Migrationsabwehr: Zäune für Europa
Österreich gibt im europäischen Alleingang den Migrations-Hardliner. So werden ungelöste innenpolitische Probleme nach außen getragen. Dabei werden "Illegale" im Kapitalismus gebraucht.
Zäune sind keine rein physischen Objekte. Sie sind auch ein Gefühl. Der Alltag bietet viele Beispiele dafür. Die Stadt Wien wird geprägt von Gemeindebauten. Diese sozialen Wohnbauten haben manchmal das Aussehen von Trutzburgen. Dies geschah nicht, wie Konservative gern behaupten, in Vorbereitung auf den österreichischen Bürgerkrieg, sondern war Anfang des 20. Jahrhunderts dem Geschmack der Zeit geschuldet.
Nun kommt es, dass Höfe meist mehrere Eingänge haben, die können entweder offen stehen und Passenden den Durchgang ermöglichen, oder aber verschlossen werden. Dies geschieht in Wien immer häufiger und mit besorgniserregendem Eifer. Der Autor dieser Zeilen bringt seinen kleinen Sohn in einen Gemeindekindergarten, der sich mitten in einem Wiener Gemeindebauhof befindet.
Bei der Renovierung dieses Hofs wurden nun Tore angebracht, die Fort Knox würdig wären. Sie sind nicht mehr zu übersteigen und die Gitterstäbe wurden mit zwei Schichten Lochblechen versehen, damit keine Hand ins Innere des Hofes greifen kann. Wer sein Kind in den Kindergarten bringen will, muss sich über eine Sprechanlage melden. Die funktioniert (natürlich) oftmals nicht und die Elementarpädagoginnen haben meistens anders zu tun, als Türwächterinnen zu spielen.
Befragt nach den Gründen für diese Neuerung, gibt der wachpatrouillierende Hausbesorger an, besonders ältere Bewohnerinnen würden sich nun sicherer fühlen. Damit ist alles gesagt. Sicherheit ist ein Gefühl und sicherlich kein rationales. Wer auch nur ansatzweise sein Einbrecherhandwerk versteht, weiß wie Sprechanlagen und Haustore mit einem einzigen Handgriff zu überwinden sind. Wenn eine Personengruppe leicht in den Hof kommt, dann sind es die Diebe.
Tabu der Zäune brechen
Die meist etwas abstrakte Angst vor Invasoren sitzt in Österreich tief und wird politisch gepflegt. Dies weiß niemand so gut wie der weitgehend glücklos agierende österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer. Er versuchte jüngst innenpolitisch seinen blassen Markenkern aufzupolieren, indem er den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien blockierte.
Damit geriet er europaweit ein wenig ins Abseits, weil auch andere aus dem konservativen Lager in Europa den Schritt für äußerst ungeschickt hielten – um vom Zorn der betroffenen Bulgaren und Rumänen einmal zu schweigen. Nehammer sah offenbar keine Chance, zurückzurudern, und legte deshalb lieber nach.
Die Grenze Bulgariens sei zu wenig gesichert, hier müsste Europa investieren. Zwei Milliarden, um mit einem Grenzzaun zur Türkei den Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Das ist ein bisschen leichter gesagt als getan, scheint aber Teil einer Strategie zu sein. Schon vor Weihnachten hatte Nehammer, passend zur Jahreszeit der warmherzigen Mitmenschlichkeit, davon gesprochen es müsse endlich das "Tabu der Zäune gebrochen" werden, die seien schließlich nicht "neues".
Damit hat er mehr Recht als ihm lieb ist, denn Stacheldraht und Wärmebildkameras gibt es ohnehin schon an Bulgariens Grenze. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass ein Grenzzaun immer irgendwo seine am schlechtesten bewachte Stelle hat und die wird eben ausgenutzt.
Zu suggerieren, dies ließe sich mit entsprechendem Aufwand technisch lösen, ist ein hinlänglich bekannter Kniff von Rechtspopulisten. Eine praktikable Lösung ist es nicht. Die Folgen solcher Symbolpolitik sind hingegen fatal. Die Wirtschaft und im weiteren Sinne die europäische Zusammenarbeit leidet unter den dadurch aufkeimenden Streits und wechselseitigen Anschuldigungen.
Wenn die ÖVP sich dazu entscheidet immer weiter zu eskalieren, dann muss die Partei bald das Asylrecht an sich in Frage stelle (zarte Stimmen in diese Richtung gibt es bereits). Damit würde dann allmählich der ganze Normenkanon aufgelöst, auf den man in Sonntagreden so stolz ist und den man gerne anderen Weltregionen ins Gesicht reibt.
Österreichs Migrationszwickmühle
Leider ist Kanzler Nehammer mit seinen Grenzzaunphantasien nicht der einzige im Lande. Ein bisschen Anti-Asyl ist fast allen Parteien gemeinsam und sei es, dass geschwiegen wird bei Menschenrechtsverletzungen, wie etwa der insgeheimen Duldung von Push-Backs. Diese, übrigens illegalen, Zurückweisungen von Geflüchteten werden langsam gängige Praxis in Europa. Schlicht deshalb, weil man sich anders nicht mehr zu helfen weiß.
Der niederösterreichische Wahlkampf geht gerade in seine Endphase und die Wahl im zweitgrößten Bundesland gilt als wichtiges Barometer für die in eineinhalb Jahren stattfindende Nationalratswahl. Der SPÖ-Spitzenkandidat Franz Schnabl spricht davon "keinen Zaum um Niederösterreich errichten zu wollen".
Rhetorisch grenzt man sich von ÖVP und FPÖ ab, der Sache nach aber immer weniger. Auch die Sozialdemokraten haben es sich im Grundsatz zur Aufgabe gemacht die "illegale Migration" zu bekämpfen.
Bei Gelegenheit könnte wer den Sozialdemokraten mal eine Liste der berühmtesten "illegalen Migranten" aus Österreich übereichen. Willkürliche Beispiele: Franz Werfel überquerte sicherlich illegal mit Teilen der Familie Mann die Grenze nach Spanien und ob Sigmund Freuds Ausreise 1938 legal war, darf als umstritten gelten. Es gab enormen diplomatischen Druck hinter den Kulissen und vermutlich wurden die NS-Behörden bestochen.
Jenseits der pathetischen Fragen von Flucht und Humanität gäbe es noch die pragmatische. Die darf aber nicht in den Blick genommen werden, weil streng ideologisch zwischen "guten" Flüchtlingen, die mit fürchterlichen Verfolgungsgeschichten aufwarten können (und idealerweise hellhäutig sind) und "bösen" Arbeitsmigranten unterschieden werden muss. Eine Linie die in der Praxis kaum zu ziehen ist. Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie keine Perspektive mehr sehen, sei es wegen Krieg oder der Ökonomie.
Im Grunde braucht man die Fremden, mag dies aber nicht einräumen. Österreich kann den einmal erreichten Wohlstand nicht mit den "eigenen", unaufhaltsam sich überalternden Erwerbtätigen erhalten. Es muss Migration her, sonst können wichtige Jobs nicht mehr besetzt werden. Das wissen alle, auch gerade die ÖVP und die ihr nahe Wirtschaftskammer. Zu sagen wagt man es nicht. Sobald an Zuwanderung irgendetwas als gut dargestellt wird, ertönt das Gekreisch der FPÖ, das im Medienboulevard immer wohlmeinende Aufnahme findet.
Man muss sich einfach in Austria vor den Fremden fürchten dürfen. Gleichzeitig ist mit rhetorischer Verschärfung weder für SPÖ noch ÖVP noch viel zu gewinnen. Die tendenziell rechten Wähler können ihrem Original der FPÖ nur bis zu einem bestimmten Punkt abspenstig gemacht werden. Selbst in Krisenzeiten hochnotpeinlichster Skandale ("Ibiza") blieb die FPÖ in ihren Wahlergebnissen zweistellig.
Ein gutes Zehntel des österreichischen Elektrorats hält den Blauen die Stange, komme was da wolle. Außerdem kostet rechte Rhetorik am "linken" Rand. Wenn ÖVP oder SPÖ zu sehr das "Law-and-Order"-Gepolter auspacken, dann verprellt dies liberale Milieus, die dann Grün und NEOs wählen.
Um diese Zwickmühle kreisen die Spindoktoren wie die Motten um die Straßenlaterne. Lösungen sind kaum in Sicht. Mutig neue Perspektiven aufzuzeigen und zu sagen, wie sehr Österreich de facto vom Zuzug auch gerade der illegalen und ungelernten Arbeitskräfte profitiert hat, ist fast unmöglich.
Am Ende zählt die Sicherheit
Allenfalls darf von den hochausgebildeten Fachkräften geredet werden, die die Wirtschaft brauche und die man ins Land locken will. Aber die kommen nur zögerlich und empfinden keinerlei Loyalität gegenüber Österreich. Bei nächster sich bietender Gelegenheit sind sie wieder weg, Richtung Singapur oder New York.
Das Mantra, die billige Arbeitsmigration würde die Löhne ruinieren wurde vielfach wissenschaftlich widerlegt. Der Großversuch "Brexit" liefert hier ununterbrochen neue Daten. Kurzversion: Geschlossene Grenzen lassen die Wirtschaft schrumpfen, Wohlstand geht verloren und Aufstiegschancen für alle versiegen, wenn für viele einfache (und zugegeben schlecht bezahlte) Tätigkeiten das Personal fehlt.
Die Löhne müssen selbstverständlich auch und gerade unten steigen – keine Frage. Aber Grenzregimen erzeugen tückischerweise "Illegale" – und genau die können ausgebeutet werden. Lohndumping ist am besten zu verhindern, indem alle umfassende Rechte haben.
Der Diskurs wandert in Österreich dann schnell von der Migration zur Sicherheit. Mit der Nennung der Vokabel "Sicherheit" schalten österreichische Politikergehirne auf Autopilot. Und Sicherheit – so der Dernier Cri – braucht eben Zäune.
Nur, die projektierten Wohlstandfestungen, mit denen namentlich die ÖVP und Kanzler Karl Nehammer Sympathien zurückerobern wollen, sind sehr teuer. Frontex schafft einfach keinen Mehrwert. Man verschlimmert ein Problem, das sich ohnehin nicht wegsperren lässt und versenkt die Milliarden in Lagern.
Das schlechteste aus beiden Welten: Fiese Stacheldrahtverhaue, die auch manches Herz konservativer Politiker belasten und zugleich exorbitante Kosten. Kanzler Nehammer muss sich fragen lassen, was denn ein Grenzzaun um Europa so kosten würde, gut und umfassend bewacht, am Tage und in der Nacht.
Hier vielleicht mal Infos einholen bei Profis die sich mit so etwas auskennen, wie dem gefeierten US-Immobilienentwickler Donald J. Trump. Sein Zaum (oder war es eine Mauer?) blieb zwar ein ganz kurzer, aber was zählt ist das Gefühl.
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