Misshandelt Deutschland seine Kinder?
Jedes Jahr werden in Deutschland 160 Kinder durch körperliche Gewalt getötet - mindestens
Unlängst erschien ein Buch mit einem provozierenden Titel: Deutschland misshandelt seine Kinder. Verfasst wurde es von Michael Tsokos und Saskia Guddat. Tsokos leitet das Institut für Rechtsmedizin an der Charité und das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin-Moabit. Guddat ist Fachärztin am Institut für Rechtsmedizin der Charité und berät Berliner Kinderkliniken, den Berliner Kinder- und Jugendgesundheitsdienst sowie Ermittlungsbehörden, Gerichte und Jugendämter.
Unterstützt von Andreas Gößling beschreiben die beiden Autoren Fälle von körperlicher Kindesmisshandlung, an deren Aufklärung sie selber beteiligt waren - aber auch Fälle, in denen eine scheinbare Misshandlung durch eine genauere Untersuchung widerlegt werden konnte. Die beiden Ärzte beschränken sich dabei auf das Thema der physischen Misshandlung; sexueller Missbrauch und psychische Misshandlung kommen im Buch nicht vor, weil dies eigenständige Themen sind bzw. in andere Fachgebiete gehören.
Herr Tsokos, im Pressetext zu Ihrem Buch steht, dass "Sie zeigen, welche Dimension die Kindesmisshandlung in Deutschland angenommen hat" - hat die Zahl denn tatsächlich zugenommen? Werden mehr Kinder misshandelt als früher?
Michael Tsokos: Was gestiegen ist, ist die Zahl der Inobhutnahme durch Jugendämter: Die hat sich von 2005 bis 2011 verdoppelt. Jetzt kann man natürlich fragen, ob die Zahl der Kindesmisshandlungen zugenommen hat, oder ob das System mehr agiert. Das ist eine Frage der Interpretation. Gleich geblieben ist die Zahl der durch Misshandlung getöteten Kinder in Deutschland: Das sind ungefähr 160 Kinder pro Jahr, laut offizieller polizeilicher Statistik. Dies sind validierte Zahlen, und es ist klar, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Aber es sind Spekulationen, ob die Dunkelziffer nun bei doppelt so viel oder viermal so viel oder zehnmal so viel Misshandlungen liegt. Aber wenn die Zahl der getöteten Kinder gleich bleibt, dann kann man zumindest sagen, was sich verbessert hat: nämlich gar nichts.
Warum haben Sie und Frau Guddat jetzt dieses Buch geschrieben?
Michael Tsokos: Ich hatte zunächst in Hamburg als Assistenzarzt gearbeitet: Da sah ich Fälle von Kindesmisshandlung und dachte erst, das sind Einzelfälle. Aber ich sah sie immer wieder. Im Jahr 2000 trat dann ein Gesetz in Kraft, das Gewalt in der Erziehung ächtet. Aber ich sah immer noch diese Fälle.
Und wir sprechen hier nicht vom Fremden, nicht vom Kindermörder, der umherfährt und ein Opfer im Landschulheim sucht, sondern von Gewalt in der Familie. An Kindern, die vorher schon in Obhut des Jugendamtes waren! Wo Gewalt in der Familie bekannt war! Das kam immer wieder vor, das ist ein systematisches Versagen. Irgendwann kam dann der Punkt. Da kam Frau Guddat zu mir mit einem neuen Fall. Und dann haben wir gesagt, das müssen wir jetzt bekannt machen.
Sie haben in Ihrem Buch ja viele Fälle beschrieben ...
Michael Tsokos: Und wir haben uns zurückgehalten! Wenn wir das wirkliche Ausmaß und die wirklichen Grausamkeiten dargestellt hätten, dann würde das keiner mehr lesen.
Weil man das nicht aushalten würde?
Michael Tsokos: Genau. Wir haben weder übertrieben noch zugespitzt, wie es uns vorgeworfen wurde, und wir haben auch keine Ersttäterfälle beschrieben. Über die schlimmsten Dinge haben wir gar nicht geschrieben: Wie ein zweijähriges Mädchen über zwei Tage lang bestialisch und systematisch zu Tode gequält wird vom neuen Lebensgefährten der Mutter, und die Mutter holt ihm währenddessen immer wieder Bier bei der Tankstelle, und sie das danach der Polizei schildert, ganz kalt und gefühllos.
Keine Ersttäterfälle?
Michael Tsokos: Nee: Wo es bekannt ist. Wo es Clearingverfahren gab, und überlegt wurde, nimmt man das Kind jetzt aus der Familie oder nicht und die Entscheidung zugunsten der Eltern ausfiel. Und wo Kinder in der Pflegefamilie waren, die Eltern ihre Haftstrafe wegen Kindesmisshandlung verbüßt haben und wieder rauskamen, und ihre Kinder wiedergekriegt haben. Alles solche Fälle. Keine Ersttäterfälle. Sondern Fälle, in denen der Staat seiner Wächterpflicht, seiner Schutzpflicht nicht nachgekommen ist.
Wenn Nachbarn so etwas mitbekommen - was können sie in so einem Fall machen?
Michael Tsokos: Man kann anonym Anzeige erstatten - viele Menschen wollen ja nichts mit der Polizei zu tun haben. Es gibt Hotlines vom Kinderschutzbund für solche Fälle. Oder man kann selber klingeln und fragen, was los ist und sagen, ich ruf das Jugendamt an, wenn ich weiterhin diese Schreie höre. Die Kultur des Hinsehens, die die Familienministerin gefordert hat: Das ist nur eine politische Floskel. Man muss nicht hinsehen, sondern auch handeln.
Mir ist ein Fall bekannt, da hat der Vater seine 14-jährige Tochter durchgeprügelt, eine Nachbarin rief die Polizei, der Vater wurde zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Jugendamt bot Inobhutnahme an, das Mädchen wollte aber im Elternhaus bleiben.
Michael Tsokos: Da muss man das Familiengericht entscheiden lassen. Aber es ist so: Kinder lieben ihre Eltern! Dass ist doch klar! Sie haben Angst vor Fremden, und sie wissen ja auch nicht, ob es danach, woanders, nicht noch schlimmer wird. Das wundert mich nicht. Die Familie ist die kleinste Schutzzone, die ein Kind hat.
Ich glaube, dass es ziemlich schwierig ist, da ranzukommen und etwas herauszufinden, wenn die Familie nach außen dicht hält. Aber Sie als Rechtsmediziner haben dann natürlich andere Möglichkeiten, je nach Art der Verletzungen, oder?
Michael Tsokos: Natürlich, weil wir ja auch die ganze Vorgeschichte kennen.
Wie denn? Was passiert, wenn ein Kind mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht wird? Wann kommen Sie ins Spiel?
Michael Tsokos: Die Polizei wird in der Regel zunächst gar nicht eingeschaltet, erst, wenn es den Verdacht auf ein Verbrechen gibt. Rechtsmediziner können die Art einer Verletzung beurteilen. Wir sehen die Ermittlungsakte, sprechen mit den Eltern, die wir, wenn die Kinder das überlebt haben, mit den Gewaltvorwürfen konfrontieren, wir sprechen mit Polizeibeamten, mit dem Jugendamt ...
Und dann? Wenn das Jugendamt sich um die Familie kümmert? Und es zu einer Verurteilung kommt? Die Kinder sind dann trotzdem nicht durchs System geschützt?
Michael Tsokos: Nicht unbedingt. Stellen Sie sich vor: Eltern misshandeln ihr Kind und es wird getötet. Sie kommen ins Gefängnis und büßen ihre Freiheitsstrafe ab. Dann bekommen sie das nächste Kind. Auch dieses Kind wird misshandelt. Und dies darf dann in der Familie bleiben, obwohl bekannt ist, was mit dem Kind davor passiert ist.
Und solche Fälle kennen Sie?
Michael Tsokos: Ja.
Sie fordern in Ihrem Buch, dass Kinder besser geschützt werden. Wenn ein Fall im Nachbarhaus bekannt wird, man ruft bei Polizei und Jugendamt an. Aber nichts passiert. Wie soll der bessere Schutz konkret aussehen?
Michael Tsokos: Das ist dieselbe Reaktion, die wir aus Hunderten Briefen und Emails bekommen: Die Leute rufen an und nichts passiert. In Hamburg gab es gerade so einen Fall: Da starb ein Kind. Beim Amt hat man dann im Nachhinein versucht, die Akten zu fälschen. Darum sollte es erstens eine unabhängige Instanz geben, die die Kontrolleure kontrolliert.
Zweitens sollten die Beteiligten geschult werden -da reicht eine kurze Fortbildung - dass sie misshandlungsbedingte von Unfallverletzungen unterscheiden können.
Vor allem aber ist das System aus Ämtern und freien Trägern zwar gut, so kommt nicht gleich die Polizei ins Haus. Aber man sollte unbedingt die finanziellen Abhängigkeiten ändern, dass nicht ein freier Träger nur so lange Geld bekommt, wie das Kind in der Familie ist. Die haben ein vitales Interesse daran, dass das Kind, überspitzt sage ich, in den Händen seines Peinigers bleibt. Hier wird wirklich mit dem Leid von Kindern Kasse gemacht.
Sie haben das Buch ja aufgrund der Erfahrungen Ihrer Arbeit als Gerichtsmediziner geschrieben. Seit wann üben Sie diesen Beruf aus?
Michael Tsokos: Seit 1996, also seit knapp 20 Jahren. Und Saskia Guddat seit 2006.
Wie viele misshandelte Kinder sehen Sie durchschnittlich im Jahr?
Michael Tsokos: Es sind ungefähr 150 Überlebende, und drei bis fünf, manchmal auch acht, getötete Kinder. Fast immer waren es die Eltern oder ein neuer Lebenspartner, Stiefvater oder Lebensgefährte.
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