Meister der Elastizität
Wie mich Telepolis zum Nazi machte (Teil 2)
Teil 1: Ich klage an!
Das schöne Band der Disziplin
Wenn der Reichsfilmintendant Fritz Hippler aus Juden Ratten macht, ist das zwar Propaganda, aber sie funktioniert nicht wie gewünscht, weil sie zu offensichtlich ist. Ein guter, also ein im Sinne der Macher erfolgreicher Propagandafilm ist nicht sofort als solcher zu erkennen. Die Botschaft, die vermittelt werden soll, ist auch eher selten in programmatischen Dialogsätzen verpackt, die ein uniformierter Nazi-Führer sagen darf. Hier ein interessantes Beispiel für "nationalsozialistisches Ideen- und Gedankengut" in Zivil:
Junge Bäume, die wachsen wollen, muss man anbinden, dass sie schön gerade wachsen, nicht nach allen Seiten ausschlagen, und genauso ist es mit den jungen Menschen. Disziplin muss das Band sein, das sie bindet - zu schönem geraden Wachstum!
Solche Sprüche gab es im Dritten Reich zuhauf. Ihre Wirkung entfalteten sie nicht für sich allein, sondern durch die dauernde Wiederholung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Die Nazis liebten diese Gleichsetzungen, besonders mit dem deutschen Wald und seinen Bäumen. Der nationalsozialistische Film, schreibt Karsten Witte in Lachende Erben, Toller Tag (eines der besten Bücher über das NS-Kino), "träumte das Ordnungsideal vom vollkommen ausgerichteten Staat als zweiter Natur". Im von der NS-Kulturgemeinde in Auftrag gegebenen "Dokumentarfilm" Ewiger Wald (1936) wird die Geschichte des deutschen Volkes als Geschichte des deutschen Waldes erzählt, von der Bronzezeit bis zum verlorenen Ersten Weltkrieg. Die Nazis versuchten, auch ihren Rassenwahn auf angebliche Naturgesetze zurückzuführen. Wir wissen, was sie mit "Bäumen" machten, die kein "schönes gerades Wachstum" zeigten: diese Menschen wurden in Lager gesperrt, sterilisiert und ermordet.
Es geschah am hellichten Tag von Friedrich Dürrenmatt und Ladislao Vajda steht noch ganz unter dem Eindruck der ideologisch stark aufgeladenen Bilder- und Ideenwelten, mit deren Hilfe Goebbels & Co. ihre Gedanken unters Volk brachten. Der Wald mit seinen hoch aufragenden Bäumen wird da zum Schreckensort, an dem der schwarze Mann kleine Kinder missbraucht und ermordet. Nicht alle Regisseure und Drehbuchautoren der 1950er und 1960er wollten vergessen, was gewesen war. Die politische Dimension des Waldes in Es geschah am hellichten Tag kriegt heute keiner mehr mit, weil wir durch unseren auf Verdrängung, Verheimlichung und Schönfärberei setzenden Umgang mit dem NS-Kino Verbindungen kappen, ohne die vieles von dem, was nach 1945 gedreht wurde, nicht mehr zu verstehen ist.
Die zitierten Sätze über das "schöne gerade Wachstum" sagt der Oberlehrer Dr. Brett in Die Feuerzangenbowle (mehr zu diesem Film bei Karsten Witte). Er knüpft an einen Dialog Bismarcks in Die Entlassung (1943) an: "Es wäre schön, die Menschen wie die Bäume zu ziehen." Dr. Brett ist jung, dynamisch, sympathisch, ein Schülerversteher und das positive Gegenbild zu den alten Trotteln mit stark dialektgefärbter Sprache, aus deren Desavouierung die Feuerzangenbowle ihren sogenannten Humor bezieht. Die Komödie nützt jede Gelegenheit, die Ansichten des Dr. Brett zu bestätigen (sollte der Name ironisch gemeint sein, sind mir die entsprechenden Hinweise entgangen). Als Kind habe ich Die Feuerzangenbowle jahraus jahrein zu Weihnachten gesehen. Hat mir das geschadet? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich den Film immer anschauen durfte, wenn er im Fernsehen lief, weil es harmlose Unterhaltung für die ganze Familie war. Dafür garantierte der Hauptdarsteller Heinz Rühmann (der in Es geschah am hellichten Tag eine seiner interessantesten Rollen spielt, auch wegen der eigenen NS-Vergangenheit).
Mir hat nie jemand gesagt, dass das mit den geraden Bäumen ein von den Nazis in die Welt gesetzter Unsinn ist, der dadurch nicht besser wird, dass er nach 1945 weiter verbreitet wurde. Die Feuerzangenbowle war einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 1944 (also des Jahres, in dem nach Einschätzung der MS gar kein Propagandafilm gedreht wurde). Gesehen wurde er von vielen Kindern, die nun vermehrt als Kanonenfutter in den Krieg geschickt wurden. Im Juni 1944 landeten alliierte Truppen in der Normandie. Im September erreichte die US-Armee die Grenzen des Deutschen Reichs. Im Oktober wurde ein "Führerbefehl" publik gemacht, in dem alle irgendwie einsatzfähigen und noch nicht als Soldat dienenden Männer zwischen 16 und 60 Jahren aufgefordert wurden, sich beim "Volkssturm" zu melden (in Februar 1945 wurden auch die Frauen als Hilfstruppen zum Volkssturm befohlen). Was vor diesem Hintergrund mit Dr. Bretts Wald aus geraden Bäumen gemeint war, ist in Elias Canettis Masse und Macht nachzulesen (im Kapitel "Massensymbole"):
Ein anderer und nicht weniger wichtiger Aspekt des Waldes ist seine vielfache Unverrückbarkeit. Jeder einzelne Stamm ist festgewurzelt und gibt keiner Drohung von außen nach. Sein Widerstand ist absolut, er weicht nicht von der Stelle. Er kann gefällt, aber nicht verrückt werden. So ist er zum Symbol des Heeres geworden: ein Heer in Aufstellung, ein Heer, das unter keinen Umständen flieht; das sich bis zum letzten Mann in Stücke hauen lässt, bevor es einen Fußbreit Boden aufgibt.
In Ewiger Wald werden in Reih und Glied angetretene preußische Soldaten gezeigt, aus denen durch Überblendung eine Baumreihe wird. Im Ersten Weltkrieg kommen die Feinde, um die deutschen Bäume abzuholzen, worauf sie in Form von Hakenkreuzbannern wiederauferstehen. Wenn man das heute sieht, wirkt es abstrus. Aber wenn einem so etwas andauernd eingebläut wird, stellen sich solche Überblendungen wie in Ewiger Wald irgendwann auch in den Köpfen des Publikums ein. Was daraus wurde, kann man in Bernhard Wickis Die Brücke sehen. In den letzten Kriegstagen werden Kinder in Uniformen gesteckt. Dann sollen sie eine Brücke verteidigen. Am Ende sind sie fast alle tot. Die Kinder versuchen, das zu tun, was sie gelernt haben. Der deutsche Mann erfüllt seine Pflicht und bleibt wie ein Baum da stehen, wo ihn irgendein Führer hingestellt hat.
Der NS-Staat bestand nicht nur aus Hakenkreuzen. Je mehr man über das Dritte Reich weiß, desto mehr "nationalsozialistisches Ideen- und Gedankengut" entdeckt man in Die Feuerzangenbowle. Das heißt nicht, dass dieser Film auch noch verboten werden soll. Die Feuerzangenbowle wird hier erwähnt, weil daran deutlich wird, dass es ein Trugschluss ist zu glauben, man könne das NS-Kino in "Vorbehaltsfilme" auf der einen und "harmlose Unterhaltung" auf der anderen Seite einteilen. Harmlose Unterhaltung gibt es nicht.
Die Feuerzangenbowle zeigt außerdem, in welchem Dilemma sich die Murnau-Stiftung befindet. Sie hat die Aufgabe, unser filmisches Erbe zu bewahren und für einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem Erbe zu sorgen. Ohne Geld ist das nicht möglich. Das Restaurieren alter Filme ist teuer, das sachgerechte Archivieren sowieso. Den deutschen Steuerzahler soll das nichts kosten. Die Stiftung muss sich deshalb selbst finanzieren.
Ich kann mich an eine Zeit erinnern, als ARD und ZDF deutsche Stummfilme zeigten. Das ist lange her. Heute ist im deutschen Fernsehen auch nur noch ein Bruchteil der "Unterhaltungsfilme" aus der NS-Zeit zu sehen, die dort noch vor zehn oder zwanzig Jahren hartnäckig versendet wurden. Für die MS ist das eine bedrohliche Entwicklung. Die aus Sendelizenzen erwirtschafteten Gelder werden immer weniger. Überspitzt gesagt heißt das: Man muss darauf hoffen, dass die Fernsehanstalten bald wieder viele Filme wie Die Feuerzangenbowle ins Programm nehmen (Filme also, deren nationalsozialistisches Gedankengut man leicht übersehen oder überhören kann), damit wieder mehr Mittel für Restaurierung, Archivierung und Aufbereitung von Stummfilmen, aber auch von offensichtlichen Nazi-Propagandaschinken zur Verfügung stehen. Das ist absurd.
Filme mit und ohne Vorführschein
Der interessierte Telepolis-Leser weiß nun also, wie er sich die etwa 40 Vorbehalts-Titel zusammensuchen kann. Aber wie kam es zu dieser Liste? Nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im Mai 1945 sahen sich die Alliierten mit der Frage konfrontiert, wie sie mit den in der NS-Zeit entstandenen Filmen umgehen sollten. Zuerst musste alles abgeliefert werden. Wieder aufgeführt werden durfte nur, was von den alliierten Kontrollbehörden begutachtet worden war und einen "Filmvorführschein" erhalten hatte. Die geprüften Filme wurden in drei Kategorien eingeteilt. In Kategorie A eingestufte Filme galten als politisch unbedenklich und durften sofort wieder gezeigt werden. Filme der Kategorie B erhielten erst die Freigabe, nachdem bestimmte Schnittauflagen erfüllt waren. Entfernt wurden zum Beispiel Nazi-Symbole, Führerbilder und politisch heikle Dialogpassagen. Es kann demnach durchaus sein, dass in Filmen mit Heinz Rühmann, Marika Rökk oder Johannes Heesters bis 1945 Hakenkreuzfahnen im Wind wehten oder "Heil Hitler!" gerufen wurde, nach 1945 aber nicht mehr. Was wo und in welchem Umfang geändert wurde, ist unzureichend dokumentiert und wurde meines Wissens nie gründlich untersucht. Meistens ist man auf Spekulationen und Gerüchte angewiesen.
In Kategorie C wurden Filme eingestuft, die in eindeutig propagandistischer Absicht gedreht worden waren und von denen man nicht glaubte, dass sich das mit ein paar Schnitten beheben ließ. Diese Filme wurden mit einem generellen Aufführungsverbot belegt. Anfang 1952 überreichten die Briten, Franzosen und Amerikaner (die Russen hatten sich ausgeklinkt) der inzwischen gegründeten (westdeutschen) FSK eine Liste mit allen deutschen Filmen der Kategorie C. Auf dieser Liste standen 221 Titel.
Kyoko Hirano hat ein sehr interessantes Buch über das japanische Kino unter der Besatzung der Amerikaner geschrieben, Mr. Smith Goes to Tokyo. Für Deutschland gibt es etwas Vergleichbares leider nicht. Man kann aber ein paar Dinge feststellen und daraus seine Schlüsse ziehen. Schon im Herbst 1945 wurden viele Filme freigegeben (es sollen etwa 200 gewesen sein), und eine lange Verbotsliste gab es auch. Selbst wenn ein gewisser Prozentsatz der insgesamt über 1000 Spielfilme verloren war oder aus anderen Gründen nie zur Überprüfung vorgelegt wurde, müssen die Kontrollbehörden eine Menge Arbeit gehabt haben und vermutlich wenig dafür verfügbares Personal, das ausreichend Deutsch sprach und den propagandistischen Gehalt der Filme beurteilen konnte. Man muss also davon ausgehen, dass ein ziemlich grobes Raster angelegt wurde. Das bestätigt der Kriterienkatalog, den man bei filmportal.de nachlesen kann. Die Abschriften zweier Originaldokumente von 1945/46 (erste und zweite Fassung) gibt es im Anhang von Klaus Kanzogs Buch "Staatspolitisch besonders wertvoll".
Verboten wurden etwa "Filme, die Faschismus, Nationalsozialismus oder rassistische Abgrenzung glorifizieren" oder "Filme, die eine manipulative Interpretation der deutschen Geschichte betreiben". An letzterem Kriterium und an der daran orientierten Freigabepraxis merkt man schnell, wie schlecht auf Propaganda abzielende Filme mit solch groben Einteilungen zu erfassen sind. Eine manipulative Interpretation der deutschen Geschichte kann man auch betreiben, indem man einen Film dreht, der im 19. Jahrhundert in einem anderen Land spielt und in dem kein einziger Deutscher vorkommt. Historienfilme hatten aber beste Chancen auf eine Freigabe, wenn in ihnen kein Krieg geführt wurde, keine preußischen Helden auftraten und keiner von den Guten gemeine Sachen über Engländer, Franzosen oder Russen sagte. Ich zitiere hier aus der Übersetzung des Filmportals. Noch weniger Vertrauen in die Zensurtätigkeit der Allierten hat man, wenn man das englische Original kennt. Dort heißt es, dass Filme zu verbieten sind, welche die deutsche Geschichte "politisch untergraben und pervertieren" ("Politically subvert or pervert German history"). Beim Filmportal hat man dieser Stelle eine interpretierende Übersetzung angedeihen lassen.
Die sehr grob ausgefallenen Kriterien der Alliierten mögen in der unmittelbaren Nachkriegszeit sinnvoll gewesen sein. Befremdlich ist, dass sie nie gründlich überarbeitet wurden und offenbar bis heute angewendet werden. Will ernsthaft jemand behaupten, dass die propagandistische Wirkung eines Films wie Ohm Krüger heute noch dieselbe ist wie vor 70 Jahren? Oder sollte es ohnehin nur noch um Geschmacksfragen gehen? Ist Hitlerjunge Quex verboten und Die Feuerzangenbowle nicht, weil es irgendwie degoutant und peinlich wirkt, wenn ein pädophiler Kerl in Naziuniform Kinder zum Strammstehen auffordert, während die Nazisprüche in der Feuerzangenbowle aus dem Mund eines adretten jungen Lehrers im Anzug kommen?
Meister der Elastizität
Filme, an denen Personen maßgeblich beteiligt gewesen waren, die als aktive Unterstützer des Nationalsozialismus galten, wurden von den Alliierten grundsätzlich verboten (Punkt 10), aber nicht unter allen Umständen. Punkt 10 galt anfangs nur für belastete Drehbuchautoren, Regisseure und Stars. Wenn in anderer Funktion Leute an einem Film beteiligt waren, die "als Mitglieder oder erwiesene Unterstützer der Nazipartei bekannt" waren, genügte es, deren Namen aus dem Vorspann zu entfernen (sofern ein Film nicht auch andere der insgesamt zehn Verbotskriterien erfüllte). Damals wurde also schon die uns später so liebgewordene Möglichkeit geschaffen, ein Verbot durch eine kosmetische Operation zu ersetzen. Interessant ist, was daraus wurde.
In der überarbeiteten Fassung des Kriterienkatalogs sind zu Regisseur, Autor und Stars noch die übrigen Schauspieler, der Produzent, der Produktionsleiter, der Komponist und der Schnittmeister hinzugekommen. Die Möglichkeit, einen an sich verbotenen Film durch die Streichung belasteter Namen aus dem Vorspann aufführbar zu machen, wird nicht mehr erwähnt. Wahrscheinlich fanden die alliierten Zensoren, dass man das so direkt nicht sagen sollte (das hätte die Frage aufwerfen können, was mit diesen Verboten eigentlich bezweckt werden sollte und welche Wirkungstheorie dahinterstand). In der zweiten Fassung des Katalogs gibt es dafür einen neuen Schlusssatz: "Es wurde Einigkeit darüber erzielt, dass der oben aufgeführte Punkt 10 jedoch mit vernünftiger Elastizität [reasonable elasticity] angewendet werden sollte." Die Westdeutschen erwiesen sich dann schnell als Meister der Elastizität. Einige von Veit Harlans Filmen sind bis heute verboten; andere liefen bald wieder in deutschen Kinos. Letztere waren nun ungefährlich, weil man den Namen des dämonischen Verführers entfernt oder auch nur die Zeit verkürzt hatte, in der er auf der Leinwand zu sehen war (das habe ich nicht erfunden).
Verboten wurden Filme mit der Wehrmacht. Schlechte Karten hatten auch diejenigen Historienfilme, in denen zu Männern in schneidigen Uniformen (Glorifizierung des Militarismus?) noch weitere verdächtige Elemente hinzukamen. Das führte zu eklatanten Fehlgriffen wie im Falle von Max Ophüls' Schnitzler-Adaption Liebelei (1933). Verboten wurde damit einer der wunderbarsten deutschen Filme überhaupt, inszeniert von einem Emigranten. Vielleicht lag es daran, dass Wolfgang Liebeneiner, später einer der führenden NS-Regisseure, einen Oberleutnant spielt. Wahrscheinlich gab aber doch das Duell den Ausschlag. Solche nach starren Regeln durchgeführten Duelle unter Offizieren hatten wenig mit Schießereien in Dodge City zu tun und wirkten besonders auf Amerikaner sehr befremdlich. So galten sie bald als das Symbol einer Werteordnung, die das Dritte Reich erst ermöglicht hatte.
Damit war keine böse Absicht der Alliierten verbunden. Sie standen an einer der radikalsten Schnittstellen der Menschheitsgeschichte und mussten sich fragen, wie es zu so ungeheuerlichen Verbrechen wie der industriellen Ermordung von Millionen Juden gekommen war. Das führte notwendigerweise zu einem Herumstochern im Nebel. Dabei stießen sie auf Fremdes, das oft bedrohlich wirkt, weil es nicht verstanden wird. In Japan entwickelten die Amerikaner eine regelrechte Schwertphobie. Der Colt im Western wurde zur modernen und demokratischen Waffe der Gerechtigkeit erklärt, das Schwert zum Symbol des Feudalismus und der Rückständigkeit. Samurai-Filme wurden generell verboten, Kostümfilme ohne Samurais hatten es sehr schwer. Im August 1945 fuhren US-Soldaten bei den Toho-Studios in Tokio vor und nahmen alles mit, was schwertähnlich war. Akira Kurosawa steckte mitten in den Dreharbeiten zu Die Männer, die dem Tiger auf den Schwanz traten. Er musste das Schwert abgeben, mit dem gerade einer seiner Schauspieler hantierte.
Rouben Mamoulians The Mark of Zorro durfte in Japan erst gezeigt werden, nachdem eine Szene mit Fechtübungen geschnitten worden war; anschließend beklagten sich die Militärzensoren darüber, dass die zivile Zensurbehörde den Film überhaupt zugelassen hatte (überall diese Degen). Auf japanischen Leinwänden durfte es grundsätzlich keine Selbstmorde mehr geben, weil diese irgendwie mit Harakiri und den Kamikaze-Piloten in Verbindung zu bringen waren. Das als faschistisch geltende Kabuki-Theater wurde nur darum nicht komplett verboten, weil es bei der für die Theater zuständigen Stelle einen Mann gab, der etwas von der japanischen Kultur verstand. Die Filmzensoren hatten keine Ahnung. Also durften im Kino keine Verfilmungen von Kabuki-Stücken mehr laufen.
Negative Darstellungen
Die alliierte Zensur im Nachkriegsdeutschland ist mindestens so widersprüchlich wie das, was in Japan passierte. Man muss nur versuchen, sich vorzustellen, wie das gewesen sein könnte, als sich Engländer, Franzosen und Amerikaner auf eine gemeinsame Verbotsliste einigten. Was geschah mit einem Film, in dem es edle Briten und fiese Franzosen gab? Wie war das, als die Sowjets mit den anderen noch mehr oder weniger gemeinsame Sache machten (der Kriterienkatalog von 1945/46 wurde von allen vier Mächten beschlossen)? Galten in vergangenen Jahrhunderten angesiedelte Filme mit edlen russischen Offizieren als politisch eher unbedenklich oder als das genaue Gegenteil, weil diese Offiziere Repräsentanten eines Zaren waren, dessen Nachfolger die russischen Kommunisten erschossen hatten? Welche Rolle spielte der Kalte Krieg? Muss man nicht davon ausgehen, dass die West-Alliierten 1949 einen Film mit antikommunistischer Tendenz viel nachsichtiger beurteilten, als sie es 1945 getan hätten?
Die Schwertphobie der in Japan tätigen US-Zensoren ist symptomatisch und hilft auch zu verstehen, was in Deutschland geschah. Offenbar wurden die Filme nach gut isolierbaren, leicht zu entdeckenden und primär visuellen Indizien für eine mögliche Gefährlichkeit abgesucht: Schwerter, Duelle, Uniformen, Kriegshandlungen, rassistische Zerrbilder, faschistische Symbole, Hitlerbilder. Das konnte zur Not jemand erledigen, der kein Deutsch sprach oder das Verfahren auch mal abkürzte, indem er die eine oder andere Komödie am Schneidetisch schnell durchlaufen ließ. Je subtiler (und damit wirkungsvoller?) die Propaganda war, desto leichter rutschte sie durch. Über die von den Alliierten aufgestellten Kriterien liest man bei filmportal.de Folgendes:
Der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, die mit Gründung der Bundesrepublik die Aufgaben der alliierten Filmzensur übernahm, dienten sie als wesentliche Basis bei der Erarbeitung der endgültigen Zensurbescheide für die Filme der NS-Zeit.
Das klingt so logisch und selbstverständlich, ist es aber nicht. Hier setzen die Verschwörungstheoretiker ein, die sich im Internet zuraunen, dass wir insgeheim noch immer von den Amerikanern regiert werden. Das ist Unsinn. Kein Amerikaner hat die FSK und die Murnau-Stiftung je gezwungen, einen einmal aufgestellten Kriterienkatalog, der notwendigerweise sehr grobschlächtig sein musste, einfach zu übernehmen und dann jahrzehntelang beizubehalten.
Die beste Impfung gegen Rattenfänger aller Art ist diejenige, die das Immunsystem in den Köpfen stärkt. Wenn man schon glaubt, Verbote zu brauchen, sollten sie wenigstens ein gewisses intellektuelles Niveau erreichen. Für mich heißt das: Die deutschen Zensoren hätten sich irgendwann die Frage stellen müssen, wie Propaganda funktioniert oder funktionieren könnte. Wollen Männer Soldat werden, wenn ihnen gezeigt wird, wie toll es ist, in Uniform zu sterben? Wird jemand zum Kommunistenhasser, weil er einen Film sieht, in dem der russische Kommissar besoffen ist und junge Frauen vergewaltigen will? Erzielt man mit dieser Holzhammer-Methode in einer Demokratie mit Meinungs- und Informationsfreiheit dieselbe Wirkung wie in einer Diktatur mit gleichgeschalteten Medien?
Solche Fragen hätten meiner Ansicht nach nur zu einem Ergebnis führen können: Man hätte den Umgang mit dem NS-Film völlig neu überdenken müssen. Also auch diese Verbotsliste. Daran scheint kein Interesse bestanden zu haben. Da nichts gewünscht war, das beim möglichst schnellen Vergessen störte, hätte man die ganze Angelegenheit am liebsten zu den Akten gelegt. Das ging leider nicht. Also entschied man sich für den einfachsten Weg, der zur Abwicklung des lästigen Problems führen konnte. Man übernahm die Verbotsliste der Alliierten und deren Kriterienkatalog. Und weil man in Deutschland keine Regelung wieder loswird, wenn sie erst einmal da ist, blieb es dabei. Das war sogar sehr praktisch, weil die Kriterien nach ein paar kühnen Modifizierungen (die "Elastizität") nicht nur beim Umgang mit alten, sondern auch mit neuen Problemfällen halfen.
Franzosen, Briten, Russen und Amerikaner hatten Filme verboten, "die negative Darstellungen der Alliierten beinhalten, und zwar was ihre Völker, Regierungen, politischen und nationalen Führungen betrifft". Das, fand die FSK, musste auch für die demokratisch gewählte Regierung der BRD gelten. In Vittorio de Sicas Die Eingeschlossenen sagt ein deutscher Industrieller, dass er optimistisch in die Zukunft blicke, da "in unseren höchsten Regierungsstellen noch immer gewisse Leute sitzen, die maßgeblich an Gesetzen mitgewirkt haben, denen zufolge sexuelle Beziehungen zwischen Ariern und Nicht-Ariern mit dem Tode bestraft wurden". Gemeint war Hans Globke, Herausgeber des Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen und 1953 von Adenauer mit der Leitung des Bundeskanzleramtes betraut. De Sicas Film erhielt 1962 erst die FSK-Freigabe, nachdem diese negative Darstellung der politischen Führung entfernt worden war.
Selbstversuch
Die Liste der West-Alliierten, die Anfang 1952 noch 221 Titel umfasste, wurde im Laufe der Jahre, nun unter der Regie der FSK, immer kürzer. 1966 wurde die Murnau-Stiftung gegründet. Das, was von der ursprünglichen Liste noch übrig war, wurde der MS damals überreicht. Seither wurden weitere Titel freigegeben. Und das, was bleibt, das ist die aktuelle Liste mit den Vorbehaltsfilmen. (Jedenfalls vermute ich das. Ich bin, wie bereits gesagt, auf meine Kombinationsgabe angewiesen. Meine Anfrage bei der MS harrt seit Monaten ihrer Beantwortung.)
Demnach würde der verantwortungsvolle Umgang mit dem NS-Filmerbe so aussehen: Wir halten weiterhin ein Verbot bestimmter Filme für erforderlich und gehen der Einfachheit halber davon aus, dass die West-Alliierten vor 65 Jahren beim Überprüfen von Hunderten von Spielfilmen so genau gearbeitet haben (nach so präzisen Kriterien wie "revisionistische Tendenzen", "Glorifizierung des Deutschen" oder "verfälschte Wertevermittlung"), dass, wenn sie sich doch mal irrten, dies nur bei Verboten geschah, bei Freigaben aber grundsätzlich nicht. Falls jemals ein Film, der von Briten, Franzosen und Amerikanern freigegeben wurde, mit Schnitten oder ohne, später - vielleicht im Lichte neuerer Erkenntnisse - unter Vorbehalt gestellt wurde, ist mir davon nichts bekannt. Meine Theorie könnte auch erklären, warum keine kürzeren Filme auf der Vorbehaltsliste stehen. Wahrscheinlich waren die Alliierten mit dem Sichten der vielen Spielfilme schon mehr als ausgelastet.
Nehmen wir an, dass es so gewesen ist. Dann hätte das Kuratorium der MF, das darüber zu befinden hat, was ein Vorbehaltsfilm ist, nie Veranlassung gehabt, sich über die Nazi-Sprüche in der Feuerzangenbowle (Verbreitung von "nationalsozialistischem Ideen- und Gedankengut") eine Meinung zu bilden. Denn Die Feuerzangenbowle ist "harmlose Unterhaltung" und stand nie auf einer Verbotsliste. Solche Filme waren durch den Kriterienkatalog der Alliierten nicht zu erfassen. Eigenen Angaben zufolge ist es aber die Aufgabe der MF, den verantwortungsvollen Umgang mit den "in ideologischer Absicht produzierten Filmen jener Zeit" zu sichern - nicht den Umgang mit einer Uralt-Verbotsliste, deren letzte Reste bald ihren 65. Geburtstag feiern können.
Ich fürchte fast, dass diese Verbotsliste nur Kosmetik ist. Jedenfalls ist der Umgang mit dem, was uns die Nazis hinterlassen haben, äußerst schludrig. Daraus ergeben sich zwei mögliche Folgerungen:
- Die VB-Filme sind doch nicht so gefährlich, wie gesagt wird. Dann sollte man sie freigeben, damit Erwachsene, die sich informieren wollen, dies tun können, ohne dass eine Aufsichtsperson dabei sein muss. Diese Filme sind interessante Zeitzeugen, in denen uns das Dritte Reich sehr direkt und unverstellt entgegenkommt. Wenn dann ein Idiot im Kino sitzt und johlt, müssen wir das aushalten. Wenn viele johlen wissen wir wenigstens, dass wir ein Problem haben. Oder:
- Das Dritte Reich hat wirklich virenähnliche Filme hervorgebracht, die so gefährlich sind, dass man sie noch heute unter Verschluss halten muss. Dann sollten wir danach trachten, möglichst viel über sie in Erfahrung zu bringen, statt uns an alte Listen und noch ältere Kriterienkataloge zu halten und beim Ausbruch einer Epidemie den Amerikanern, Franzosen und Engländern, die sich vor 65 Jahren überlegen mussten, wie man zum Nazi wird (oder einer bleibt), die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Unser Wissen über diese Machwerke ist aber sehr begrenzt, obwohl sie so gefährlich sind. Das ist grob fahrlässig. Ich will mir deshalb ein Beispiel an Luis Trenker nehmen, der sich in Germanin (1943) mit der tödlichen Schlafkrankheit infiziert, um die Wirksamkeit des titelgebenden Serums zu beweisen. Für Telepolis und im Dienste der Aufklärung werde ich mich im Selbstversuch dem Faschismus-Virus aussetzen. Ich werde mir mindestens ein Dutzend dieser Propagandafilme ansehen, in chronologischer Reihenfolge, und Forschungsberichte verfassen, die dann hier erscheinen werden. Da ich nicht weiß, wie lang die Inkubationszeit ist (auch dazu gibt es keine Informationen), werde ich mir das NS-Virus nicht auf einmal, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg zuführen. Meine Berichte werden deshalb in unregelmäßigen Abständen erscheinen.
Sollte ich im Laufe des Experiments an Gehirnerweichung erkranken, einen braunen Hautausschlag bekommen oder auf eine andere Weise Opfer der Nazikrankheit werden, ist das hier meine Anklage. Ich schleudere sie der gewissenlosen Telepolis-Redaktion entgegen, die mich nicht an dem Experiment gehindert hat. Ausreden wie "Pass selber auf dich auf, du bist erwachsen!" verfangen nicht. Denn unsere Art von "Vergangenheitsbewältigung" macht eines deutlich: Beim Umgang mit den Filmen der NS-Zeit werden volljährige Bundesbürger wieder zu Kindern, für die der Papa und die Mama, in dem Fall etwa die FSK und das Kuratorium der Murnau-Stiftung (die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien mischt auch mit), entscheiden müssen, was gut für sie ist.
Demnächst also in diesem Theater: Das Dritte Reich im Selbstversuch