Merkel-Auftritt: Medien sehen in Diplomatie gegenüber Russland einen Irrweg

Seite 2: Diplomatie ist kein Irrweg. Im Gegenteil

Aber nicht die Diplomatie ist falsch gewesen. Im Gegenteil, sie ist der einzige Weg zur Konfliktbeilegung. Aber die westliche Seite, inklusive der Bundesregierungen im EU-Verband, haben in der Vergangenheit Fehler begangen. Zum Beispiel durch die Art, mit der die EU das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine 2014 kompromisslos durchsetzen und Russland wirtschaftlich aus der Region herausdrängen wollte. Das war einer der Zündfunken für den Konflikt und den Bürgerkrieg.

Erstaunlich ist, dass niemand bei der Diplomatie-Schelte gegenüber Merkel darauf hinweist, was die deutsche Regierung denn hätte anders tun sollen, anstatt mit Putin zu reden und diplomatische, friedliche Wege der Konfliktlösung zu suchen. Nato-Aufnahme der Ukraine in 2015, Installation von Raketen an der russischen Grenze, harsche Wirtschaftssanktionen gegen Russland?

Auch die Armee-Verlotterungsthese stimmt nicht. Wie kann eine Bundeswehr, deren Etat stark anstieg unter Merkels Regierungen "verlottern"? Und wie garantieren immer mehr Panzer in Deutschland mehr Sicherheit gegenüber einem möglichen russischen Angriff?

Solche Fragen können im hysterischen "Zu-den-Waffen"-Klima im Moment nicht gestellt, geschweige denn sachlich diskutiert werden. Dabei könnte u.a. die Frage, warum die diplomatischen Versuche scheiterten, lehrreich sein.

Politikwissenschaftler wie der ehemalige Leiter des Mac Millan Center‘s Program in European Union Studies der Yale University David R. Cameron sehen zum Beispiel in fehlenden Sicherheitsgarantien von Seiten der USA und Nato-Staaten sowie der Weigerung der Ukraine, Minsk II vollkommen umzusetzen, eine zentrales Frustpotential auf Seiten Russlands, seit vielen Jahren schon.

Auch andere US-Experten wie der eher konservative Außenpolitik-Analyst John Mearsheimer oder der bereits verstorbene Russland-Kenner Stephen Cohen haben seit Ausbruch der Ukraine-Krise immer wieder auf die Gefahr hingewiesen, diesen Frust zu übergehen.

So sei Minsk II (2015) als auch die diplomatischen Bemühungen vor der Invasion Russlands im Februar 2022 auch deswegen im Niemandsland versandet, so David R. Cameron, weil die Ukraine einige ausgehandelte Provisionen des Abkommens nicht umsetzen wollte – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, aber mit fatalen Konsequenzen.

Der zentrale Streitpunkt sei weiter, betont Anatol Lieven vom Quincy Institute for Responsible Statecraft, dessen Analysen regelmäßig in der Financial Times, The American Prospect und The Nation erscheinen, die Autonomie der Donbas-Republiken im Osten. Die ukrainische Regierung verweigere die Umsetzung des Autonomiestatus, wie in Minsk II vorgesehen, da sie befürchteten, dass die Ukraine damit auf ihrem Weg Richtung Westen abgebremst werden könne – was Lieven für durchaus möglich hält. Es sei aber der einzige Weg für eine diplomatische Lösung.

Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Vereinten Nationen haben 2015 das Minsker Abkommen gebilligt. Aber der Westen hat nichts unternommen, um die Ukrainer wirklich zur Umsetzung des Abkommens zu bewegen oder andererseits den Donbass freizugeben. Hinzu kam das Angebot einer NATO-Mitgliedschaft, das nicht wirklich ein Angebot einer NATO-Mitgliedschaft war. Und die Ukraine hat sich auch geweigert, einen Neutralitätsvertrag anzubieten. Ich muss ganz klar sagen: Nichts kann die russische Invasion in der Ukraine entschuldigen. Aber man muss auch sagen, dass wir und die Ukrainer zahlreiche diplomatische Chancen verpasst haben, diesen Krieg abzuwenden.

Die Reaktion auf den Merkel-Auftritt zeigen, dass Diplomatie in Bezug auf Russland im Moment als "Irrweg" angesehen wird. Keine guten Aussichten, wenn man Interesse daran hat, die in dem Krieg enthaltenen Risiken einschließlich eines möglichen Atomkriegs wieder unter Kontrolle zu bringen.

Auch beim Vorwurf, dass Merkel Deutschland bei der Energieversorgung von Russland abhängig gemacht habe, bräuchte es mehr Ehrlichkeit. So sieht Tagesschau-Online als Merkels größtes "Missverständnis ihrer Amtszeit" an, als sie 2011 bei der Einweihung der Gaspipeline Nord Stream etwas sagte, "was heute Wunschdenken ist":

Wir zeigen mit diesem Projekt, dass wir auf eine sichere, auf eine belastbare Partnerschaft mit Russland in der Zukunft setzen.

Damals haben die Medien jene, die gegen die Gaspipeline Nord Stream I und II opponierten und einen Stopp verlangten, mit dem Argument beiseite gewischt, dass das gefährlich für Deutschlands Energieversorgung sei und die Energiewende gefährde. Heute will man sich lieber nicht mehr daran erinnern.