Mehr über Ursachen von Depressionen

Seite 4: Selektive Wahrnehmung

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Noch frappierender ist aber, dass die von Ulrich Hegerl zitierte Studie des Max-Planck-Instituts auch Funde erbrachte, die seinem Standpunkt diametral widersprechen: Es scheinen nämlich für Depressionen und Angststörungen…

…vor allem traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend, chronischer und Alltagsstress sowie Temperamentfaktoren zu sein, die das Wiedererkrankungsrisiko beeinflussen. Darüber hinaus sind genetische Faktoren zu nennen, aber auch spezifische Ereignisse, die in der individuellen Biografie der Patienten zu finden sind. Unsere Ergebnisse legen jedoch nahe, dass die Schaffung günstiger Umgebungsbedingungen am Arbeitsplatz sich positiv auf das Wiedererkrankungsrisiko bei affektiven Störungen auswirken kann.

Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, 2015, S. 26

Und weiter:

Einen direkten Einfluss auf die berichteten Fehltage konnten für die Merkmale Ungünstige Umgebungsbedingungen am Arbeitsplatz (Lärm, Hitze / Kälte, Staub / Schmutz, ungünstige Räume, ungünstige Raumausstattung) sowie für empfundenes Mobbing (ungerechtfertigte Kritik, Schikanen, Bloßstellung) gezeigt werden.

Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München, 2015, S. 25

Es ist kein guter wissenschaftlicher Stil, nur Befunde zu erwähnen, die die eigene Sichtweise bestätigen, und widersprüchliche Ergebnisse zu übergehen.

Beispiel Selbsttötungen

Der Psychiatrieprofessor verweist ferner auf die verglichen mit den 1980er Jahren in Deutschland beinahe halbierte Zahl der Suizide. Wenn diese aber auf eine bessere Behandlung zurückzuführen ist, wie er selbst vermutet, dann ist dies wiederum ein Hinweis auf ursächliche Faktoren des Psychosozialen, gerade nicht der Gene. Ein ähnliches Bild ergibt ein Vergleich der Zahlen einiger europäischer Länder:

Laut Zahlen der Weltgesundheitsorganisation ist die Anzahl der Suizide in Deutschland seit 2000 auf dem Niveau von ca. 25 pro 100.000 Einwohnern konstant. In Westeuropa führt Belgien mit großem Abstand die Statistik an. In den Niederlanden ist die Suizidrate aber stark gestiegen und nahmen sich 2016 mehr Menschen das Leben als jemals zuvor.

Würde nun der Anstieg der Diagnosen depressiver Störungen an verbesserten Behandlungsmethoden liegen, wie es Hegerl vermutet, dann hätte die Anzahl der Suizide eigentlich kontinuierlich abnehmen müssen. Vergleicht man zudem die Zahlen vor Beginn der Finanzkrise mit dem Stand von 2015, dann ergeben sich für Dänemark, Frankreich, Griechenland und die Niederlande deutliche Unterschiede:

In Griechenland gibt es zwar, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, sehr wenige Suizide, dafür stiegen sie innerhalb von zehn Jahren aber um über zehn Prozent. Besonders dramatisch war der Anstieg jedoch in den Niederlanden. Quelle: Daten der Weltgesundheitsorganisation

Niederländische Experten vermuten hinter dem Anstieg die zunehmende Individualisierung und Einsamkeit in der Gesellschaft, die allgemein steigende Nachfrage nach psychologischer Hilfe, wodurch die Versorgung schwieriger verfügbar werde, zunehmende Schwierigkeiten beim Wechsel in neue Lebensphasen und die ökonomische Krise. Letztere wird in der internationalen Fachliteratur auch zur Erklärung des Anstiegs in Griechenland herangezogen. Denken Sie selbst darüber nach: Sind das psychosoziale oder biologische Faktoren?

Geschlechterunterschiede bei Suiziden

Das Beispiel Suizid ist noch aus einem anderen Grund interessant für unsere Diskussion: Es ist bekannt, dass sich in so gut wie allen Ländern Männer häufiger umbringen als Frauen. In Deutschland beispielsweise betrug das Verhältnis im Jahr 2015 ca. 1,4:1. Paradox ist aber, dass sehr viel mehr Frauen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Biologisch geneigte Forscher suchten deshalb jahrzehntelang nach genetischen Unterschieden - und fanden bisher keine überzeugende Erklärung.

Diese ergibt sich eher aus dem Verständnis von Geschlechtsrollen: Erstens wählten Männer eher härtere Methoden wie Schusswaffen oder Erhängen, die häufiger zum "Erfolg" führen; zweitens würden sie es auch als beschämender erfahren, einen Suizidversuch zu überleben: Noch nicht einmal das könnten sie richtig machen. Frauen griffen hingegen zu weniger "erfolgreichen" Methoden wie Tabletten oder Schnittwunden und verwendeten solche Versuche eher als Hilferuf, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

An diesem Beispiel wird deutlich, wie eine auf die Biologie beschränkte Sichtweise in der Psychiatrie sogar Menschenleben kosten kann: Indem Forscher lange am falschen Ort suchen und psychosoziale Erklärungen außer Betracht lassen.

Das soziale Gesicht der Depressionen

Einen letzten deutlichen Befund ergibt ein Blick auf den sozio-ökonomischen Status (SES), mit dem Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Depressionen untersuchen. Die eingangs erwähnte Studie des Robert-Koch-Instituts zeichnet hier ein bedrückendes Bild, dass es sich dabei vor allem um eine Störung armer Frauen handelt:

Bei Frauen fällt die Anzahl der Diagnosen einer Depression innerhalb der letzten zwölf Monate von 12,9% (niedriger SES, blau) auf 7,0% (mittlerer SES, rot) und 5,5% (hoher SES, gelb) mit dem Wohlstand. Für Männer gibt es keinen solchen Effekt. Quellen: Zahlen des Robert-Koch-Instituts, 2013

Zwar belegt so ein Bild noch keinen kausalen Zusammenhang. Es könnte etwa sein, dass Frauen nicht depressiv werden, weil sie arm sind, sondern dass sie umgekehrt arm werden, weil sie depressiv sind. Das würde aber zumindest die Frage aufwerfen, warum es keinen vergleichbaren Effekt bei Männern gibt. In welche Richtung die Ursache-Wirkung-Beziehung hier auch weist, die Abbildung macht ein weiteres Mal deutlich, dass Depressionen ein psychosoziales Gesicht haben.

Eine heikle Frage der Interpretation

Denselben Befund haben wir bereits bei der Diskussion der Frühberentungen wegen psychischer Störungen gehabt: Die betrafen vor allem Hartz-IV-Empfänger - und auch darunter vor allem Frauen. Man möge nun selbst den Unterschied dieser beiden Interpretationen der Kausalität betrachten und vergleichen: Armut macht depressiv. Oder: Depressionen machen arm.

Hegerl behauptet dies zwar nicht, geht jedoch sehr weit mit seiner Vermutung, dass Depressionen arbeitslos machten und nicht umgekehrt Arbeitslosigkeit depressiv. An der Interpretation hängt sehr viel für die Fragen von Verantwortung, vielleicht sogar Schuld, sozialer Gerechtigkeit und der Ausgestaltung von Präventions- und Hilfsangeboten. Wo man die Ursache verortet, im Individuum oder in der Gesellschaft, hat also große gesellschaftspolitische Auswirkungen. Wer sich hier deutlich für eine Interpretation entscheidet, der muss schon über sehr gute Argumente verfügen.

Unhaltbare Schlussfolgerungen

Das ist beim Standpunkt der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und ihres Vorsitzenden, Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig, aber nicht der Fall. Wie wir gesehen haben, sprechen die wissenschaftlichen Daten deutlich für die psychosoziale Sichtweise, während die genetische Veranlagung nach heutigem Kenntnisstand nur wenig beiträgt. Die Schlussfolgerung der Stiftung, die Bevölkerung müsse biologische Faktoren als relevanter, psychosoziale als weniger relevant ansehen, lässt sich jedenfalls nicht halten.

Dass die Medien, etwa das ZDF, der SWR, der Focus, Spiegel Online, die Welt oder Radio Berlin Brandenburg die Pressemitteilung der Deutschen Stiftung Depressionshilfe in Zusammenarbeit mit der Deutsche Bahn Stiftung kritiklos übernehmen und hier ohne wissenschaftliche Notwendigkeit eine arbeitgeberfreundliche, neoliberale Haltung einnehmen, wirft kein gutes Bild auf sie. Auch war keine der genannten Redaktionen bisher dazu bereit, ihre Berichterstattung zu überdenken.

Wahrlich: Depressionen sind ein politisch brisantes Thema.