Menschenmaterial für den deutschen Arbeitsmarkt
Von brauchbaren Arbeitskräften kann die Nation nie genug bekommen. Aber was bedeutet das für den Menschen? Kommentar zu den neuesten Reformvorhaben der Regierung. (Teil 1)
Das Fachkräfteproblem in Deutschland ist ein rundum anerkannter Missstand. Bei seiner öffentlichen Thematisierung werden meist alle einschlägigen Ideologien der Marktwirtschaft abgespult und selbst eine noch recht junge Fachkraft wie der ChatGPT der Künstlichen Intelligenz kann hier in Sekundenschnelle eine Gliederung für einen Besinnungsaufsatz oder für einen Hintergrundartikel im Berufsjournalismus präsentieren. So jedenfalls jüngst der Nachweis bei Telepolis: "Was eine intelligente Maschine zum Fachkräftemangel zusammenträgt".
Aber es wird nicht nur geklagt: "Fachkräfteland Deutschland" – unter diesem Titel stellte die Bundesregierung bereits im letzten Oktober ihre Strategie zur Fachkräftesicherung vor. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat, gingen nun am 23. April mit diesem Projekt wieder in die Öffentlichkeit, nachdem sie das Weiterbildungsgesetz und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in den Bundestag eingebracht hatten.
Die Strategie der Fachkräftesicherung umfasst fünf Handlungsfelder. Deren Definition gibt darüber Auskunft, was regierungsoffiziell unter dem vielfach beschworenen Problem am Arbeitsmarkt zu verstehen und was hier zu tun ist. Das Bundesarbeitsministerium erläutert den Handlungsbedarf der Regierungsstrategie:
Mit einer zeitgemäßen Ausbildung, gezielter Weiterbildung und einer modernen Einwanderungspolitik wollen wir die Arbeit als Fachkraft wieder attraktiver machen und Unternehmen bei der Fachkräftesicherung unterstützen.
"Fachkräfteland Deutschland" – BMAS 1
Berufstätigkeit ist nicht mehr attraktiv? Haben deutsche Arbeitnehmer keine Lust mehr, als Fachkräfte im legendären "Normalarbeitsverhältnis" zu arbeiten? Das sind ja seltsame Neuigkeiten. Dass viele sich lieber als Hilfsarbeiter irgendwo im Niedriglohnsektor verdingen wollen, gehört doch wohl eher in den Bereich der Legendenbildung.
Was die Regierung durch ihren Arbeitsminister kundtun lässt, zielt auch auf etwas anderes; nämlich darauf, dass sie noch reichlich Potenzial im Inland wie Ausland erschließen will, das bislang der lohnenden Beschäftigung durch die deutsche Wirtschaft nicht zur Verfügung steht und dem Arbeitsmarkt erst zugeführt werden soll. Sonst leide der Standort schwere Not.
Die Politik will in dem Feld jetzt gezielt strategisch handeln. Da hat sie zum einen die Millionen Arbeitslosen im Auge, über die die Wirtschaft das Urteil gefällt hat, dass sie unbrauchbar sind, weil sie nicht über die entsprechende Qualifikation – sprich unmittelbare Brauchbarkeit – verfügen; oder weil sie nicht die geforderte Arbeitsmoral mitbringen, um jederzeit pünktlich oder auf Abruf zur Verfügung zu stehen.
Alleinerziehende Mütter und Menschen mit Behinderung, die nicht immer flexibel einzusetzen sind, oder Menschen mit physischen und psychischen Einschränkungen entsprechen alle nicht den Ansprüchen, die Unternehmen an ihr Menschenmaterial, pardon: an ihre verehrten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stellen.
Dieses Urteil will die Regierung so nicht stehen lassen und verspricht nicht weniger, als dass mit Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen ein Teil dieser Menschen brauchbar zu machen ist. Das soll dann sowohl im Sinne derer sein, die auf der Arbeit als Einkommensquelle angewiesen sind, als auch der Wirtschaft nützen, die immer über ein reichhaltiges Angebot an menschlichem Input verfügen muss.
Dabei haben die vielen Überflüssigen bereits nützliche Dienste geleistet. Halten sie doch die Konkurrenz um Arbeitsplätze in Gang und tragen zur Lohndrückerei bei.
Deshalb ist die Meinung, dass ausreichend Arbeitskräfte im Lande vorhanden seien und diese nur entsprechend bezahlt werden müssten, kein willkommener fachlicher Rat, der die Regierung beruhigt. Sie macht sich ernsthaft Sorgen um den Arbeitsmarkt und sieht sich gefordert.
Fachleute wie der Leiter des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) sehen die Sache dagegen etwas entspannter: Von einer "klassischen Mangellage" könne keine Rede sein; "Arbeitgeber tun bei der Personalsuche zu wenig", nach jahrelangen Reallohnsenkungen seien sie nicht bereit, attraktive Angebote zu machen; Arbeitnehmer seien heute "mobiler" und "orientieren sich eher dorthin, wo Löhne besser sind" (der Arbeitsökonom Jäger im Interview mit dem General-Anzeiger, 20./21.5.23).
Was dieser Fachmann etwas gelassen zur Kenntnis bringt, ist gerade die Gefahr, der die Regierung begegnen will. Ein zu geringes Arbeitskräfteangebot würde die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt verändern, kämen doch die Arbeitsuchenden in die Lage, Bedingungen für ihre Beschäftigung zu stellen, anstatt dass sich die Arbeitgeber an einem Heer von Arbeitssuchenden ungehindert bedienen können.
Die Regierung will daher handeln und verweist auf die vielfältigen Beschwerden der unterschiedlichen Branchen, die über fehlende Fachkräfte klagen. Das wird Insofern deutlich, als die Regierung ein gespaltenes Verhältnis zu ihren Bürgern hat: Zum einen sollen sie sich möglichst komplett für das deutsche Wirtschaftswachstum nützlich machen, zum anderen hat es aber auch immer seinen Vorteil, wenn ein Überfluss an Arbeitskräften existiert, die um eine Beschäftigung konkurrieren müssen.
In der Regierungsinitiative geht es zudem um Migration, also um den Zugriff auf ausländische Arbeitskräfte. Warum es dazu einer "modernen Einwanderungspolitik" bedarf, erschließt sich auch nicht auf den ersten Blick. An einschlägiger Attraktivität fehlt es Deutschland wahrlich nicht, wird doch ständig über die steigende Zahl von Flüchtlingen oder Migranten geklagt.
Offenbar sind aber diese Menschen in den Augen der den Menschenrechten verpflichteten Politiker nicht die Richtigen. Sie haben sich allein schon deswegen disqualifiziert, weil sie sich ohne Erlaubnis auf den Weg gemacht haben.
Der Wille allein, nach Deutschland zu kommen, um dort sein Glück zu machen, zeichnet eben eine Fachkraft nach den Kriterien der hiesigen Politik nicht aus, auch wenn das Motto des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes lautet: "Make it in Germany". Es sollen nämlich genau diejenigen sein, die die verschiedenen Branchen mit ihren entsprechenden Qualifikationen benutzen wollen. Da gibt es viel zu regeln.
Handlungsfeld 1: "Zeitgemäße Ausbildung"
Mit diesem Titel will die Regierung keineswegs behauptet haben, dass die Ausbildung, die hierzulande stattfindet, weitgehend veraltet ist. Worum es geht, macht sie folgendermaßen deutlich:
Mit dem geplanten Weiterbildungsgesetz entwickeln wir konkrete Maßnahmen und Angebote, die bereits am Anfang des Berufslebens einsetzen. Ein wichtiges Instrument ist die Ausbildungsgarantie für junge Menschen.
BMAS 1
Maßnahmen und Angebote am Ende der Schulzeit und zu Beginn des Berufslebens etwa durch die Agentur für Arbeit gibt es schon seit Jahrzehnten – angefangen von der Berufsberatung über Praktika oder Eingliederungsmaßnahmen bis zu überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Was die Regierung mit diesen Maßnahmen unzufrieden werden lässt, bringt sie so zum Ausdruck:
Mit der Ausbildungsgarantie ermöglichen wir jedem jungen Menschen ohne Berufsabschluss den Zugang zu einer vollqualifizierten, möglichst betrieblichen Berufsausbildung. Die bereits bestehenden Angebote der Agentur für Arbeit und der Jobcenter werden geschärft und ausgeweitet. Die Angebote schließen sowohl erste Schritte wie eine Berufsberatung und eine praktische Berufsorientierung ein, als auch ganz konkret die Vermittlung in eine Ausbildung und die Förderung der Ausbildung.
"Zeitgemäße Ausbildung" – BMAS 2
Mit dem Versprechen der Ausbildungsgarantie weist die Regierung auf die Problemlage derer hin, die nach der Schule arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – die also nicht zur Klasse derjenigen gehören, die dank ihrer familiären Herkunft andere Menschen oder gleich ihr Geld arbeiten lassen. Erstere sind darauf angewiesen, dass sie einen Arbeitgeber finden, der bereit ist, sie auszubilden.
Dabei sind in den Augen der Unternehmer Schulabsolventen, so wie sie vom vorsortierenden Ausbildungswesen geliefert werden, in der Regel untauglich für die lohnende Anwendung; sie müssen erst tauglich gemacht werden – überwiegend durch praktische Arbeit. Die Suche nach einem Ausbildungsplatz ist dabei mit einem dreifachen Problem behaftet:
Zum ersten können Arbeitgeber sich die Auszubildenden aussuchen und schauen dabei auf die Schulzeugnisse. Diese teilen das Ergebnis der schulischen Lernkonkurrenz mit. Eine Drei in Rechnen sagt nichts darüber aus, ob der betreffende Schüler die Prozentrechnung oder den Dreisatz beherrscht, sondern nur darüber, ob er in der Lernkonkurrenz durchschnittlich – also mit der Note Drei –, überdurchschnittlich – Zwei und höher – oder unterdurchschnittlich abgeschnitten hat. Schon die Art der Schule und damit des Abschlusses kann da zum Problem werden.
Haupt- und Sonderschüler werden bei der Zulassung zu einem Ausbildungsplatz meist gar nicht berücksichtigt. Sie gelten als Problemfälle, haben sich vielleicht sogar selbst aus der Konkurrenz um Ausbildungsplätze verabschiedet. Für sie muss die Agentur für Arbeit spezielle Angebote machen, damit sie überhaupt Berücksichtigung bei Arbeitgebern finden.
Das zweite Problem ist ideologischer Natur. Wird doch den Schülern weisgemacht, sie müssten im Rahmen des vielfach gegliederten deutschen Schulwesens ihre Begabungen und Potenziale entfalten und auf diese Weise einen Beruf finden, der ihren Interessen oder ihrer Persönlichkeit entspricht. Ganz so, als ob die Arbeitswelt ein Angebot für jede Variante der Menschennatur vorhalten würde und die Anwärter aufs Berufsleben nur das zu ihnen und ihrer Persönlichkeit passende Angebot wählen müssten.
Kaum haben Schulabsolventen das ernst genommen, werden sie auch schon mit der Realität konfrontiert, dass die Arbeitswelt sich eben nicht nach ihren Wünschen richtet, sondern diese sich am Bedarf der Arbeitgeber zu orientieren haben. Der Berufswunsch muss realistisch sein; was zählt, sind die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes.
Das dritte Problem besteht darin, überhaupt einen Betrieb zu finden, der ausbilden will – in welchem Beruf auch immer. Schließlich wurden lange Jahre Jugendliche zu Problemfällen erklärt; es herrschte Jugendarbeitslosigkeit, wie die Klage hieß. Aktuell sieht die Lage nach offizieller Einschätzung so aus:
Die Zahl neuer Ausbildungsverträge ist im Jahr 2021 auf einem historisch niedrigem Niveau geblieben: Insgesamt wurden 473.100 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Die Zahl der Neuverträge war damit zwar um 1,2 Prozent höher als im Vorjahr. Sie blieb jedoch noch immer deutlich hinter dem Ergebnis des Vorkrisenjahres 2019 zurück.
BMAS 2
Wenn die geringen Zahlen abgeschlossener Verträge genannt und mit dem kleinen Trost einer ansteigenden Tendenz versehen werden, heißt das selbstverständlich nicht, dass alle Ausbildungssuchenden einen Platz gefunden hätten. Wenn weniger Verträge abgeschlossen wurden, dann haben die Bewerber insgesamt nicht den Kriterien der Ausbildungsbetriebe genügt.
Denn auch in den Zeiten des beklagten Mangels nehmen Ausbildungsbetriebe nicht jeden – und der Zahl der offenen Ausbildungsplätze steht eine große Zahl von jungen Menschen gegenüber, die leer ausgegangen sind. Also zielen die Aktivitäten der "zeitgemäßen Ausbildung" auf diejenigen, die bislang für eine Ausbildung als untauglich befunden wurden oder schlicht in ihrem Umfeld nichts gefunden haben, um sich für den Arbeitsmarkt fit zu machen.
Wem vor Ort nichts geboten wird, der kann ja auch anderswo in der Republik suchen und sich anbieten. Dafür gibt es dann Umzugshilfen, außerdem sollen neue Lehrlingswohnheime gebaut werden.
Und wo das alles nicht hilft, sollen die unversorgten Schulabgänger in überbetrieblichen Ausbildungsstätten sozialer Träger unterkommen. Möglichst in Kooperation mit Betrieben, damit die zukünftigen Arbeitnehmer auch gleich ein realistisches Bild davon bekommen, was von ihnen verlangt wird, und umgekehrt Betriebe, auch wenn sie nicht selbst ausbilden, das passende Menschenmaterial vorfinden.
Handlungsfeld 2: "Gezielte Weiterbildung"
Warum es die braucht, gibt die Regierung kund:
Die Digitalisierung, der Klimawandel und der demografische Wandel verändern den Arbeitsmarkt maßgeblich. In Zukunft wird der Bedarf an beruflicher Umorientierung und an Job- und Branchenwechsel weiter steigen.
BMAS 1
Digitalisierung und Klimawandel erscheinen in der Darstellung des Ministeriums als schicksalhafte Ereignisse. Dabei steht Digitalisierung für eine umfassende Rationalisierung in Betrieben und Verwaltungen, die viele Arbeitsplätze überflüssig machen wird. Das hat dann die Folge, dass diejenigen, die es trifft, mit dem Arbeitsplatz nicht nur ihre Einkommensquelle verlieren, sondern dass über sie ein Negativurteil gefällt wird: Sie zählen zum Kontingent der Unbrauchbaren, weil ihre Qualifikation nicht mehr gefragt ist.
Der Klimawandel ist auch nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer jahrhundertelangen Industriepolitik, die es dem Kapital erlaubt hat, die Umwelt großzügig zur Entsorgung seiner Abgase und Abfälle zu benutzen. Umgesteuert wird nun von der Politik – aber nicht bei der weiteren Expansion der Produktion, sondern im Hinblick auf Energiepolitik. Sie soll Deutschland unabhängig machen von Energielieferungen aus anderen Staaten, diese umgekehrt in eine Abhängigkeit von deutscher Technologieführerschaft bringen.
Die als Transformation bezeichnete Veränderung der Energiepolitik macht ebenfalls viele Arbeitsplätze unsicher und Menschen letztendlich arbeitslos. Auf sie kommt ein Zwang zu, der von der Regierung als deren persönlicher Bedarf gefasst wird – nämlich als Notwendigkeit, sich beruflich umzuorientieren und eine neuen Job zu suchen, womöglich in einer anderen Branche mit ganz anderen Qualifikationsanforderungen:
Der Strukturwandel wird sich auf Branchen und Regionen unterschiedlich auswirken. In vielen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes ist mit erheblichem Anpassungsbedarf zu rechnen, ebenso in energieintensiven Industrien sowie in den weiteren klimapolitisch zentralen Transformationsfeldern Energiewirtschaft, Bau- und Automobilwirtschaft.
Eine zentrale Herausforderung in diesen Transformationsprozessen besteht darin, Arbeitskräfte in den betroffenen Branchen und Regionen beim Übergang in neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu unterstützen und durch den Strukturwandel bedingte Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Zugleich besteht ein Ziel darin, Fachkräfte in den Unternehmen zu halten und dort für neue Aufgaben weiter zu qualifizieren.
Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterentwicklung der Ausbildungsförderung – Das Arbeit-von-Morgen-Gesetz, Bundestags-Drucksache 19/17740
Die unterschiedlichen Rationalisierungsbemühungen der Wirtschaft, um ihren – hier als Strukturwandel beschriebenen – Erfolg auf dem Weltmarkt zu sichern, werden massenhaft Leute auf die Straße setzen; da ist sich die Regierung sicher und an diesem "Naturgesetz" will sie auch nichts ändern.
Dennoch sollen die Betreffenden nicht der Agentur für Arbeit dauerhaft zur Last fallen. Das Ideal ist, dass sie sich neu qualifizieren, bevor sie überhaupt arbeitslos geworden sind. Arbeitgeber sollen bereits die neuen Qualifikationen vorfinden, wenn sie entsprechend ihrer Kalkulation andere Arbeitskräfte benötigen.
Eine Sicherheit will die Regierung Arbeitnehmern allerdings nicht versprechen, wenn sie vom lebenslangen Lernen spricht. Die immer wieder aufgelegte bildungspolitische Parole bedeutet nämlich nichts anderes, als dass das Einkommen durch Arbeit per se eine unsichere Angelegenheit ist und bleibt, dass also die Betroffenen ständig gezwungen sind, ihre Verkäuflichkeit an sich (wieder-)herzustellen. An diesem Daseinskampf will und kann auch der hochgelobte deutsche Sozialstaat nichts ändern (vgl. Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie, "Der Soziale Staat").