Mehr über Ursachen von Depressionen

Seite 2: Für und Wider molekularbiologische Psychiatrie

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Um hier Missverständnisse zu vermeiden: Die molekularbiologische Sichtweise könnte stimmen. Dann sollte man aber erwarten, dass sich ein starker Zusammenhang zwischen Genen, Gehirnzuständen und Depressionen herstellen lässt. Mit etwas theoretischer Vernunft wird einem schnell klar, dass die Natur die psychiatrischen Diagnosehandbücher unserer Zeit natürlich nie gelesen hat und daher nicht zu erwarten ist, dass die 227 immer noch sehr unscharfen (wie viel ist "signifikanter" Gewichtsverlust, wie viel "zu viel" Schlaf usw.?) Kombinationsformen der Störung irgendeinem identifizierbaren Naturzustand entsprechen.

Hier könnte man einwenden, dass unser Verständnis von Depressionen eben noch nicht endgültig ist. Das stimmt sicher, macht den Standpunkt für den Psychiater - der immerhin aufgrund des heutigen Verständnisses diagnostiziert, behandelt und ent-schuldigt - aber nicht einfacher! Respekt für all diejenigen, die sich in aller Redlichkeit trotzdem auf diese Herausforderung einlassen. Wenn aber an dem molekularbiologischen Ansatz der Psychiatrie etwas dran ist, dann sollte man doch erwarten, dass sich wenigstens irgendeine der rund 150 bis 600 unterschiedenen psychischen Störungen deutlich genug in Genen oder Gehirnen abzeichnet, dass man damit eine Diagnose stellen könnte.

Das ist aber nicht der Fall. Und zwar nach mehr als hundert Jahren in der neurobiologischen Tradition Emil Kraepelins und anderer Pioniere der wissenschaftlichen Psychiatrie. Und zwar nach Jahrzehnten sprudelnder Forschungsmilliarden - es sind wirklich Jahr für Jahr Milliarden! - mit immer ausgefalleneren Gehirnscannern und Gensequenzierern. Nein, die molekularbiologische Psychiatrie steckt in ihrer tiefsten Krise seit langem, auch wenn man das noch nicht überall wahrhaben möchte (ADHS und die Suche nach dem Heiligen Gral).

Pionier am Umdenken

Eine in diesem Zusammenhang interessante Persönlichkeit ist der amerikanische Psychiater Kenneth Kendler (Jahrgang 1950), einer der einflussreichsten Wissenschaftler unserer Zeit. Er hat seit den 1970er Jahren bis heute an drei Ausgaben des dort und in vielen anderen Ländern maßgeblichen Diagnosehandbuchs (DSM-III von 1980, DSM-IV von 1994, DSM-5 von 2013) mitgearbeitet; zuletzt übrigens ganz konkret in der Arbeitsgruppe für affektive Störungen, also auch den Depressionen in der Form, die wir oben kennengelernt haben.

Als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Genetik psychischer Störungen hatte er sich in jungen Jahren angeschickt, das Geheimnis der Schizophrenie zu knacken - bis heute ist das keinem gelungen ("Es gibt keine Schizophrenie"). Auch zu den Ursachen von Depressionen hat er maßgeblich geforscht. Jetzt, auf seine älteren Tage, rückt er jedoch zunehmend vom molekularbiologischen Ansatz ab; seine Gedanken zum Wesen psychischer Störungen seien denjenigen, die nicht vor Englisch zurückschrecken, wärmstens empfohlen.

Vage Anhaltspunkte

Halten wir fest: Die biologische Sichtweise könnte stimmen; sie ergibt aber einfach kein schlüssiges Bild psychischer Störungen. Professor Hegerl, der die biologischen Ursachen als relevanter verstanden haben will, schreibt in Antwort auf meine kritischen Fragen:

Hier [das ist im Organismus, Anm. d. A.] kann dann wieder … nach Veränderungen in verschiedenen neurochemischen Systemen und Hirnfunktionen (z.B. Stresshormonsystem) gesucht werden, die als Auslöser wirken können oder die die biologische Grundlage für die aktuelle depressive Symptomatik darstellen. Hierbei ist festzuhalten, dass zwar eine Fülle von Veränderungen beschrieben sind, der genaue Krankheitsmechanismus aber noch nicht aufgeklärt ist.

Ulrich Hegerl

Diese "Fülle von Veränderungen" (gemeint ist: im Körper beziehungsweise im Gehirn, im Nervensystem, in den Genen) krankt leider an zu viel Widersprüchlichkeit und vor allem daran, dass der herrschende Standard für wissenschaftliche Publikationen statistische Signifikanz ist, nicht aber praktische Relevanz.

Praktische Relevanz, statt statistischer Signifikanz

Was heißt das konkret? Dass die in der Forschungslandschaft beschriebene "Fülle von Veränderungen" für die klinische Psychiatrie praktisch irrelevant ist. Diese Funde müssen bloß in einer Gruppe von Versuchspersonen irgendein Muster aufweisen, das nicht rein zufällig aussieht. Dafür gibt es statistische Signifikanztests. Diese wurden ursprünglich für den Landbau entwickelt, nämlich um die größten Kartoffeln zu züchten. Da kommt es nicht auf die einzelne Knolle an, solange sie im Mittel größer werden.

Nun ist es aber ein weiter Weg von Kartoffeln und anderen Feldfrüchten hin zum einzelnen, einzigartigen Menschen. Der Standard für die wissenschaftliche Psychiatrie müsste ohne Zweifel die praktische Relevanz sein - Psychiatrie ist ja schließlich nicht nur eine Sphäre für wilde Ideen, wie es vielleicht Philosophie und Mathematik sind, sondern wichtiger Teil der praktischen Wissenschaft, genannt Medizin.

Wie wir am Anfang gesehen haben, bekommen allein in Deutschland jedes Jahr rund 5 Millionen Menschen die Diagnose Depression. Nehmen wir die häufigsten anderen Störungen hinzu, dann kommen die führenden Forscher auf diesem Gebiet auf knapp 40% der Bevölkerung beziehungsweise rund 33 Millionen Menschen in Deutschland, über 150 Millionen in der EU (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört). Und das jedes Jahr!

Praktische Relevanz misst man nicht mit dem Signifikanztest, sondern mit der Effektgröße. In der Forschung werden dafür in der Regel Menschen (oder auch Versuchstiere) in zwei Gruppen getrennt, eine mit der Diagnose und eine ohne. Jetzt schaut man nach einem Kriterium, das kann die Ausprägung von Genen sein oder auch psychosoziale Merkmale. Vergleicht man die Häufigkeit des Vorliegens eines Kriteriums in beiden Gruppen, dann kann man das Quotenverhältnis berechnen. Je größer dieses Verhältnis, desto größer der Effekt.

Effektgrößen entscheiden

Um hier nicht nur rein theoretisch zu argumentieren, habe ich in meinem offenen Brief an die Stiftung Deutsche Depressionshilfe solche Quotenverhältnisse aufgeführt: die allgemeinen für Gene, die vielfach mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht wurden (nach dem erwähnten Kenneth Kendler), sowie diejenigen für schwere Lebensereignisse wie dem Tod eines Nahestehenden, Scheidung, Verlust der Arbeit oder Erleben eines Verbrechens (zufällig ebenfalls nach Kendler, doch hier gibt es viel mehr Literatur mit ähnlichen Ergebnissen).

Dabei zeigte sich: Der Beitrag des Psychosozialen zu Depressionen scheint für diese Beispiele vier- bis siebenmal so groß zu sein wie das Biologische. Es wäre hilfreich gewesen, hätte die Stiftung, die so sehr an der Biologie festhält, hier bessere Daten angeführt; oder sonst irgendeiner meiner Kritiker in der Diskussion. Dass es niemand getan hat, meine zugegebenermaßen nicht lückenlose Erfahrung in dem Forschungsgebiet und Rücksprache mit Kollegen, die aktiv in der Psychiatrie forschen, bestärken mich aber in meiner Vermutung, dass es schlicht keine besseren Daten gibt.

Neue Genetik-Studie

Tatsächlich sieht es für die molekularbiologische Psychiatrie noch schlechter aus, als ich es beim Schreiben meines vorherigen Artikels vermutete. Der beste Hinweis fiel nämlich auf eine 2015 in Nature veröffentliche Studie zur Genetik depressiver Störungen. Wir haben gelernt: Schaue nicht nur auf die statistische Signifikanz, sondern auch auf die Effektgröße. Diese ist allerdings noch einmal um mehr als 20% kleiner als das, was ich im letzten Beitrag der Gegenseite eingeräumt habe (Was sind Ursachen von Depressionen?). Damit ergibt sich folgendes Bild:

Von links nach rechts sehen wir die Effektgrößen der genannten Genetik-Studie in Nature aus dem Jahr 2015 (blau), der Gene allgemein, die mit psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht werden allgemein (rot), schwerer (gelb) und schwerster Lebensereignisse (grün).

Vergleicht man diesen neuen Fund, ein Beispiel für Hegerls "Fülle organischer Veränderungen", mit den schwersten Lebensereignissen, dann ist das Psychosoziale ca. 8,5-mal so stark beteiligt wie das Biologische. Dazu muss man aber noch sagen, dass der Fund der Nature-Studie nur für die ethnische Gruppe der Han-Chinesen signifikant war, von denen immerhin rund 10.000 untersucht wurden. Und auch nur Frauen. Und auch nur solche, mit schweren Depressionen.

Wir erfahren, dass die zwei gefundenen genetischen Ausprägungen irgendetwas mit Mitochondrien zu tun hätten. Dumm nur, dass ausgerechnet diese beiden Ausprägungen auf Chromosom 10 auf den Orten genannt rs12415800 und rs35936514 in Europäern kaum vorkommen. Und trotz dieses scheinbaren genetischen Pechs der Chinesen werden Depressionen dort 70% seltener diagnostiziert als in Deutschland. Wie verzweifelt muss jemand auf der Suche nach Erfolgserlebnissen sein, der so etwas als Durchbruch feiert?