Mexiko: Im Würgegriff des Drogen-Terrors

Emblem der Terrorgruppe FEM in Mexiko. Bild: eldiariodechihuahua.mx

Massaker und brutale Gewalt sind in Mexiko Alltag. Nun eskaliert der Drogenkrieg wieder. Steht ein heimlicher Strategiewechsel der Regierung dahinter?

Leergefegte Straßen, geschlossene Geschäfte, Uni-Kurse abgesagt, Menschen verbarrikadieren sich zu Hause: Vergangene Im August Woche erlebte Mexiko die Brutalität eines bizarren Terrorismus, der die ohnehin massive Gewalt im Land auf eine neue Stufe hievt.

Die Rede ist vom Drogen-Terrorismus. Wahllose Tötungen in einer Pizzeria, blockierte Zufahrtsstraßen und brennende Autos: Die anarchischen Zustände in Mexiko erinnern derzeit an die dystopische Filmreihe The Purge.

Die Tageszeitung Reforma titelte in Bezug auf die Tage zwischen dem 9. und 12. August: "Vier Tage Terror: Narcoblockaden, Attacken und 260 Tote".

Präsident Andrés Manuel López Obrador korrigierte die Zahl in seiner morgendlichen Pressekonferenz am 15. August kurzerhand auf 196 herunter, und zwar durch einen Trick: Er bezog sich auf Zahlen – der Staatsanwaltschaften – vom 12. bis 14. August. Unten links bei "Quelle" ist das bei der gezeigten Präsentation auch für jeden nachvollziehbar.

Zudem basieren die Zahlen des Mediums Reforma auf Erkenntnissen einer Regierungsbehörde, wie die Fakt-Checker des Online-Magazins Animal Politico hervorheben.

"Reforma, schauen Sie, da müssten stehen: Alarma", versuchte der Präsident des zweitgrößten Landes Lateinamerikas seine Pointe – es folgte Totenstille im Regierungspalast. Denn die Realität für die Zivilbevölkerung des Staates, vor allem in den kriselnden Gegenden Nord- und Zentralmexikos, ist gar nicht zum Lachen. Doch was war geschehen?

Guerilla-Taktiken der Kartelle

Einheiten des Militärs hatten Wind von einem Treffen zweier Regionalchefs des Kartells Jalisco Neue Generation (CJNG), "El RR" und "El Apá" bekommen. Ziel war es, Ricardo Ruiz Velazco alias "Doppel-R" festzunehmen. Dieser sei eine "zentrale Figur" eines "der mächtigsten kriminellen Organisation des Landes", wie die anonym betriebene Insider-Plattform El Blog del Narco festhält.

Velazco habe die kriminelle Organisation demnach in den Social Media-Auftritten nach vorne gebracht, sich um Facebook, TikTok- und Youtube-Videos gekümmert, was ihm intern auch den Spitznamen "Der Youtuber" einbrachte.

Die Festnahme gelang offenbar nicht, dafür setzte sich die Wut der Kartell-Mitglieder frei. In Guadalajara im Bundesstaat Jalisco folgten brennende Autos von unbeteiligten Zivilisten und "Narco-Blockaden". Auch Busse und kleine Läden wurden in Brand gesetzt, und zwar in mehreren Bundesstaaten gleichzeitig, was auf eine koordinierte Aktion des Jalisco-Kartells Neue Generation schließen lässt.

Straßensperren werden von den kriminellen Gruppen als Guerilla-Taktik eingesetzt, um einerseits wichtige Zufahrtswege für Militär und Polizei zu kappen sowie um Chaos und Verwirrung zu stiften. Neu ist das nicht: Am 8. März 2010 kam es in Reynosa im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas zum ersten sogenannten narco-bloqueo, oder eben "Drogen-Blockade".

Vor allem die militärisch starken Gruppierungen des Organisierten Verbrechens greifen auf diese Strategie zurück: CJNG, Golf-Kartell, Los Zetas, Familia Michoacana, Los Viagras. Im Mai 2015 kam es im Rahmen der Operation Jalisco zu einer der heftigsten Auseinandersetzungen in der Geschichte des mittlerweile 16 Jahre andauernden Drogenkrieges: 39 Straßenblockaden, 100 betroffene Gemeinden und ein abgeschossener Helikopter des mexikanischen Militärs waren die Folge – der Raketenwerfer der Kriminellen stammte übrigens aus russischer Fabrikation.

Neue Stufe der Eskalation

Nach dem gescheiterten Versuch der Festnahme und den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in mehreren Staaten kam das Land jedoch nicht zur Ruhe. Zwei Tage später war der Schauplatz Ciudad Juárez, eine der gefährlichsten Grenzstädte zu den USA.

Am 11. August wurde nach Behördenangaben um 13:27 Uhr im "Staatlichen Zentrum für soziale Wiedereingliederung Nummer 3" – einer Haftanstalt – eine Auseinandersetzung zwischen den kriminellen Banden Los Chapos und Los Mexicles gemeldet. 20 Verletzte, vier davon mit Schusswaffen und insgesamt zwei Tote waren das Ergebnis.

Doch es blieb nicht dabei: Die Knast-Gewalt fand ihren Weg auf die Straßen und kostete Zivilisten das Leben. Allerdings – und das ist das Novum – nicht als "Kollateralschaden", sondern gezielt.

Wie die Zeitung Milenio unter Berufung auf direkte Quellen berichtet, ordnete Ernesto Alfredo Piñón de la Cruz alias "El Neto" an, Gewalt in der Stadt zu stiften, auch gegen die Zivilbevölkerung. Kleine Läden wurden in Brand gesteckt, Schüsse fielen, neun unschuldige Menschen verloren ihr Leben.

Der Hintergrund: El Neto ist bereits seit 2009 im Gefängnis, seine Strafe summiert sich auf 224 Jahre wegen Entführungen und Morden. Um nicht in ein anderes Gefängnis versetzt zu werden, benutzte er den Terror als Strategie, gab die Anweisung, die Stadt ordentlich "aufzuheizen".

Eine Besonderheit seiner kriminellen Bande ist das Durchtrennen der Köpfe der Gegner, die daraufhin in Kühlboxen mit den Insignien "FEM – Fuerzas Especiales Mexicles" versehen werden, um den Feinden Angst einzujagen.

Mitarbeiter einer lokalen Radiostation, die zufällig auf der Straße waren, Menschen in einer Pizzeria – exekutiert, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren; es ist die pure Willkür.

Das ist die Realität eines Terrorismus, den jeden treffen kann – wirklich jeden. Im Oktober vergangenen Jahres starben eine deutsche Urlauberin und eine indische Influencerin im vermeintlichen sicheren Badeparadies Tulum in einer Bar. Bewaffnete zweier rivalisierender Gruppen bekriegten sich.

"Propaganda", kein Terrorismus

Die Regierung antwortete zunächst mit der Entsendung tausender Soldaten und Polizisten. Die jüngste Welle der Gewalt lässt sich wohl am besten mit der klammheimlichen Abkehr der ursprünglichen Strategie des Präsidenten erklären.

Sein Grundsatz "Abrazos, no balazos" – "Umarmungen, keine Kugeln" – implizierte einen sanften, nicht-militärischen Ansatz. Dieser sollte über Sozialprogramme und die strukturelle Beseitigung der Armut und Perspektivlosigkeit Menschen erst gar nicht in die Hände der Kriminellen treiben. Aus dem Innenministerium hieß es nur, die Vorfälle der letzten Zeit seien "Propaganda" der Narco-Kriminellen, es handle sich dabei nicht um Terrorismus.

Dennoch häuften sich in den letzten Monaten überall im Land die Meldungen über Festnahmen von Kartell-Mitgliedern, Operationen zur Festnahme mehrten sich. Die so provozierten aggressiven Reaktionen bieten einen geeigneten Vorwand für Staatschef López Obrador, die offenkundige Militarisierung des Landes weiter voranzutreiben.

López Obrador will derzeit die Nationalgarde unter die Aufsicht des Verteidigungsministeriums Sedena stellen. Diese Guarda Nacional ist eine von Präsident López Obrador geschaffene Hybrid-Einheit aus Militär und Polizei, dessen offizieller Auftrag die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität ist. Michelle Bachelet, Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR), forderte die mexikanische Regierung kürzlich auf, den "zivilen Charakter" der Nationalgarde beizubehalten.

Eine "offizielle" Wahrheit und eine realistische

Im Juli überraschte eine Meldung in den Schlagzeilen: Rafa Cara Quintero, der Capo aller Capos, der "Narco aller Narcos" wurde geschnappt. Der ehemalige Drogenkönig wurde laut Deutscher Welle (DW) "in der Ortschaft San Simón in den Bergen des nordwestlichen Bundesstaates Sinaloa von mexikanischen Marine-Einheiten gefasst und festgenommen".

Ein großer Erfolg der großartigen mexikanischen Marine-Einheiten. Soweit die offizielle Geschichte. Narrative der Regierungen, die Version der Wahrheit des Staates, sind in Mexiko oft ein Trugbild – man denke an die konstruierte "historische Wahrheit" der Regierung Peña Nietos 2014 zurück, die das Verschwinden der Ayotzinapa-Studenten erklären sollte; ein Kartenhaus aus Lügen.

Kartellexpertin und DW-Kolumnistin Anabel Hernández hat laut ihren Informationen eine andere Wahrheit. In einem Telefonat, das der Ex-Chef des Guadalajara-Kartells aus dem Inneren des Hochsicherheitsgefängnisses tätigte, wo er derzeit residiert, informierte er einen seiner Anwälte. Er hielt fest, dass neben der Marine auch die DEA sowie Interpol bei seiner Festnahme beteiligt gewesen seien.

Die Regierung bestreitet eine Beteiligung der USA allerdings kategorisch. Das Ganze überrascht wenig, denn der Ex-Capo war für Folter und Tötung des DEA-Fahnders Enrique "Kiki" Camarena in den 80ern verantwortlich.

Expansion nach Europa

Mexiko kommt nicht zur Ruhe. Es ist der ständige Zwist zwischen harter Hand und sanftem Ansatz. Brutale militärische Lösungen? Sorgen für Gewaltexzesse wie nach dem Jahr 2006.

"Umarmungen statt Kugeln" also? Das führt zu einem Staat, in dem sich die Schlinge des Organisierten Verbrechens innerhalb der Gesellschaft noch enger zuzieht. Natürlich sind die Ursachen - horrende Korruption auf allen Ebenen der Regierung, das strategische Paktieren von Politikern mit den Kriminellen - das Grundübel. Solange sich daran nichts ändert, ist jegliche Strategie reine Symptombekämpfung.

Und wer denkt: mir doch egal! Sollen sich doch diese Kartellkiller in Mexiko gegenseitig die Köpfe abschneiden! – denkt zu kurz. Das Sinaloa-Kartell etwa agiert als transnationales Unternehmen, ist in mindestens 50 Ländern aktiv. In Italien unterhalten sie gute Kontakte zur kalabrischen Mafia, der ’Ndrangheta. Das konnten Behörden dort im Rahmen der "Operation Halcon" feststellen.

Der europäische Markt soll mit den "Produkten" des Kartells geflutet werden, nachdem die USA bereits als guter Abnehmer etabliert wurde.