichen Erfahrungen der Menschen, sagen die Wissenschaftler in ihrer Studie, die in der Zeitschrift The Lancet erschienen ist, weil das BIP nur eine durchschnittliche Verteilung des Wohlstands darstellt und ein Sinken des BIP nicht notwendig mit steigender Arbeitslosigkeit einhergehen muss.
Wenn die Arbeitslosigkeit über 3 Prozent steigt, was nur selten der Fall war in dem untersuchten Zeitrahmen, stellen sich teils deutliche Veränderungen bei einigen Faktoren als Todesursachen ein. Besonders stark steigen Tode, die durch Alkoholmissbrauch verursacht wurden, an, während Tode durch Drogenkonsum ebenso stark zurückgehen. Alzheimer und Diabetes sinken ebenso wie Todesfälle durch Verkehrsunfälle, einen Anstieg gibt es bei Selbstmorden und Morden. Auch wenn die Arbeitslosigkeit nur um ein Prozent zunimmt, fällt die Zunahme der Todesfälle durch Alkohol, Selbstmord und Mord auf.
In den 26 Ländern ist mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 1 Prozent ein Anstieg der Selbstmorde bei den Menschen unter 65 Jahren um 0,79 Prozent zu beobachten. Dasselbe gilt für Morde, während Verkehrsunfälle um 1,39 Prozent sinken. Bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um mehr als 3 Prozent, steigt die Zahl der Selbstmorde um 4,45 Prozent. Das bedeutet, dass sich 1740 mehr Menschen zusätzlich umbringen. Während die Selbstmordrate in der Altersgruppe der Männer zwischen 15-29 Jahren sinkt, steigt sie vor allem bei dem 30-44-Jährigen an. Bei den Frauen ist hingegen die Altersgruppe der 15-29-Jährigen am stärksten von einem Anstieg der Selbstmorde betroffen.
Todesfälle durch Alkohol steigen um 28 Prozent, was 3500 zusätzliche Tode bedeuten würde. Das zeigt, so interpretieren die Wissenschaftler die Zahlen, dass kurzfristige negative Folgen der Arbeitslosigkeit vor allem den psychischen Stress erhöhen. Interessant ist auch, dass jede 10 US-Dollar, die während einer Wirtschaftskrise in Beschäftigungsprogramme investiert werden, die Auswirkung der Arbeitslosigkeit auf die Selbstmordrate um 0,038 Prozent senkt. Finnland und Schweden weichen allerdings von dem beobachteten Zusammenhang ab. So stieg in Finnland die Arbeitslosigkeit von 3,2 Prozent im Jahr 1990 auf 16,6 Prozent im Jahr 1993 an, während die Selbstmordrate kontinuierlich abnahm. Ähnlich war dies in Schweden, als die Arbeitslosigkeit 1991 von 2,1 Prozent auf 5,7 Prozent im Jahr 1992 gestiegen war. Möglicherweise hätten Beschäftigungsprogramme oder das soziale Sicherungssysteme hier eine entscheidende Rolle gespielt, vermuten die Wissenschaftler.