Migration aus Libyen: Wo die "Populisten" unterkomplex argumentieren
Der italienische Migrationsforscher Matteo Villa unterstützt Salvinis Forderung nach einer verbindlichen Vereinbarung der EU-Länder. Seine Zahlen untergraben aber gängige Behauptungen
Der italienische Experte für Migration, Matteo Villa, lässt mit seinen Zahlen immer wieder aufhorchen. So etwa im August vergangenen Jahres, als er als erster darauf aufmerksam machte, dass nur mehr 24 Prozent der Migranten aus Libyen übers Mittelmeer nach Italien gelangen, was er als "niedrigsten Anteil" einstufte, den man bisher beobachtet habe.
Die Zahlen, die der Migrationsspezialist beim Think Tank ISPI (Italian Institute for International Political Studies) über offizielle Quellen ermittelte, setzte er mit dem Ziel der italienischen Regierung in Verbindung, wonach "jede(r) zurück muss" (vgl. Migranten von Libyen nach Italien: "Es kommt keiner mehr durch"). Diese Ergebnisse fanden sich schließlich auch auf Seiten von Gegnern der "illegalen Migration".
Zuletzt wurde Matteo Villa von Kritikern der These, wonach NGO-Rettungsschiffe vor der Küste Libyens einen "Pull-Faktor" darstellen, als Referenz zitiert. Villa hatte, wie es auch der Spiegel vor knapp zwei Woche berichtete, ermittelt, dass im Verlauf dieses Jahres im Durchschnitt weniger Migranten von Libyen aus mit Booten ablegten, wenn NGOs vor der Küste fuhren, als an den Tagen, an denen keine NGOs vor der Küste waren.
Seine Maßgabe dafür war der errechnete Tagesdurchschnittswert, den er aus Daten des UNHCR, der Internationalen Organisation für Migration, aus Medien und dem italienischen Innenministerium berechnete. Im italienischen Original sind seine Berechnungen hier aktualisiert zu finden. Demnach legten vom 1. Januar bis 20. Juli 2019 im Tagesdurchschnitt 35 Migranten ab, an denen keine NGOs in der Nähe der libyschen Küste fuhren, und 28 Migranten an den Tagen, an denen NGOs vor der Küste fuhren. Villa zieht daraus den Schluss: "Il pull factor non esiste." ("Der Pull-Faktor existiert nicht.")
Ob das die Gegner der NGO-Seenotrettung überzeugen wird, steht auf einem anderen Blatt. Der Tagesdurchschnittswert ist eine angreifbare Größe, ihn zum Schlüsselwert zu machen, hat was von einem Kunstgriff.
Zumal die Gegner der NGO mit dem großen Zusammenhang argumentieren - damit dass die Präsenz der NGO-Schiffe Bestandteil des Geschäftsmodells der Schlepper ist. Argumentiert wird auf dieser Seite damit, dass die NGOs für die bis zum Juni 2017 hohen Zahlen der Migranten mitverantwortlich waren, die sich auf die gefährliche Überfahrt begeben haben (2014: gerundet 170.000 Ankommende in Italien; 2015: 153.000; 2016: 183.000; 2017: 119.000; 2018: 23.300. Quelle: Eurostat)
Weniger Migranten aus Libyen
Erst die Maßnahmen des damaligen Innenministers Marco Minniti, der schon vor seinem Nachfolger Salvini hart gegen die NGO-Seenotrettung vorging (Libyen: NGOs ziehen Rettungsschiffe vorläufig zurück, haben für die Gegner der NGOs die Zahl der Migranten, die von Libyen aus übers Meer nach Europa wollen, deutlich reduziert.
Diese Sicht wird nicht selten wenig sachlich, dafür aber mit Heftigkeit und Giftigkeit vertreten. Auch dies schon vor Salvini: Woher kommt der Hass auf die Seenotretter?. (An dieser Stelle möchte ich die geehrten Telepolis-Forenten darum bitten, bei ihren Postings auf aggressive menschenverachtende Äußerungen zu verzichten. Sie dokumentieren ein Elend.)
Ins größere Bild muss das Geschäftsinteresse der Schlepper, der Organisatoren und Beförderungshelfer des "Migrations-Fließbandes" mithineingenommen werden. Das Erfolgsmodell des Vorgängers von Salvini im italienischen Innenministerium, Minitti, bestand in einem wesentlichen Kern darin, dass Geschäftsmodell der Schlepper zu verändern. Sie verhinderten nun - gegen viel Geld, wie im Herbst 2017 durchsickerte (Minitti dementierte freilich) - das Ablegen von Migranten, soweit es ihnen möglich war.
Milizen ziehen sich vom Schutz des Menschenschmuggels zurück, ist in einer Studie unter Leitung von Mark Micallef zu lesen. Damit ist ein ganzes Kapitel überschrieben. Die Studie des Genfer Experten-Netzwerks Global Initiative Against Transnational Organized Crime ist eine Nachfolgestudie der umfangreichen Untersuchung zum "Menschlichen Fließband", die im März 2017 "Trends des Menschenhandels und -schmuggels im postrevolutionären Libyen" darlegte.
"Der Kollaps der Menschmuggelindustrie"
Das Update kam dann zwei Jahre später, im März dieses Jahres, und hatte den "Kollaps der Menschenschmuggelindustrie in Libyen und in der Sahelzone" zum Thema. Für Interessierte, die es genauer wissen wollen, wird auf knapp 100 Seiten aufbereitet, wo, wie und warum das zuvor so unerschütterlich erscheinende Netzwerk der Schleuser und Schlepper derart gestört oder unterbunden wurde, dass nun ein neuer Trend konstatiert wurde: der "nachhaltige Rückzug der bewaffneten Gruppen aus dem Schutz(geschäft) dieser Aktivität", der sichtbare Auswirkungen auf die früheren Drehscheiben des Menschenschmuggels an den libyschen Küstenorten und im Hinterland hatte.
Zu den Auswirkungen, die erwähnt werden, gehört auch dass die verbliebenen Schleuseraktivitäten sich stärker ins Klandestine zurückzogen. Dass die Preise für Überfahrten deutlich stiegen (und für die solventen Migranten mit besseren Transportmitteln durchgeführt werden, nicht mit Schlauchbooten) und die Erpressung von inhaftierten Migranten und Zwangsarbeit von Migranten stärker als zuvor als Einnahmequelle benutzt wurde.
Auch das Kartell der Milizen in Tripolis - den Gegner von Khalifa Haftar in den seit April dauernden Kämpfen - wird in diesen Kontext des Kollaps des "Schleuserfließbands" gestellt. Dazu gehört auch, dass die Milizen bemüht sind, sich ein gutes Image zu verschaffen, um an den Geldkreislauf zu kommen, der von der internationaler Seite, nicht zuletzt der EU, ins Land kommt.
Ein gutes Geschäft schon zu Gaddafis Zeiten
Auch bei den Milizen richtet man sich darauf ein, dass irgendwann eine "neue Ordnung" kommt. Um als legitimer Faktor mitzumischen, braucht es einen guten Ruf. Der Verdacht des Menschenschmuggels ist damit nicht vereinbar, Kooperation mit EU-Staaten bei der Verhinderung von Migration nach Europa war schon unter Gaddafi ein lukratives Geschäft.
So verlegen sich die Milizen auf den Geschäftsbereich, der in einem funktionierenden Staat die staatliche Exekutive mehr oder weniger als Monopol hat, zum Beispiel bei der "Verwaltung oder Aufsicht" über die Inhaftierungszentren für illegale Migranten. Dass manche Milizen eng mit der libyschen Küstenwache verbunden sind, ist längst kein Geheimnis mehr.
Im Gegensatz zu den unbewiesenen Behauptungen der direkten, absichtlichen Zusammenarbeit zwischen NGO-Seenotrettern und Menschenschmuggelmilizen liegt diese Kooperation, die mit unmenschlicher Behandlung und großem Leid verbunden ist, offen zutage. Nicht ausgeschlossen, dass dies ein Grund dafür ist, dass Hilfsorganisationen nur spärlich Zutritt oder Einfluss auf die Gestaltung der Bedingungen in den Haftlagern bekommt und die EU es bis dato nicht geschafft hat, diese Misere zu beenden.
Überforderte libysche Küstenwache
Die libysche Küstenwache zeigt sich, was die Rettung von in Seenot Geratenen betrifft, nicht unbedingt auf der Höhe, die nötig ist, um Menschenleben zu retten. Laut UNHCR befürchtet man, dass am Donnerstag über 100 Menschen vor der Küste umgekommen sind. Die Seenotrettung braucht Verstärkung (was nicht unbedingt durch NGOs geschehen muss).
"Mehr Migranten aus Deutschland als aus Libyen"
Aktuell liefert der eingangs erwähnte Migrationsexperte Matteo Villa neue Zahlen zur Migration in Italien. Wie so oft hat er dazu eine Behauptung, die quer zu gängigen Auffassungen steht. Diesmal lautet sie, dass Italien "mehr Migranten aus Deutschland empfängt als aus Libyen".
Villa untermauert diese Behauptung mit dem Vergleich der Zahlen von Migranten, die Deutschland aufgrund der Dublin-Regelungen nach Italien zurückgeschickt hat und den Zahlen der "Boat-People" aus Libyen. Das sind seinen Quellen nach bis dato weniger als 1.200 Personen. Erwartet wird Ende dieses Jahres, dass es etwa 1.900 Migranten werden könnten, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen. Aus Deutschland wurden dagegen 2018 fast 2.300 Asylsuchende nach Italien gemäß der Dublin-Regeln zurückgeschickt.
Tatsächlich, so behauptet Villa, sind es sehr viel mehr, die laut der Dublin-Verordnungen nach Italien zurückgeschickt werden könnten.
Rom akzeptierte nur einen Bruchteil der Menschen, die es zurücknehmen sollte. Seit 2013 hat es Italien mit 220.000 Transfer-Bitten aus europäischen Ländern zu tun. Akzeptiert hat es lediglich 25.000. Allein im Jahr 2018 hatten Frankreich und Deutschland Italien darum gebeten, mehr als 50.000 Personen zurückzunehmen.
Matteo Villa
Zwischen 2013 und 2018 seien lediglich 15 Prozent der Migranten, die sich in einem anderen Land aufhalten als in dem, wo sie zuerst registriert wurden und ihr Asylgesuch behandelt hätte werden sollen, zurückgeschickt worden. Der Grund dafür sei vor allem "politisch" und liege zu großen Teilen daran, so die These Villas, dass das laut Dublin-Verordnungen verantwortliche Land eine Unmenge an "technischen Gründen" geltend machen kann, um den Rück-Transfer zu verhindern. Falls dieser Transfer dann nicht innerhalb von sechs Monaten geschieht, sei das Aufenthaltsland verantwortlich.
Das ist der Grund, weshalb EU-Länder, wo die Migranten tatsächlich auch leben wollen - wie zum Beispiel Deutschland, Schweden, Österreich oder die Beneluxländer - auch die meisten Migranten empfangen und deren Asylgesuche bearbeiten und auch mit den Migranten umgehen, deren Gesuch nicht bewilligt wurde - trotz der Dublin-Regelungen.
Matteo Villa
Italien, so die spitze These des Migrationswissenschaftlers, profitiere im Grunde von den Dublin-Regelungen ("The truth is that, under Dublin, Italy is doing just fine."). Er bestätigt Salvini darin, dass er von den EU-Ländern mehr langfristige Verbindlichkeit, statt ad-hoc-Lösungen verlangt.
Dass Salvini sich aber weigerte, mit ihnen zu kooperieren (der Innenminister kritisierte das Treffen seiner EU-Amtskollegen in Helsinki grundsätzlich und blieb dem Nachfolgetreffen in Paris fern), könnte sich als nachteilig herausstellen, da die anderen Länder eigentlich eine Linie anstreben, die Italien gefordert habe, nämlich die Reform des Dublin-Systems. Sollte sich Italien hier ausschließlich auf eine blockierende Rolle verlegen, könnten die Nachbarstaaten sich dazu entschließen, stärker auf die Durchsetzung der bestehenden Dublin-Verordnungen zu pochen, stellt Matteo in Aussicht.
Zu dieser Ansicht gibt es gegensätzliche Ansichten, Kritikpunkte ("das Problem, das Italien vor allem in den großen Städten mit der Einwanderung hat, ist kein Zahlenspiel, sondern echt") und Annahmen, die den zugespitzten Behauptungen Villas widersprechen. Es wäre angesichts des politischen Klimawandels hin zu mehr Erregung beachtlich, wenn sie ohne weitere Erhitzungen dargelegt werden können.
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