Mehr über Ursachen von Depressionen
Seite 3: Depressionen statt Rückenschmerzen?
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Ich will zum Schluss kommen. Ulrich Hegerl hat Recht, wo er feststellt, dass in den letzten Jahren nur die Anzahl der Diagnosen von Depressionen zunimmt, nicht aber deren Häufigkeit nach Schätzungen der wissenschaftlichen Forschungsliteratur. Ob aber schlicht immer mehr Menschen psychologische und psychiatrische Hilfe suchen, weil mehr über deren Angebote bekannt ist, oder ob die Probleme der Menschen größer werden, das wissen diese Forscher nicht, das weiß Hegerl nicht und das weiß ich auch nicht. Zudem wurde hier die Rechnung völlig ohne das Burn-out-Syndrom gemacht, über das in den letzten Jahren immer häufiger berichtet wurde.
Im Interview im Radio Berlin Brandenburg behauptet Hegerl, früher seien halt häufiger Rückenprobleme diagnostiziert worden, die man heute korrekt als Depression erkennen würde. Diese These lässt sich überprüfen - und sie ist laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts wahrscheinlich falsch: Gaben 2003 15,5% der Männer und 21,6% der Frauen an, unter chronischen Rückenschmerzen zu leiden, waren es 2009/2010 schon 16,9% beziehungsweise 25,0%.
Mehr Frühberentungen wegen Depressionen
Hegerl hat allerdings Recht damit, dass psychische Störungen einen immer größeren Anteil der Frühberentungen ausmachen (2002: 28,5%, 2016: 42,9%). Seine Behauptung, deren Gesamtanzahl habe sich nicht verändert, ist jedoch fraglich: Es hängt davon ab, welche Zeiträume man miteinander vergleicht; und die Interpretation ist noch einmal eine ganz andere Frage.
Korrekt ist, dass es um das Jahr 2000 einen Rückgang gab. Die Rentenforscher Kalamkas Kaldybajewa und Edgar Kruse vermuten, dass dieser sowohl am medizinischen Fortschritt als auch am Rentenreformgesetz lag, das 2001 in Kraft trat und die Zugangsvoraussetzungen erschwerte.
Schaut man sich aber den Zehnjahreszeitraum von 2006 bis 2015 an, dann fällt folgendes auf: In den Krisenjahren gab es einen Anstieg der Frühberentungen, der im Jahr 2010 einen Höhepunkt erreichte (14% mehr, verglichen mit 2006); auch 2015 lag die Zahl noch knapp 10% höher als unmittelbar vor der Finanzkrise. Im selben Zeitraum sank die Zahl der Frühberentungen wegen Muskel- und Skeletterkrankungen, zu denen chronische Rückenschmerzen zählen, um knapp 20% von 26.490 auf 21.289; wegen psychischer Erkrankungen stieg sie aber um rund 44%, von 51.432 auf 74.234.
Es trifft vor allem Hartz-IV-Empfänger
Die Zahl der Frühberentungen ist also nicht gleich geblieben, sondern spiegelt gesellschaftlich-ökonomische sowie gesetzliche Veränderungen wider. Wenn zudem, wie der Psychiatrieprofessor behauptet, die diagnostischen Methoden seines Fachs verbessert wurden und die Therapien helfen, dann ist es schier ein Rätsel, warum in jüngerer Zeit beinahe 50% mehr Menschen wegen psychischer Störungen aus dem Arbeitsleben ausscheiden mussten als zehn Jahre vorher. Diese Rechnung kann Ulrich Hegerl unmöglich für sich verbuchen.
Der Sachverhalt hat übrigens ein soziales Gesicht, wie die Rentenforscher Kaldybajewa und Kruse schreiben: "Gerade die Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II zeichnen sich durch besonders niedrige durchschnittliche Rentenzahlbeträge aus und werden überproportional wegen psychischer Störungen berentet." Diese Form der Frühberentung trifft also vor allem Hartz-IV-Empfänger, die dann wahrscheinlich mit einer Minimumrente über die Runden kommen müssen. Ich werde auf das soziale Gesicht der Depression am Ende zurückkommen. Festzuhalten ist: Ulrich Hegerls Erklärung ist weder mit Blick auf die Diagnose von Rückenschmerzen, noch auf den Verlauf der Frühberentungen schlüssig.
Arbeit mache nicht depressiv
Dennoch vertritt der Psychiatrieprofessor etwa in der Huffington Post die These: Arbeit macht nicht depressiv! (Danke an eine Leserin für den Hinweis.) Hegerl verweist darin auf eine Studie vom November 2015 über den Einfluss von Arbeitsbedingungen auf die psychische Gesundheit. Diese hat das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft durchgeführt.
Korrekt ist wiederum, dass auch diese Untersuchung keinen Anstieg der psychischen Störungen festgestellt hat. Sie war allerdings auf den Großraum München beschränkt und daher nicht repräsentativ. Für die letzte Befragung aus dem Zeitraum 2013-2015 fehlten zudem die Daten von Menschen jünger als 32 oder älter als 44 Jahre.
Wo wir schon beim Thema Repräsentativität sind: Dass die genannte Häufigkeit diagnostizierter Depressionen bei der Befragung der Deutschen Stiftung Depressionshilfe mit 22,9% doppelt so hoch ist, wie in der wissenschaftlichen Literatur allgemein berichtet, das zieht ihre Repräsentativität in starken Zweifel. (Danke an einen kritischen Leser für den Hinweis.) So etwas muss Depressionsexperten doch auffallen! Trotzdem stand davon im Bericht der Stiftung kein Wort.