Merkel-Auftritt: Medien sehen in Diplomatie gegenüber Russland einen Irrweg

Die Ex-Kanzlerin Angela Merkel ist eine der Architektinnen von Minsk II, einem diplomatischen Versuch, den Konflikt um die Ukraine beizulegen. Heute wird ihr das zu Unrecht vorgeworfen. Bild: Пресс-служба Президента Российской Федерации / CC BY 4.0

Viele Medien nutzen Merkels gestrigen Auftritt, um Diplomatie als Option gegenüber Russland als Fehler darzustellen. Der Westen hat sicherlich Fehler gemacht. Diplomatie gehört aber nicht dazu. Eine kritische Medienlese

Gestern gab die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel zum ersten Mal nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt ein Interview. In einem Gespräch mit dem Journalisten Alexander Osang im vollbesetzten Berliner Ensemble Theater sprach sie nicht nur über ihr persönliches Befinden, sondern vor allem über den Krieg Russlands gegen die Ukraine, den sie scharf verurteilte.

Der Spiegel-Journalist musste nicht wirklich nachfragen. Denn Merkel weiß, worum es geht. Sie antwortete daher selbst auf die Kritik an ihrer Russlandpolitik. Sie warnte dabei davor, "dass wir nicht nur schwarz und weiß sehen" in Hinblick auf den Nato-Gipfel in Bukarest 2008.

Die ukrainische Regierung kritisiert heute, dass der Ukraine damals die schnelle Aufnahme in die Nato verweigert worden sei. Frankreich und Deutschland insbesondere waren dagegen, die USA drängten in die andere Richtung. Merkels Argument ist: Damals sei die Ukraine noch von korrupten Oligarchen beherrscht worden. Und: Sie wollte Putin nicht provozieren.

Heute gilt das als falsche Appeasement-Politik.

Auch hinsichtlich ihrer diplomatischen Anstrengungen bei der Lösung der Ukraine-Krise seit 2014 verteidigt sie die Haltung der deutschen Regierung.

Ich habe versucht, in die Richtung zu arbeiten, dass Unheil verhindert wird und Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, falsch gewesen. Ich sehe nicht, dass ich jetzt sagen müsste, das war falsch und werde mich deshalb auch nicht entschuldigen.

Georg Schwarte vom ARD-Hauptstadtstudio vermisst in seiner Analyse des Merkel-Auftritts wie andere Journalisten die Selbstkritik bei der Ex-Kanzlerin. Er beklagt, dass Merkel "Kritik an ihrer Außenpolitik abprallen" lasse.

Dabei sei sie mitverantwortlich, dass die deutsche Außenpolitik ein "Scherbenhaufen" sei in Bezug auf Russland. Als Regierungschefin Deutschlands habe sie öfter als jeder andere westliche Regierungschef mit Wladimir Putin geredet und doch nie eingeräumt, einen besonderen Draht zu dem Machtmenschen im Kreml zu haben.

Jetzt bekomme der Heiligenschein von 16 Jahren Merkel aber erste Risse. Schwarte zitiert Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik:

Jetzt stellen wir fest, dass viele Grundannahmen ihrer Außen- und Sicherheitspolitik objektiv falsch gewesen sind und dass die Kritik, die jetzt lauter wird, nicht unberechtigt ist.

Auch dass die Bundeswehr unter ihrer Regierung "verlottert" sei, will Merkel laut Schwarte nicht auf sich sitzen lassen. Daher kommt der ARD-Journalist zu dem Urteil:

Die Kritiker ihrer Russlandpolitik wird Merkel an diesem Abend nicht überzeugen. Als Regierungschefin habe sie das letztlich zu verantworteten. (…) Viele erhoffen, manche fordern ein klares Wort der Altkanzlerin zu ihrer Rolle und ihren Versäumnissen.

Auch Nico Fried von der Süddeutschen Zeitung verweist darauf, dass

Merkels Regierungszeit plötzlich schwer in die Kritik geraten ist, vor allem ihre Russland-Politik. Die Überschrift von damals ("Die deutsche Queen", Telepolis) ginge heute nicht mehr. Angela Merkel aber hat nicht vor, hier klein beizugeben.

In anderen Medienberichten wird immer wieder vom "Wohlfühltermin" wie in der Taz gesprochen. Die implizite Botschaft: Wir begegnen der Altkanzlerin bei ihrem ersten Auftritt mit Wohlwollen, sie hat es sich verdient. Aber ihre Russlandpolitik, ihr softer Umgang mit Putin und ihr Fokus auf Diplomatie sind Fehler gewesen, vielleicht sogar Puzzlesteine, die Russland zum Einmarsch in die Ukraine ermutigten.