Missionar im Gegenwind

Benedikt XVI. hat die Reihe seiner kalkulierten Fauxpas in Brasilien fortgesetzt. Doch der Widerspruch gegen die päpstliche Sicht der Dinge wird immer lauter, energischer und fundierter

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Kommunismus ist schon aufgrund seiner atheistischen Überzeugungen so etwas wie der natürliche Feind der katholischen Kirche. Doch auch sein kapitalistisches Gegenstück, lässt sich, obzwar historisch und ökonomisch derzeit offenkundig erfolgreicher, nur im Notfall auf christliche Werte verpflichten, und so steht der seit nunmehr zwei Jahren amtierende Papst Benedikt XVI. vor einem fundamentalen Problem. Wenn sich die Kirche, und sei es nur partiell, auf ein Bündnis mit Parteien oder einzelnen Politikern einlässt, steht ihre Unabhängigkeit auf dem Spiel. Verschließt sie sich dagegen vor den drängenden sozialen und gesellschaftlichen Fragen, verliert sie weiter an Bedeutung, Akzeptanz und Einflussmöglichkeiten.

Benedikt XVI. ist sich dieser unangenehmen Lage nicht nur bewusst, er hat sie auf der Generalkonferenz des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik auch offen thematisiert. Am 13. Mai ging es dem Papst bei seiner Eröffnungsrede im Heiligtum von Aparecida unter vielem anderen um die Definition politischer Standpunkte und Handlungsspielräume.

Wenn die Kirche sich direkt in ein politisches Subjekt zu verwandeln begänne, würde sie für die Armen und für die Gerechtigkeit nicht mehr tun, sondern weniger, weil sie ihre Unabhängigkeit und ihre moralische Autorität verlieren würde, wenn sie sich mit einem einzigen politischen Weg und mit diskutierbaren Parteipositionen identifiziert. Die Kirche ist Anwältin der Gerechtigkeit und der Armen, eben weil sie sich weder mit den Politikern noch mit Parteiinteressen identifiziert. Nur wenn sie unabhängig ist, kann sie die großen Grundsätze und unabdingbaren Werte lehren, den Gewissen Orientierung geben und eine Lebensoption anbieten, die über den politischen Bereich hinausgeht.

Benedikt XVI.

Die Sehnsucht nach dem Erlöser

Wer über große Grundsätze und unabdingbare Werte verfügt, findet leicht einen Weg durch den Dschungel widerstreitender Ideologien, politischer Machtspiele oder ökonomischer Interessen, neigt allerdings auch dazu, seine Überzeugungen zu verabsolutieren und andere von derselben Lebensoption überzeugen zu wollen. Benedikt ist das Paradebeispiel für diese Form missionarischen Übereifers, der sich nicht nur auf alle religiösen Aspekte, sondern auch auf Fragen der persönlichen Lebensführung, der Familienplanung oder des gesellschaftlichen Zusammenhalts und außerdem auf die Interpretationshoheit über Geschichte, Gegenwart und Zukunft erstreckt.

Folgerichtig nutzte er die Eröffnungsrede, um eine ganze Epoche von Krieg, Gewalt, Folter und Mord umzudeuten, für die neben den europäischen Eroberern vor allem der bekehrungswütige Klerus verantwortlich war. Wer mit Benedikts Augen auf die brutale Unterwerfung und Ausbeutung eines ganzen Kontinents schaut, sieht keine Leichenberge mehr, sondern das Heraufdämmern eines Heilsplanes, dessen tieferer Sinn sich erst kommenden Generationen erschließen sollte.

Welche Bedeutung hatte aber die Annahme des christlichen Glaubens für die Länder Lateinamerikas und der Karibik? Es bedeutete für sie, Christus kennenzulernen und anzunehmen, Christus, den unbekannten Gott, den ihre Vorfahren, ohne es zu wissen, in ihren reichen religiösen Traditionen suchten. Christus war der Erlöser, nach dem sie sich im Stillen sehnten.

Benedikt XVI.

Die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums, ließ der Papst seine lieben Brüder im Bischofsamt, die geliebten Priester, Ordensmänner, Ordensfrauen und Laien, und die „lieben Beobachter anderer religiöser Bekenntnisse“ wissen, habe „zu keiner Zeit“ eine Entfremdung der präkolumbischen Kulturen mit sich gebracht und sei auch nicht „die Auferlegung einer fremden Kultur“ gewesen. Die Weisheit - und nicht etwa die Schwerter der Eroberer - habe die Urvölker „glücklicherweise“ dazu bewegt, die Angebote ihrer Missionare anzunehmen und sich im Lichte des Gottessohns zu reinigen. Dabei ist es erst sieben Jahre her, dass Benedikts Amtsvorgängers Johannes Paul II. Gott um Vergebung bat, weil Christen das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben, die Rechte von Stämmen und Völkern verletzt sowie deren Kulturen und religiöse Traditionen verachtet hätten.

Von Regensburg nach Aparecida

Als Benedikt XVI. bei seinem Besuch der Universität Regensburg im Herbst vergangenen Jahres den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaeologos zitierte und die Weltöffentlichkeit mit der „Erkenntnis“ verblüffte, dass sie dem Propheten Mohammed „nur Schlechtes und Inhumanes“ zu verdanken habe, glaubten viele Beobachter an einen schwerwiegenden, aber einmaligen Fehltritt und übersahen dabei, dass ein Mann von der zweifelsohne hohen Intelligenz eines Joseph Ratzinger nichts dem Zufall überlassen würde.

Die gezielte Provokation, die vom nachfolgenden Bedauern über etwaige Missverständnisse und einem freundlich durchlächelten Türkei-Besuch kaum ernsthaft kaschiert wurde, entsprach exakt den erzkonservativen Überzeugungen, die schon den Leiter der Glaubenskongregation veranlasst hatten, auf strikte Einhaltung der offiziellen Doktrin zu dringen und prominenten Abweichlern wie Uta Ranke-Heinemann, Eugen Drewermann, Hans Küng und Leonardo Boff erst das Wort und gegebenenfalls noch die Lehrerlaubnis zu entziehen.

Auch aktuelle Äußerungen des neuen Papstes zu den Streitthemen Abtreibung, Empfängnisverhütung, Zölibat oder Ökumene machen immer wieder und unmissverständlich deutlich, dass auf dem Stuhl Petri kein Popstar Platz genommen hat, der handzahm durch die Massenmedien geistert und es mit spirituellen Sonderangeboten hin und wieder auf Seite 1 schafft.

Letzteres hat zweifelsohne auch seine Vorteile, doch mit dem neuesten Versuch, der katholischen Kirche ein bevorzugtes Stimmrecht im schwirrenden Diskurs des 21. Jahrhunderts zu sichern, hat Benedikt XVI. einen Großteil des Kredits, den er sich durch den immerhin bemerkenswerten Versuch, Religion und Vernunft in einem innovativen Brückenschlag zu versöhnen, überraschend sichern konnte, wieder verspielt.

Der emeritierte Lateinamerika-Experte Hans-Jürgen Prien bezeichnete die päpstlichen Äußerungen als „unglaubliche Geschichtsklitterung und „das Oberflächlich-Schönfärberischste, was ich aus päpstlichem Mund zur Mission Lateinamerikas seit 30 Jahren gelesen habe.“ Selbst Venezuelas mediengewandter Präsident Hugo Chávez nutzte die vatikanische Steilvorlage, um sich arglos als fürsorglicher Staatslenker in Szene zu setzen und den „Heiligen Vater“ um baldige Korrektur zu bitten.

Wie kommt der Papst dazu zu sagen, dass die Evangelisierung nicht aufgezwungen war? Warum mussten dann unsere Ureinwohner in den Urwald und in die Berge fliehen? Als Staatschef, aber mit der Bescheidenheit eines venezolanischen Bauern bitte ich Eure Heiligkeit, sich bei den Völkern unseres Amerika zu entschuldigen.

Hugo Chávez

Auch die brasilianischen Ureinwohner protestierten umgehend gegen das päpstliche Geschichtsbild, das mit der historischen Realität tatsächlich nicht das Geringste zu tun hat. Jecinaldo Satere Mawe von der Organisation „Coiab“ bezeichnete es als „arrogant und respektlos“, das kulturelle Erbe der Indianer als „zweitrangig“ zu bewerten, und Sandro Tuxa, seines Zeichens Koordinator der nordöstlichen Stämme, empfand es als „beleidigend und - offen gesagt – beängstigend“, den Ethnozid an der indigenen Bevölkerung zur sakralen Reinigung zu erklären.

Ein „Missionar der Ignoranz“ und die „Theologie ohne Geist“

So sah es auch Leonardo Boff, der prominenteste Vertreter der Befreiungstheologie, der sich nach der Abreise des Papstes zum wiederholten Mal theologisch und politisch mit seinem einstigen Doktorvater auseinander setzte. Dieser hatte Boffs „kirchenfeindliche Ideologie“ bereits in den 80er Jahren scharf verurteilt und dafür gesorgt, dass dem renommierten Theologen und späteren Träger des Alternativen Nobelpreises gleich zwei Mal die Lehrerlaubnis entzogen wurde, so dass er sein Priesteramt schließlich freiwillig aufgab.

In seiner Stellungnahme Ein Missionar der Ignoranz - Die Brasilienreise des Papstes aus befreiungstheologischer Sicht bezeichnete Boff die Ausführungen des Papstes als „historisch unhaltbar“. Kolonisation und Evangelisierung seien Bestandteile ein und desselben Projektes gewesen, das zu einem der größten Genozide in der Geschichte geführt habe.

Vergessen wir nicht die Aussage im heiligen Text der Mayas, dem Chilam Balama: „Unter uns wurde die Trauer eingeführt, und das Christentum war der Beginn von unserer Trauer und unserer Versklavung - sie sind gekommen, um unsere Blüte zu töten und unsere Sonne zu kastrieren.

Leonard Boff

Benedikts apolitisches Credo, das in der Ablehnung der Befreiungstheologie einen besonders signifikanten Ausdruck findet, ist nach Boffs Einschätzung aber auch die unmissverständliche Entscheidung für ein bedenkliches, langfristig möglicherweise verhängnisvolles Kirchenverständnis.

Bekanntlich gibt es in Brasilien zwei Typen von Katholizismus, den andächtig frommen und den ethisch engagierten. Der erste Typus verehrt die Heiligen, das Gebet und die Wallfahrt - was sich heutzutage auch in einer medialen Dramatisierung mit starken emotionalen Inhalten ausdrücken kann.
Das ethisch engagierte Modell inspiriert sich an der katholischen Aktion, an sozialem Pastoral und gipfelt in der Theologie der Befreiung. Diese Form des Katholizismus vermittelt soziale Erkenntnisse, weil er ein spirituell motiviertes Interesse daran hat, sich an gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen.

Leonard Boff

Durch die alleinige Konzentration auf die Zentralfigur Jesus Christus, so Boff, forciert Benedikt XVI. eine “Theologie ohne Geist“, die unfähig ist, geschichtliche Vorgänge und soziale Prozesse angemessen zu deuten und den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft auf der Basis christlicher Überzeugungen zu begegnen.

Die Gleichgültigkeit der Vernunft

Vor diesem Hintergrund sieht Boff auch Benedikts Versuche, die Erkenntnisse von Naturwissenschaft und Rationalität in ein modernes Religionsverständnis zu integrieren, kritischer als die meisten seiner europäischen Zeitgenossen. Das Hohelied der Vernunft, das der Papst auch in Brasilien anstimmte, als er Jesus zum „fleischgewordenen Logos“ erklärte, gelte einer gleichgültigen und teilnahmslosen Rationalität.

Die gleichgültige Vernunft, die so typisch ist für Großinstitutionen wie die Kirche, ist kurzsichtig, weil sie keine neuen Wege sucht und immer wieder auf die alten Trampelpfade zurückkehrt (mehr Katechismus, mehr Zölibat, mehr Gehorsam), und sie ist anti-utopisch, weil sie keinen Hoffnungshorizont mehr hat und so tut, als wäre die Zukunft bloß die Verlängerung der Gegenwart.

Leonardo Boff

Doch auch wenn sich die Vernunft gleichgültig und apolitisch gibt, bleibt sie nicht ohne soziale und gesellschaftliche Auswirkungen. Benedikt XVI. hat trotz anders lautender Äußerungen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nichts unversucht gelassen, um öffentliche Debatten, parlamentarische Abstimmungen und Gesetzesentscheidungen zu beeinflussen, wenn es um Themen ging, auf welche die katholische Kirche Einfluss nehmen sollte. Das war in Brasilien, wo gerade die demonstrative Ablehnung der Politik als politisches Bekenntnis gewertet werden musste, nicht anders.

Doch die Neuauflage der „Conquista espiritual“ hat nur dem Missionar geschadet und deutlich gemacht, warum die katholische Kirche auch in Lateinamerika immer mehr Mitglieder und öffentliche Akzeptanz verliert. Der Vatikan ist keineswegs gezwungen, sich die Ansichten der Befreiungskirche kommentar- und vorbehaltlos zu eigen zu machen. Er muss sich auch nicht mit Politikern und Parteien verbünden, um den zentralen Themen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Aber er kann sie ebenso wenig unter spirituellen Ablenkungsmanövern, christlicher Folklore und einem weltumspannenden Devotionalienhandel begraben, ohne Glaubwürdigkeit und Gewicht einzubüßen.

Dass dieser Papst mitunter die richtigen Fragen stellt, ist kaum zu bestreiten.

Sowohl der Kapitalismus als auch der Marxismus haben versprochen, den Weg zur Schaffung gerechter Strukturen zu finden, und behaupteten, diese würden, sobald sie festgelegt seien, von allein funktionieren; sie behaupteten, sie würden nicht nur keiner vorausgehenden Sittlichkeit des Individuums bedürfen, sondern würden die allgemeine Sittlichkeit fördern. Und dieses ideologische Versprechen hat sich als falsch erwiesen. Die Fakten haben das offenkundig gemacht. Das marxistische System hat dort, wo es zur Herrschaft gelangt war, nicht nur ein trauriges Erbe ökonomischer und ökologischer Zerstörungen, sondern auch eine schmerzliche geistige Zerstörung hinterlassen. Und dasselbe sehen wir auch im Westen, wo der Abstand zwischen Armen und Reichen beständig wächst und wo durch Drogen, Alkohol und trügerische Vorspiegelungen von Glück eine beunruhigende Zersetzung der persönlichen Würde vor sich geht.

Benedikt XVI.

Ob Benedikt XVI. aber auch in der Lage ist, den Menschen Antworten, Visionen und Perspektiven zu geben oder mit ihnen ergebnisoffen die möglichen Alternativen zu erörtern, muss mehr denn je bezweifelt werden.