Mit Pazifismus gegen alle Vereinfacher
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Ein Film für unsere Zeit: "Im Westen nichts Neues" könnte heute Nacht neun Oscars gewinnen.
Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.
Erich Maria Remarque, 1963
Es sind wieder einmal Tod und Blut, Schrecken und Verderben, mit dem ein deutscher Filmerfolg verbunden ist. Auch die bislang einzigen deutschen Oscar-Sieger, Volker Schlöndorffs Günter-Grass-Verfilmung "Die Blechtrommel", Caroline Links "Nirgendwo in Afrika" und Florian Henkel von Donnersmarcks "Das Leben der Anderen" boten vor allem politische Lektionen; sie zeigten und handelten von Gewalt, Diktatur, Folter, Schrecken und Trauma.
Das Gegenteil von Wohlfühlkino.
Insofern passt auch dieser Film ins Bild, das internationale Bild von typisch deutschen Filmstoffen. Und es könnte sein, dass wir an diesem Sonntagabend den größten Triumph erleben, den das deutsche Kino je feiern durfte.
Wie in den Zwanzigerjahren
Denn das gab es noch nie: Gleich neunmal ist ein deutscher Film für den Oscar nominiert: "Im Westen nichts Neues", die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Erich Maria Remarque durch den deutschen Regisseur Edward Berger ist schon jetzt ein Welterfolg.
Und das in einem Ausmaß, das an die größte Zeit des deutschen Kinos erinnert, an die Stummfilmära der Zwanzigerjahre, als die Filmstudios in Babelsberg auf Augenhöhe mit Hollywood mithalten konnten, als zum Beispiel der deutsche Schauspieler Emil Jannings 1929 den allerersten Oscar gewann, der je in der Kategorie als "Bester Schauspieler" vergeben wurde.
Und als deutsche Regisseure wie Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau und Josef von Sternberg von den Amerikanern umworben wurden und schon lange vor der Machtergreifung dem Ruf des Geldes und der unbegrenzten Möglichkeiten folgten und nach Hollywood emigrierten – klassische Wirtschaftsflüchtlinge!
Schon jetzt ist dies ein Triumph, wie man ihn nur einmal alle paar Jahrzehnte erlebt. Sogar den Oscar als "Bester Film" könnte "Im Westen nichts Neues" am Sonntag gewinnen.
Wie aber sind nun wirklich die Chancen für den deutschen Film? Was sind die Aussichten für die Preisverleihung und wovon hängt es ab, wie viele Oscars Edward Berger gewinnen wird? Und natürlich: Wie gut ist der Film eigentlich?
Schonungsloser Hyper-Realismus des Romans
"Im Westen nichts Neues" ist insofern schon mal eine Besonderheit, als dass dieser Film kein wirklicher Kinofilm ist, auch wenn er in Deutschland zuerst in ausgewählten Kinos lief – den Regeln der Filmförderung sei Dank. Tatsächlich handelt es sich aber um ein Streaming-Produkt, um einen exklusiv für Netflix produzierten Film, der auch in seiner Bildsprache der Ästhetik des kleineren Bildschirms im Pantoffelkino zu Hause folgt.
Das macht vielleicht Filmbilder gerade noch erträglich, die man sich sonst nicht antun würde.
Kein Film allerdings kann mit der Eindringlichkeit von Erich Maria Remarques Text mithalten:
Wir sehen Menschen leben, denen der Schädel fehlt; wir sehen Soldaten laufen, denen beide Füße weggefetzt sind; sie stolpern auf den splitternden Stümpfen bis zum nächsten Loch; ein Gefreiter kriecht zwei Kilometer weit auf den Händen und schleppt die zerschmetterten Knie hinter sich her; ein anderer geht zur Verbandsstelle, und über seine festhaltenden Hände quellen die Därme; wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne Gesicht; wir finden jemand, der mit seinen Zähnen zwei Stunden die Schlagader seines Armes klemmt, um nicht zu verbluten. (…)
Erich Maria Remarque
Mit derart schonungslosem, expressionistisch untermaltem Hyper-Realismus schildert Remarque das bis heute unvorstellbare Grauen des Stellungskriegs.
Remarque veröffentlichte den Roman nach Vorabdrucken in Zeitungen im Jahr 1929. Er wurde in 50 Sprachen übersetzt, erzielte eine Auflage von über 20 Millionen und gilt als das erfolgreichste deutsche Buch aller Zeiten.
Vom süßen Sterben fürs Vaterland bleibt nichts übrig
Selten hat ein Film die ganze Welt so aufgerüttelt. Er berichtet über eine Generation, die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie den Granaten entkam.
Aus dem Kino-Trailer für Lewis Milestones Verfilmung
Kurioserweise stammt die bisher maßgebliche Verfilmung aus Hollywood und zwar zu genau der erwähnten Zeit, der späten Zwanzigerjahre. Lewis Milestones Remarque-Verfilmung war einer der ersten Tonfilme, und ähnlich wie der Roman provozierte er die nach der Weltkriegsniederlage gespaltene junge deutsche Republik.
Denn von Ruhm und Ehre, vom süßen Sterben fürs Vaterland oder der Dolchstoßverschwörungslegende vom "Im Felde unbesiegt" bleibt hier nichts übrig.
Milestone zeigt, wie Remarque manipulative Lehrer, sinnlose Schikane, die kleinen Leute, denen die Uniform Macht gibt. An der Position des Films gibt es nie Zweifel: Während der Rede des Lehrers zu Beginn werden die Gesichter der Schüler gezeigt. Sie wissen mehr als die Menschen unter ihnen und kommentieren gewissermaßen, was er sagt (hier die Filmszene). Und wie die Uniformen den Leuten Macht gibt.
Lewis Milestones Werk ist Hollywood-Geschichte als einer der ersten Tonfilme. Er gewann den Oscar als bester Film. Aber schon in den USA wurde er zensiert: Die härtesten Bilder einer Grabenkampfszene wurden 1930 herausgeschnitten und erst Jahrzehnte später wieder hinzugefügt.
Die Deutschen durften 1930 auch die Liebesszene mit ihrer Verbrüderung mit dem Feind nicht zu sehen bekommen.
Nach der Premiere agitierten die Nazis gegen den Film, störten systematisch die Filmvorstellungen. Kurz darauf wurde der Film in Deutschland verboten. "Eine ungehemmte pazifistische Tendenz" wird dem Film gerichtlich bescheinigt, ebenso die zerstörerischen Folgen dieser subversiven Haltung: Wenn eine derartige Darstellung auf die Menschen treffe, "könnte bei der heutigen seelischen Not nicht ausbleiben, dass Explosionen entstehen". Nicht fehlen durfte auch die Feststellung, der Film setze das Ansehen der Wehrmacht herab.
Das Berliner Tageblatt bemerkte eine Schädigung des deutschen Ansehens durch dieses Filmverbot und notierte die Differenz zwischen "drinnen und draußen", Deutschland und der Welt. Später wurde der Film nochmal gekürzt wieder freigegeben, bevor ihn die Nazis endgültig verboten.
1950 wurde der Film dann ein zweites Mal veröffentlicht, aber wieder zensiert. Auch bei der zweiten Uraufführung der neu vertonten Fassung fehlten wichtige Filmbilder und Passagen: ein deutscher Soldat ersticht keinen Franzosen mehr, hatten die französischen Alliierten zu verstehen gegeben. In Frankreich war der Film nämlich bis 1963 verboten.
Damit fehlt dem Film gerade die zentrale Szene, die deutlich macht, dass auch der im Krieg getötete Feind kann niemand ist, sondern ein Mensch "wie Du und Ich".