Meinungsfreiheit oder Cancel Culture: Wie viel Missfallen darf gezeigt werden?
Einige irren sich: Sie verwechseln Meinungsfreiheit mit dem Recht auf Abwesenheit von Kritik. Vier Hinweise für den Umgang mit Grundrechten in Diskussionen.
Das bundesweite Demo- und Protestgeschehen legt es nahe – zurzeit wird wieder viel über unsere Grundrechte diskutiert. Sie stehen im Grundgesetz, unserer Verfassung, und sind schon deshalb von besonderer Bedeutung.
Sie gelten für alle Menschen in Deutschland, die ihrem Schutz unterliegen. Gern und häufig werden sie im politischen oder gesellschaftlichen Diskurs zur Argumentation herangezogen. Das ist einerseits richtig und gut, kann andererseits aber auch problematisch oder sogar falsch sein. Daher vier Hinweise für einen sicheren Umgang mit den Grundrechten in der Diskussion:
1. Hinweis: Es sind Schutzrechte gegen einen übergriffigen Staat
Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.
Az. 1 BvR 400/51
Dieser Satz stammt vom Bundesverfassungsgericht. Die Verfassungsrichter taten ihn bereits 1958 in einer Entscheidung kund. Er gilt seitdem fort und beschreibt präzise und anschaulich den besonderen Wert der Grundrechte als Freiheitsgarantien des Einzelnen und Schutzrechte gegen einen übergriffigen Staat.
Von Ausnahmen abgesehen ist es daher wenig zielführend, gegenüber dem Nachbarn oder Gegendemonstranten Grundrechtsverletzungen wie etwa eine Verletzung der Meinungsfreiheit geltend zu machen, wie es dennoch immer wieder die AfD tut. Dazu schrieb schon vor Jahren die taz:
"Die AfD ist dafür bekannt, sich als Opfer zu inszenieren und Wirklichkeiten umzukehren. Dass Demonstrierende ihre Veranstaltung mit Zwischen- und Buhrufen stören wollten, sehen sie als Einschränkung der Meinungsfreiheit."
Doch nicht beim Individuum sind Grundrechte einzuklagen, sondern beim Staat. Er ist primärer Ansprechpartner. Die Einhaltung der Grundrechte allein gegenüber Privaten zu verlangen, offenbart vor allem die Unkenntnis über die wichtigste Funktion der Grundrechte.
Möchte man seine Grundrechte hingegen an der richtigen Adresse einfordern, nämlich beim Staat, ist es zugleich sinnvoll, auf Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes zu verweisen. Der stellt klar, dass alle staatliche Gewalt an die Garantie der Grundrechte gebunden ist.
2. Hinweis: Neben Rechten gibt es Pflichten
Neben den klassischen Freiheitsrechten, die eben schon exemplarisch genannt wurden, gibt es auch grundrechtliche Pflichten. Dazu gehört die Elternpflicht aus Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz, wonach die Eltern zur "Pflege und Erziehung der Kinder" verpflichtet sind. Hinzu kommt die aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes abzuleitende Pflicht des Lehrpersonals zur Verfassungstreue (das AfD-Parteibuch lässt grüßen!).
Artikel 12 des Grundgesetzes regelt die Berufsfreiheit und eröffnet in Absatz 3 die Möglichkeit, Strafgefangene zur Arbeit zu verpflichten. Deshalb müssen Gefangene in manchen Bundesländern noch immer Zwangsarbeit leisten. Adressatin oder Adressat von Grundrechten zu sein bedeutet also, nicht nur Rechte zu haben, sondern auch Pflichten.
3. Hinweis: Grundrechte spielen auch im Strafrecht eine Rolle
Grundrechte spielen nicht nur vor dem Bundesverfassungsgericht eine Rolle. Im Gegenteil: Gerade vor den ordentlichen Gerichten, besonders im Strafrecht, geht es immer wieder um grundrechtlich geschützte Positionen sowie darum, diese gegeneinander abzuwägen.
Wer glaubt, nur bei den Karlsruher Richtern stehe ein Grundgesetz auf dem Tisch, hat deshalb weit gefehlt. Ein typisches Beispiel sind strafrechtliche Verfahren wegen Beleidigung. Hier ist regelmäßig § 185 Strafgesetzbuch vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit anzuwenden.
Ein spannender Fall, der letztlich vor dem Verfassungsgericht landete, ist der sogenannte Trulla-Beschluss (Az. 1 BvR 2249/19). Die Verfassungsrichter gaben der Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen statt, der eine Vollzugsbedienstete als "Trulla" bezeichnet hatte und deshalb wegen Beleidigung verurteilt worden war.
Diese Äußerung sei – mit Blick auf die hohe Bedeutung der Meinungsfreiheit – kontextbezogen zu bewerten. Insbesondere sei zu prüfen, ob der Gefangene nicht vielmehr in einer emotional belastenden Situation damit allgemeine Kritik am Strafvollzugszugssystem zum Ausdruck bringen wollte. Kurzum: Die Grundrechte beeinflussen auch die Instanzrechtsprechung – mal mehr, mal weniger, aber nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts immer häufiger.
4. Hinweis: Bei Berufung auf das Widerstandsrecht ist Vorsicht geboten
Neben den klassischen Grundrechten, zu finden in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes, existieren noch weitere, sogenannte grundrechtsgleiche Rechte. Um die verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen kennenzulernen, lohnt sich daher auch ein Blick in Artikel 93 Absatz 1 Nummer 4a des Grundgesetzes. Dort findet sich eine Aufzählung dieser grundrechtsgleichen Rechte.
Dazu gehören etwa die Justizgrundrechte aus Artikel 103 des Grundgesetzes. Dort ist auch Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes genannt, der wörtlich besagt: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."
Hier sollte man Vorsicht walten lassen. Einige Gruppen, die mit dem Widerstandsrecht argumentieren, tun dies nicht, um eine Tyrannenherrschaft zu verhindern. Das ist nämlich der ursprüngliche Gedanke hinter dieser Vorschrift. Mitunter hängen sie selbst demokratiefeindlichen Ideologien an.
Im Zuge der Corona-Proteste wurde einerseits das Grundgesetz geschwenkt, zum Teil tummelten sich aber auf denselben Demonstrationen "Reichsbürger", die genau dieses Regelwerk und bundesdeutsche Gesetze allgemein auch vor den Corona-Maßnahmen nicht anerkennen wollten.
Fazit: Nicht über- und nicht unterschätzen!
Die Grundrechte sind eine große, wenn nicht sogar die größte Errungenschaft unserer Republik. Sie können mehr, als man denkt – und weniger, als man sich manchmal wünscht. Und beides ist gut so.