Misstrauen und fehlende Wertschätzung

Seite 2: Emotionen spielen beim Thema "Roma" immer eine große Rolle

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In Ihrem Buch tauchen immer wieder emotionale Szenen wie diese auf: "Ich sehe auf Mirelas Pullover. Ihre Mutter hat ihn aus der Kleiderkammer bekommen. Er ist hellgrün und quer über der Brust steht zu lesen: 'I love Roma'. Als ich Mirela sage, wie sehr mir ihr Pullover gefällt, zeigt mir ihr nochmals ihr kleines Lächeln, das bis in ihre nebeligen Pupillen hineinreicht." Wird durch diesen Stil nicht Mitleid erzeugt, das eine sachliche Auseinandersetzung mit der Problematik erschwert?

Eva Ruth Wemme: Ich weiß, dass Mitleid und Wahrheit manchmal gegeneinander ausgespielt werden. Ich möchte aber nicht von diesem Fall ausgehen und meine Leser überdies für kompetent genug halten, beides in Einklang zu bringen. Emotionen spielen beim Thema "Roma" sowieso immer eine große Rolle. Selten, dass es dazu eine emotionslose Diskussion gibt. Aber meistens sind diese Gefühle eben negativ. Ich habe es einfach riskiert, positive Emotionen evozieren zu wollen. Der Leser muss dann sehen, was er damit tun will.

Über die Emotionen können vielleicht einmal andere "Sachverhalte" begriffen werden. Was heißt das eigentlich, Migration? Und was heißt es eigentlich, ein Wirtschaftsflüchtling zu sein? Was bedeutet es, geächtet zu sein? Mitleid ist im Übrigen in vielen Konfliktsituationen tatsächlich ein Schlüssel zu sachlicher Auseinandersetzung. Viele Situationen werden zuerst falsch - und oft sehr emotional - eingeschätzt, und erst im Verständnis der Lage meiner Klienten - im Mitleid - kann eine Situation erkannt werden: Lehrer begreifen, warum ihre Schüler sich so oder so verhalten. Beamte verstehen, warum ihre Kunden dieses oder jenes tun. Widerstände verschwinden. Es kann endlich sachlich miteinander gesprochen werden. Eine Diskussion über soziale Sachverhalte dieser Art scheint mir verfälscht, wenn der Aspekt des Mitleids ausgeklammert wird.

Sie werden manchmal mitten in der Nacht angerufen. In Ihrem Buch schildern Sie vor allem Notsituationen. Besuchen Sie ab und zu auch die Gottesdienste der Pfingstler-Gemeinde oder Familienfeste? Wie haben Sie während Ihrer Arbeit den Kontakt der deutschen Nachbarn zu den Roma wahrgenommen? Der Titel Ihres Buches impliziert, dass die 7000 Roma in Berlin nicht unbedingt als Nachbarn angesehen werden.

Eva Ruth Wemme: Ich habe Gottesdienste und Feste besucht und habe diese Situationen nicht in meinem Buch beschreiben wollen, weil sie mir zu speziell, "ethnografisch" und privat vorkamen. Ich wollte etwas anderes beschreiben und nicht aus dem "Nähkästchen" einer Feldforscherin plaudern.

Es liegt ja auf der Hand und klingt auch in den Geschichten an, dass auch arme Menschen ab und zu fröhlich sind und sich miteinander wohlfühlen. Die "deutschen Nachbarn" (in Berlin sind das natürlich nicht nur "Bio-Deutsche") habe ich wie auch meine Klienten sehr unterschiedlich erlebt. Gleichgültige, zornige, rassistische, solidarische Menschen. Normale, schöne und schlimme Begegnungen. Sehr oft aber sind Misstrauen und fehlende Wertschätzung der Tenor.

Stoßen Sie während des Dolmetschens auch an Ihre Grenzen? Ich meine nicht sprachlich, sondern menschlich. Wie verhalten Sie sich, wenn Sie etwas übersetzen sollen, das Ihren eigenen Ansichten stark widerspricht?

Eva Ruth Wemme: Ab und zu gibt es Situationen, die mich lange nicht loslassen. Wenn es um Gewalt geht, um aussichtslosen Kampf um Leben und Tod, um Rassismus - Extremsituationen. Zu Ihrer zweiten Frage: Ich arbeite ja nicht als vereidigte Dolmetscherin und kann jederzeit einen kleinen Satz hinzufügen: "Ich denke darüber anders" zum Beispiel. Mehr tue ich nicht. Nur die gepachtete Wahrheit ins Schwanken bringen. Das reicht meistens, um einen übergriffigen Sprecher zu entmachten.

Wie stark ist denn das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Roma, mit denen Sie zu tun hatten/ haben? Treffen Sie auch auf Menschen, für die Sie dolmetschen, die einen Bruch mit der Gruppe vollziehen und zum Beispiel den Weg in die Subkultur suchen?

Eva Ruth Wemme: Menschen, die sich kennen, die sich über verschiedene Dinge miteinander verbunden fühlen - die Religion, der Herkunftsort, die Situation, das Wohnhaus, Verwandte... fühlen sich zusammengehörig. Wenn Sie mit "Gruppe" die Pfingstler meinen - ich kenne da niemanden, der dezidiert "ausgestiegen" wäre. Dazu sind sie noch nicht lange genug hier, die Kinder sind noch nicht alt genug, die Frauen noch nicht emanzipiert genug. Natürlich gibt es Einzelne, die sich den Regeln nicht ganz so strikt unterwerfen, in eine andere Gegend ziehen, subkulturell würde ich das aber nicht nennen.

Sie halten Lesungen aus Ihrem Buch. Mich würde interessieren, wie die Reaktionen auf die Geschichten aus Ihrem Buch sind.

Eva Ruth Wemme: Ich habe ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. Das heißt aber vielleicht einfach: Die negativen sind mir bisher erspart geblieben. Als angenehm empfanden die Zuhörer meistens die empathische Haltung, das Fehlen dauernder Bewertung und der wehleidigen Zuschreibung der Opferrolle.

Informationen, die man sonst nicht bekommt, sagen andere oder freuen sich an bestimmten Gedankengängen oder dem Wortlaut. Ein Zuhörer - das vielleicht als Negativreaktion - sagte, er fände es besser, wenn Roma selbst etwas schrieben - Projekte, in denen sie direkt zu Wort kämen. Das stimmt einerseits, denke ich, andererseits aber auch nicht.

Planen Sie weitere Dokumentationen über Ihre Arbeit mit den Roma in Berlin?

Eva Ruth Wemme: Nein. Erstmal geht es jetzt um etwas anderes. Den Blog schreibe ich allerdings weiter.

Vielen Dank für das Gespräch.

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